Soziologie Solidarität und Tugend
Die permanente Steigerung von Reichweiten verunmöglicht, mit der Welt in Beziehung zu treten, so Hartmut Rosa. Die „Zukunft einer großen Idee“analysiert Heinz Bude. Reimer Gronemeyer widmet sich der Tugend, während die Philosophin Corine Pelluchon über die „Ethik der Wertschätzung“schreibt. Hans Holzinger und Katharina Kiening haben die Bücher gelesen.
Die permanente Steigerung von Reichweiten verunmöglicht, mit der Welt in Beziehung zu treten, so Hartmut Rosa. Er plädiert für Unverfügbarkeit. Mit „Solidarität“analysiert Heinz Bude die „Zukunft einer großen Idee“, die zu verschwinden droht. Reimer Gronemeyer widmet sich der Frage, was Tugenden heute ausmacht, während Corine Pelluchon eine „Ethik der Wertschätzung“schreibt. Hans Holzinger und Katharina Kiening rezensieren. Unverfügbarkeit
„Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.“(S. 8) Damit beginnt Hartmut Rosa seine Essays über „Unverfügbarkeit“, entstanden im Rahmen einer Vorlesung an der Akademie Graz mit dem Literaturhaus Graz. Eine „Soziologie der Weltbeziehung“(S. 11) zu entwickeln, ist das Ziel von Rosa (vgl. dazu auch den Suhrkamp-band „Resonanz“). An zahlreichen Alltagsphänomenen wie der Optimierung unserer Körper, der Anhäufung von Terminen, die zur „Abarbeitung von explodierenden To-do-listen“(S. 13) führt, oder dem Wunsch nach Einverleibung der Welt („das muss man mal gesehen haben“, ebd.) zeigt Rosa diesen Zwang zum Immer-mehr. Er ist dabei um pointierte Formulierungen nicht verlegen: „Berge sind zu besteigen, Prüfungen zu bestehen, Karrierestufen zu nehmen, Liebhaber zu erobern, Orte zu besuchen und zu fotografieren.“(ebd.) Zwei Thesen stellt der Autor diesem Einverleibungszwang voran. Das Steigerungsspiel der Moderne sei nicht vom Verlangen nach Höher, Schneller, Weiter, sondern von der Angst vor dem Immer-weniger getrieben: „Wann und wo immer wir anhalten oder innehalten, verlieren wir an Grund gegenüber einer hochdynamischen Umwelt, mit der wir überall in Konkurrenz stehen.“(S. 15f.). Damit rekurriert Rosa auf den modernen Kapitalismus, dem das Konkurrenzprinzip gleichsam in die Gene geschrieben ist. Eine Gesellschaft sei modern, „wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, das heißt, wenn sie zur Aufrechterhaltung ihres institutionellen Status quo des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung bedarf“(S. 15). Was der Ökonom Joseph Schumpeter mit „kreativer Zerstörung“als Stärke des Kapitalismus beschrieb, weil daraus immer Neues entstehe, wird bei Rosa zum Zwang, der es uns verunmögliche, in tatsächliche Beziehung
zur Welt zu treten. Dies führt zur zweiten These: der Verheißung der permanenten „Weltweitenvergrößerung“(S. 16), die mit der Attraktivität des Geldes zusammenhänge: „Wie viel wir in Reichweite haben, lässt sich unmittelbar an unserem Kontostand ablesen.“(S. 17)
Steigerungsversprechen vs. Resonanz
Steigerungsversprechen bestimmen – so Rosa – auch das Feld der Politik. Wer eine Wahl gewinnen möchte, muss „mehr Jobs, höhere Renten, bessere und billigere Wohnungen, schnellere Verkehrsverbindungen, schönere Schulen“(S. 23) in Aussicht stellen. Und diese Politik sei immer imperialistisch: „Macht manifestiert sich stets in der Ausdehnung der eigenen Weltreichweite, oft auf Kosten anderer.