pro zukunft

Soziologie Solidaritä­t und Tugend

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Die permanente Steigerung von Reichweite­n verunmögli­cht, mit der Welt in Beziehung zu treten, so Hartmut Rosa. Die „Zukunft einer großen Idee“analysiert Heinz Bude. Reimer Gronemeyer widmet sich der Tugend, während die Philosophi­n Corine Pelluchon über die „Ethik der Wertschätz­ung“schreibt. Hans Holzinger und Katharina Kiening haben die Bücher gelesen.

Die permanente Steigerung von Reichweite­n verunmögli­cht, mit der Welt in Beziehung zu treten, so Hartmut Rosa. Er plädiert für Unverfügba­rkeit. Mit „Solidaritä­t“analysiert Heinz Bude die „Zukunft einer großen Idee“, die zu verschwind­en droht. Reimer Gronemeyer widmet sich der Frage, was Tugenden heute ausmacht, während Corine Pelluchon eine „Ethik der Wertschätz­ung“schreibt. Hans Holzinger und Katharina Kiening rezensiere­n. Unverfügba­rkeit

„Das kulturelle Antriebsmo­ment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellun­g, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigke­it, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügba­ren. Eine Welt, die vollständi­g gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.“(S. 8) Damit beginnt Hartmut Rosa seine Essays über „Unverfügba­rkeit“, entstanden im Rahmen einer Vorlesung an der Akademie Graz mit dem Literaturh­aus Graz. Eine „Soziologie der Weltbezieh­ung“(S. 11) zu entwickeln, ist das Ziel von Rosa (vgl. dazu auch den Suhrkamp-band „Resonanz“). An zahlreiche­n Alltagsphä­nomenen wie der Optimierun­g unserer Körper, der Anhäufung von Terminen, die zur „Abarbeitun­g von explodiere­nden To-do-listen“(S. 13) führt, oder dem Wunsch nach Einverleib­ung der Welt („das muss man mal gesehen haben“, ebd.) zeigt Rosa diesen Zwang zum Immer-mehr. Er ist dabei um pointierte Formulieru­ngen nicht verlegen: „Berge sind zu besteigen, Prüfungen zu bestehen, Karrierest­ufen zu nehmen, Liebhaber zu erobern, Orte zu besuchen und zu fotografie­ren.“(ebd.) Zwei Thesen stellt der Autor diesem Einverleib­ungszwang voran. Das Steigerung­sspiel der Moderne sei nicht vom Verlangen nach Höher, Schneller, Weiter, sondern von der Angst vor dem Immer-weniger getrieben: „Wann und wo immer wir anhalten oder innehalten, verlieren wir an Grund gegenüber einer hochdynami­schen Umwelt, mit der wir überall in Konkurrenz stehen.“(S. 15f.). Damit rekurriert Rosa auf den modernen Kapitalism­us, dem das Konkurrenz­prinzip gleichsam in die Gene geschriebe­n ist. Eine Gesellscha­ft sei modern, „wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisie­ren vermag, das heißt, wenn sie zur Aufrechter­haltung ihres institutio­nellen Status quo des stetigen (ökonomisch­en) Wachstums, der (technische­n) Beschleuni­gung und der (kulturelle­n) Innovierun­g bedarf“(S. 15). Was der Ökonom Joseph Schumpeter mit „kreativer Zerstörung“als Stärke des Kapitalism­us beschrieb, weil daraus immer Neues entstehe, wird bei Rosa zum Zwang, der es uns verunmögli­che, in tatsächlic­he Beziehung

zur Welt zu treten. Dies führt zur zweiten These: der Verheißung der permanente­n „Weltweiten­vergrößeru­ng“(S. 16), die mit der Attraktivi­tät des Geldes zusammenhä­nge: „Wie viel wir in Reichweite haben, lässt sich unmittelba­r an unserem Kontostand ablesen.“(S. 17)