“(S. 24) Die Kehrseite dieses Expansionismus sieht Rosa mit frühen Soziologen und Philosophen wie Marx oder Durkheim im „rätselhaften Zurückweichen der Welt“(S. 25), also der Entfremdung des Menschen sowie der Errichtung von Mauern, also der Abschottung. Die Depression sei nun jener Zustand, „in dem uns alle Resonanzachsen stumm und taub geworden sind, (...) dass uns nichts berührt und wir zugleich das Gefühl haben, niemanden mehr erreichen zu können.“(S. 41) Resonanz beschreibt Rosa in vier Aspekten: dem Moment der Berührung (Affizierung), der Selbstwirksamkeit (Antwort), der Anverwandlung (Transformation) sowie eben der Unverfügbarkeit (S. 38ff.). Das führt ihn wiederum zur Kritik an der kapitalistischen Warenwirtschaft, die unser existenzielles Resonanzbedürfnis, das heißt, unser „Beziehungsbegehren in ein Objektbegehren übersetzt“(S. 45). Hier setzt Rosa an der Frankfurter Schule an, ohne diese zu zitieren. Und er kommt am Ende des Bandes nochmals darauf zurück, wenn er der völligen Verfügbarkeit der Warenwelt eine gelingende Weltbeziehung als ein „Antwortverhältnis“(S. 120) entgegensetzt. Das könne der Konsumkapitalismus nicht befriedigen: „Die begehrten Eigenschaften – das selbstwirksame Sich-anrufen-und-verwandeln-lassen – werden den Objekten bzw. den Waren (zu denen auch die Kreuzfahrt, die Ayurveda-kur oder die Wüstensafari gehören) selbst zugeschrieben.“(S. 121) Doch Erlebnisse lassen sich nicht inszenieren, so
„Wir können die teure Sahara-safari oder die Kreuzfahrt kaufen, nicht aber Resonanz mit der Natur. Die Funktionsweise der Werbung und der kapitalistischen Warenwirtschaft überhaupt beruht darauf, dass sie unser existenzielles Resonanzbedürfnis, und das heißt: unser Beziehungsbegehren, in ein Objektbegehren übersetzt.“(Hartmut Rosa in , S. 45) 118
in 119 119
„Niemand muss solidarisch sein, man muss nur eine Ahnung davon haben, was man verliert, wenn man vergisst, was wir uns schulden.” (Heinz Bude in , S. 33)
„Dem Norden wie dem Süden bleibt die Einsicht, dass die eine Welt die einzige Welt ist, die wir haben.” (Heinz Bude , S. 162)
Rosa. Der „magische Zaubertrick des Kapitalismus“(ebd.) bestehe nun darin, aus diesen permanenten Enttäuschungserlebnissen das Begehren immer anderer Objekte zu generieren – „ohne in diesen jemals zu finden, was wir suchen“(ebd.). Die Folge dieses Steigerungs- und Expansionszwangs sei die Zerstörung der Welt, oder – in den Worten Rosas – „die Rückkehr des Unverfügbaren als Monster“(S. 124).
Rosa greift Topoi wie die „Versäumnisangst des modernen Menschen“(Marianne Gronemeyer), des „Steigerungsspiels“(Gerhard Schulze) oder der frühen Konsumkritik (Erich Fromm) auf, ohne sich explizit auf diese zu beziehen. Er setzt den modernen Steigerungs- und Verfügbarkeitszwang in den Kontext von Resonanz, die dadurch verloren gehe. Wenn andere die ökonomischen Wachstumstreiber des Konsumkapitalismus betonen, etwa die Angst vor Deflation, verweist Rosa auf die psychischen Ingredienzien, die den Steigerungszwang am Laufen halten. Folgerichtig warnt der Autor vor den ökologischen Friktionen dieser Entwicklung. Was er uns freilich vorenthält, sind die zivilisatorischen Errungenschaften dieser Moderne, die es durchaus zu retten gäbe, wie etwa Harald Welzer (prozukunft 2019/3) mit seinem Plädoyer für eine „reduktive Moderne“urgiert. H. H. Entfremdung 118 Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. Wien u. a.: Residenz Verl., 2018. 131 S. € 19,- [D, A]
Solidarität
Nach „Gesellschaft der Angst“und „Das Gefühl der Welt“– Bücher, in denen es um die Macht von Stimmungen geht – widmet sich der langjährige Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Heinz Bude, nun dem Thema „Solidarität“bzw. der „Zukunft einer großen Idee“, wie der Untertitel des Bandes verspricht. In einer Zeit der „enttäuschten Ideologien und der überschätzten Wissenschaft“(S. 11) müsse man mit großen Worten vorsichtig sein, so Bude. Es gäbe weder einen moralischen Zwang zur Solidarität noch einen in der menschlichen Natur angelegten Hang zur Solidarität, „obwohl sich Solidarität für das Zusammenleben als förderlich erweisen kann“und „obwohl der Mensch über einzigartige Fähigkeiten zur Empathie und zur Rollenübernahme verfügt“(ebd.). Anders als Gerechtigkeit, die herzustellen Aufgabe der Politik sei, ist Solidarität für Bude „eine Möglichkeit jedes Einzelnen“(ebd.). Man könne sich ihr verpflichten, „weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht“(ebd.). In zwölf, lose aneinander gereihten Kapiteln – der Autor selbst nennt sie „Meditationen“– widmet sich Bude unterschiedlichen Aspekten von Solidarität. Er spricht von der „Unschuld des Trittbrettfahrers“(S. 13) im modernen Wohlfahrtsstaat, der Klassensolidarität ebenso erschwere wie eine zunehmend fluider werdende Arbeitswelt der „Teams und Projektgruppen,… die die einzelnen Individuen in Gegensatz zueinander bringt“(S. 73). Niemand wolle seine persönlichen Vorteile aus dem bestehenden System riskieren, indem er sich etwa einer auf Solidarität pochenden Linken anschließt. Mehrfach rekurriert Bude auf das Wechselverhältnis zwischen dem Sozialstaat „als institutionalisierter Solidarität“(S. 45) und einer „solidarischen Ökologie des alltäglichen Miteinanders“(S. 44), das nur aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen könne. Die Ambivalenz der modernen Individualisierung bzw. neoliberalen Selbstoptimierung bringt Bude wie folgt auf den Punkt: „Die Selbstbesorgten rücken von der Idee der Solidarität ab, weil sie darin eine Formel der Schwäche und der Abhängigkeit erkennen. Wer Solidarität fordert, kann oder will sich nicht selbst helfen.“In dieselbe Kerbe schlagen Budes Ausführungen zum neuen Trend der „Achtsamkeit“(mit dem etwa Matthias Horx operiert, Anm. des Rezensenten), ein Programm, das gegen das Zuviel an Reizen wappnen soll, aber simultan gleichgültig mache gegenüber dem, was in der Welt passiert. Es sei fraglich, so Bude, ob die Achtsamen für die Solidarität zu gewinnen seien: „Im Zweifelsfall siegt der Seelenfrieden über die Herzensgüte“(S. 123). Der Autor hält es hier mehr mit dem barmherzigen Samariter aus der Bibel – ein Gleichnis für das handelnde Eingreifen, weil man mit Not konfrontiert ist.
Solidarität als Erdgebundenheit
Einer anderen Facette von Achtsamkeit widmet sich Bude in „Rinder, Blätter und die Erde“. Mit der Biologin Donna J. Haraway verweist der Autor auf die Solidarität mit den Tieren, den „anders-alsmenschlichen Wesen“(S. 125), mit dem Philosophen Emanuele Coccia auf das Eingebunden-sein in die Natur und dem „Werk der Pflanzen“(S. 129) als Urform der Solidarität: „Die Solidarität der Lebewesen ist eine des wechselseitigen Parasitentums, das wiederum das Leben selbst erhält.“(ebd.) Dies führt schließlich zur Metapher der „Erdgebundenheit“des Philosophen Bruno Latour. Die Erde sei – so Latour – kein Planet unter anderen, „sondern der vollkommen einzigartige Ort, wo wir Erdverbundene inmitten von Erdverbundenen leben und sterben“(S 132).
Mit der Unterscheidung von „exklusiver“und „in
„Die spirituelle Entwicklung einer Gesellschaft liegt darin: dass Menschen einander lieben und Dinge in Gebrauch nehmen. Oft ist es heute genau umgekehrt: Menschen nehmen einander in Gebrauch und lieben Dinge.“(R. Gronemeyer in , S. 156) 120
klusiver“Solidarität nähert sich Bude am Ende des Buches dem Zusammenhalt „in einer Welt der Ungleichheit“(S. 150). Dem Aufholen mancher Länder, die zu einer merklichen Abnahme der Zahl der Verarmten geführt habe, stehe die zunehmende Ungleichheit zwischen Weltregionen – aktueller Hotspot der Verarmung ist das Afrika südlich der Sahara – bzw. die Zuspitzung innerhalb von Gesellschaften gegenüber. In der heutigen Weltgesellschaft entscheide mehr als die Klasse der Ort, an dem man geboren wird, über die Zukunftsperspektiven von Menschen. In dieser Situation müsse, so Bude, „die ganze Welt der Bezugskosmos von Lebenschancen“sein – und nicht mehr ein „einzelnes Land mit seinem Klassengefüge“(S. 157). Wenn Menschen sich auf den Weg in die Wohlstandszonen machen, dann beweise dies, „dass sie den Anspruch auf ihren Anteil an der Zukunft der Menschheit wahrnehmen wollen“(ebd.).
Bude hat mit „Solidarität“ein sehr feinsinniges und vielschichtiges Buch vorgelegt. Sein Anspruch, dass wir jenseits der Interessensgegensätze innerhalb unserer Gesellschaften ein neues drittes „Wir“finden müssen, ist hoch. Er verweist jedoch auf die zentralen Zukunftsherausforderungen, die in der Ökologie, der weltweiten Ungleichheit und den wohl weiter zunehmenden Migrationsbewegungen liegen. Solidarität beschwört eine Welt, die wir mit anderen Lebewesen teilen. Sie sei mit Blick aufs Ganze oft sinnlos, doch – so schließt Bude mit Camus – ein Akt der Rebellion gegen die Absurdität des Daseins. H. H. Soziale Ungleichheit 119 Bude, Heinz: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München: Hanser, 2019. 176 S., € 19,- [D], 19,60 [A]
Tugend
„Wie gefährdet ist unsere Gemeinschaft?“– diese Frage stellt der Theologe Reimer Gronemeyer in seinem Buch über Tugenden. Die Bilanz fällt zwiespältig aus. Es gäbe durchaus Erfolgsmeldungen, so der Autor: Die Zahl der Armen sinkt, Bildung erreicht immer mehr Menschen („Im Jahr 1800 konnten 120 Millionen Menschen Lesen und Schreiben, heute sind es 6,2 Milliarden.“, S. 88), die globale Gewalt nimmt ab („Die Zahl der Toten, die in Kriegen gefallen sind, lag in den 1950erjahren bei 65.000 pro Jahr, sie lag 2006 bei weniger als 2.000 pro Jahr.“, ebd.) Doch zugleich wird die Welt brüchiger, die Krisen nehmen zu: „vom globalen Klimawandel bis zur weltweit anschwellenden Migration“(S. 13). Wortgewaltig beschreibt Gronemeyer die Friktionen der modernen Welt, zu denen er auch die zunehmende Erosion der Normalarbeitsverhältnisse, Künstliche Intelligenz, Automatisierung und Menschenverbesserung zählt. Sein Blick gilt der Frage, wie die ökonomischen Machtverschiebungen in der Welt bewältigt werden können und ob hierfür die christlich-antiken Tugenden der „disziplinierten Arbeitsgesellschaft“reichen werden. Denn neben dem Erdöl würden in der modernen Konsumgesellschaft – so Gronemeyer – auch die Tugenden verschwinden. Dies zeige sich am Wegschauen vor den Flüchtlingen („Man kann nicht Kinder systematisch ertrinken lassen, ohne dass das die Seelen derer, die drinnen sitzen, zerstört.“S. 33) ebenso wie an der zunehmenden Vereinsamung als Kehrseite der Individualisierung (in Großbritannien wurde vor Kurzem ein „Ministerium für Einsamkeit“ins Leben gerufen, S. 47) oder dem Verlust von Empathie. Gronemeyer brandmarkt einen „entfesselten Hedonismus“in einem „entfesselten Kapitalismus“: „Konsumismus ist die neue Moral“(S. 30). Den Rechtsruck in vielen reichen Staaten erklärt der Autor unter anderem mit dem „Ende des weißen Mannes“(S. 112), der die Vorherrschaft in der Welt und in den Gesellschaften verliere und dadurch in Panik gerate. Eine neue Spaltung drohe zwischen den modernen „Singlewelten, die ihre Weltbindung über Tinder oder Facebook realisieren“und den „territorial orientierten Wagenburgen, die sich verzweifelt gegen Fremdes wehren“(S. 46). Die neuen Reichen würden sich abschotten, sie entfliehen der Gemeinschaft, alte „Entwicklungsillusionen“seien an der „brutalen Wirklichkeit zerschellt“(S. 74), so Gronemeyer mit Blick auf Reichtumsstatistiken.
Was wären nun die neuen Tugenden, wenn die alten verkommen sind? Gronemeyer spricht etwa von Zivilcourage, von Empathie, von der Fähigkeit, sich berühren zu lassen, von Sinnlichkeit („Erde unter den Füßen“, S. 103), von neuen Gemeinschaften jenseits des „räuberischen Konsumismus“(S. 111), von der Bereitschaft, wieder aufeinander angewiesen zu sein: „Vielleicht fängt ein neuer Tugendkatalog damit an: mit der Schärfung unserer Sinne für Situationen, in denen wir von anderen gebraucht werden?“(S. 96). „Selbstbegrenzung“, die sich vom „Wachstumswahn befreit“(S 116), das Leben im Hier und Jetzt als Erfahren „radikaler Gegenwart“(S. 120), ein anderer Bezug zur Natur, die Zurückgewinnung von „Empfindsamkeit“wider das betäubend gemütliche „Weiter so“(S. 129) – dies einige weitere Aspekte des Gronemeyer’schen Tugendkatalogs – allesamt Haltungen, die sich an uns als Menschen richten, und nicht als Vorschläge an die Politik, die der Autor scheut.
Der Grundton von Gronemeyers „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“ist ohne Zweifel pessimistisch. Es hat etwas Apokalyptisches, wenn Gronemeyer etwa von Slums in Angola berichtet, einem Land mit 90 Prozent Arbeitslosigkeit, in dem drei Viertel der Bevölkerung jünger als 25 Jahre alt sind, oder vor einem neuen Bürgerkrieg in den USA warnt – und dem Zerfall der Gemeinschaft in den Wohlstandsinseln. Anders als beispielweise Harald Welzer („Alles könnte anders sein“) oder Rutger Bregman („Utopien für Realisten“) ist Gronemeyers Blick auf die Welt ein nüchterner. Gronemeyer befürchtet mit dem Philosophen Giorgio Agamben die vermehrte Ausrufung des „Ausnahmezustands“(S. 151), mit der sich die Macht in Zukunft legitimieren werde, und er zitiert Slavoj Zizeks „Mut zur Hoffnungslosigkeit“(S 144). Weg von der „einlullenden Happy-end-rhetorik“(S. 152), keine „Wir haben ein Problem, wir brauchen eine Lösung“-strategien (ebd.), sondern die Aufforderung an uns alle, einfach nicht mehr mitzumachen, das ist Gronemeyers zentrale Botschaft: „Flucht aus dem Mainstream ist angesagt“(S. 153). Als Theologe hofft der Autor auch auf eine neue spirituelle Gemeinschaftlichkeit: „Indem wir geben, wird uns etwas geschenkt. Und wir beginnen zu leben.“(S. 156) Gronemeyers Pessimismus mag die Leserinnen etwas unzufrieden zurücklassen. Oder will er uns nur warnen, dass die Zukunft kein linearer Weg nach oben ist? Dass Schlimmeres auf uns zukommen könnte? Der Diskurs über politische Demut versus Gestaltungsanspruch, bewusstem Rückzug ins Abseits versus Sich-einbringen in Reformvorhaben ist mit diesem Buch nicht zu Ende, er wird und soll uns weiter begleiten. Als Kassandra-rufe taugen die Ausführungen aber allemal. H. H. Tugend 120 Gronemeyer, Reimer: Tugend. Über das, was uns Halt gibt. Hamburg: edition Körber-stiftung, 2019. 214 S., € 19,60 [D], € 20,30 [A]
Ethik der Wertschätzung
Corine Pelluchon ist Professorin für Philosophie und Angewandte Ethik an der Université Parisest-marne-la-vallée und hat seit 2005 mehrere Monografien zu ihren Schwerpunktthemen Moralphilosophie, Politische Philosophie sowie Umwelt-, Bio- und Tierethik publiziert, die bisher allerdings hauptsächlich auf französischer Sprache zu lesen sind. Mit „Ethik der Wertschätzung. Tugenden einer ungewissen Welt“liegt nun erstmals eines ihrer Bücher auch in deutscher Übersetzung vor – und landete sogleich auf der monatlichen Sachbuchbestenliste von DIE ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur.
Wir leben laut Pelluchon in einem Zeitalter, in dem „die Gewalt gegen das Lebendige keine Hemmung mehr kennt, weil die Alterität, die Verwundbarkeit, die Unvorhersehbarkeit und mit der Sterblichkeit alles Lebendigen unsere eigene Sterblichkeit selbst Gegenstand unserer Furcht, ja unseres Hasses ist“(S. 25). Und in der gleichzeitig die Besorgnis um das Lebendige immer stärker formuliert wird, eine Besorgnis, die in einem Augenblick entsteht, „da die Umweltkrise, die Gewalt an ganzen Gruppen von Menschen und die schrecklichen Lebens- und Sterbebedingungen, die den Tieren aufgezwungen werden, niemanden mehr entgehen können. Sie entsteht zeitgleich mit der Tatsache, dass in einem Klima allgemeiner Gewalttätigkeit mehr und mehr Individuen der Meinung sind, dass die Anerkennung der Heterogenität der Lebens- und Kulturformen der Schlüssel für ein besseres, ja für eine gutes Leben ist“(ebd.).
Notwendigkeit neuer Seinsweisen
Für ein Überwinden der desaströsen Gewaltstrukturen, mit denen Tier, Mensch und Umwelt konfrontiert sind, bedarf es der Adaption neuer Seinsweisen. Genau diese versucht das Buch zu bestimmen, Seinsweisen, „die gefördert werden müssen, wenn Individuen ein gutes Leben führen und die Achtung vor den anderen, Menschen und Nichtmenschen, als Bestandteil der Achtung vor sich selbst empfinden sollen“(S. 14).
Auf der Suche danach, um also ihre Ethik der Wertschätzung entstehen zu lassen, bedient sich die Autorin einer breiten Palette an philosophischen Strömungen und altbekannten Stimmen – unter anderem Platon, Aristoteles, Bernhard von Clairvaux, Arne Naess, Hannah Arendt, Emmanuel Levians – und strukturiert sie zu einem bunten, neuen, kunstfertigen Mosaik.
„Was das Subjekt der Wertschätzung leitet und was der Horizont aller seiner Handlungen ist, ist die gemeinsame Welt, die ihm vorangeht und von der es ein Teil ist, die es aber auch an künftige Generationen weiterzugeben und deren Zerstörung es zu verhindern gilt.“(S. 283) Pelluchon liefert ein anspruchsvolles Theoriewerk, das ob seiner Ausrichtung wohl gerade zum rechten Zeitpunkt erschienen ist und hoffentlich einigen als Denkanstoß dienen wird. K. K.
Tugendethik
121 Pelluchon, Corine: Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt. Darmstadt: wbg Academic, 2019. 304 S., € 50,- [D], 51,40 [A]
„Die Tugenden selbst können Laster werden, der Mut kann sich in Verwegenheit verwandeln und die Großmut in Anmaßung, wenn diese moralischen Dispositionen nicht aus der Wertschätzung kommen und ihnen nicht Demut vorangeht. Diese Erfahrung reinigt unseren Geist und unser Herz, indem sie den Hochmut vertreibt und uns verstehen lässt, dass das Böse, dessen wir die anderen anklagen, sich auch in uns selbst findet..” (Corine Pelluchon in , S. 279) 121