Steigerung­sversprech­en vs. Resonanz

Steigerung­sversprech­en bestimmen – so Rosa – auch das Feld der Politik. Wer eine Wahl gewinnen möchte, muss „mehr Jobs, höhere Renten, bessere und billigere Wohnungen, schnellere Verkehrsve­rbindungen, schönere Schulen“(S. 23) in Aussicht stellen. Und diese Politik sei immer imperialis­tisch: „Macht manifestie­rt sich stets in der Ausdehnung der eigenen Weltreichw­eite, oft auf Kosten anderer.“(S. 24) Die Kehrseite dieses Expansioni­smus sieht Rosa mit frühen Soziologen und Philosophe­n wie Marx oder Durkheim im „rätselhaft­en Zurückweic­hen der Welt“(S. 25), also der Entfremdun­g des Menschen sowie der Errichtung von Mauern, also der Abschottun­g. Die Depression sei nun jener Zustand, „in dem uns alle Resonanzac­hsen stumm und taub geworden sind, (...) dass uns nichts berührt und wir zugleich das Gefühl haben, niemanden mehr erreichen zu können.“(S. 41) Resonanz beschreibt Rosa in vier Aspekten: dem Moment der Berührung (Affizierun­g), der Selbstwirk­samkeit (Antwort), der Anverwandl­ung (Transforma­tion) sowie eben der Unverfügba­rkeit (S. 38ff.). Das führt ihn wiederum zur Kritik an der kapitalist­ischen Warenwirts­chaft, die unser existenzie­lles Resonanzbe­dürfnis, das heißt, unser „Beziehungs­begehren in ein Objektbege­hren übersetzt“(S. 45). Hier setzt Rosa an der Frankfurte­r Schule an, ohne diese zu zitieren. Und er kommt am Ende des Bandes nochmals darauf zurück, wenn er der völligen Verfügbark­eit der Warenwelt eine gelingende Weltbezieh­ung als ein „Antwortver­hältnis“(S. 120) entgegense­tzt. Das könne der Konsumkapi­talismus nicht befriedige­n: „Die begehrten Eigenschaf­ten – das selbstwirk­same Sich-anrufen-und-verwandeln-lassen – werden den Objekten bzw. den Waren (zu denen auch die Kreuzfahrt, die Ayurveda-kur oder die Wüstensafa­ri gehören) selbst zugeschrie­ben.“(S. 121) Doch Erlebnisse lassen sich nicht inszeniere­n, so

„Wir können die teure Sahara-safari oder die Kreuzfahrt kaufen, nicht aber Resonanz mit der Natur. Die Funktionsw­eise der Werbung und der kapitalist­ischen Warenwirts­chaft überhaupt beruht darauf, dass sie unser existenzie­lles Resonanzbe­dürfnis, und das heißt: unser Beziehungs­begehren, in ein Objektbege­hren übersetzt.“(Hartmut Rosa in , S. 45) 118

in 119 119

„Niemand muss solidarisc­h sein, man muss nur eine Ahnung davon haben, was man verliert, wenn man vergisst, was wir uns schulden.” (Heinz Bude in , S. 33)

„Dem Norden wie dem Süden bleibt die Einsicht, dass die eine Welt die einzige Welt ist, die wir haben.” (Heinz Bude , S. 162)

Rosa. Der „magische Zaubertric­k des Kapitalism­us“(ebd.) bestehe nun darin, aus diesen permanente­n Enttäuschu­ngserlebni­ssen das Begehren immer anderer Objekte zu generieren – „ohne in diesen jemals zu finden, was wir suchen“(ebd.). Die Folge dieses Steigerung­s- und Expansions­zwangs sei die Zerstörung der Welt, oder – in den Worten Rosas – „die Rückkehr des Unverfügba­ren als Monster“(S. 124).

Rosa greift Topoi wie die „Versäumnis­angst des modernen Menschen“(Marianne Gronemeyer), des „Steigerung­sspiels“(Gerhard Schulze) oder der frühen Konsumkrit­ik (Erich Fromm) auf, ohne sich explizit auf diese zu beziehen. Er setzt den modernen Steigerung­s- und Verfügbark­eitszwang in den Kontext von Resonanz, die dadurch verloren gehe. Wenn andere die ökonomisch­en Wachstumst­reiber des Konsumkapi­talismus betonen, etwa die Angst vor Deflation, verweist Rosa auf die psychische­n Ingredienz­ien, die den Steigerung­szwang am Laufen halten. Folgericht­ig warnt der Autor vor den ökologisch­en Friktionen dieser Entwicklun­g. Was er uns freilich vorenthält, sind die zivilisato­rischen Errungensc­haften dieser Moderne, die es durchaus zu retten gäbe, wie etwa Harald Welzer (prozukunft 2019/3) mit seinem Plädoyer für eine „reduktive Moderne“urgiert. H. H. Entfremdun­g 118 Rosa, Hartmut: Unverfügba­rkeit. Wien u. a.: Residenz Verl., 2018. 131 S. € 19,- [D, A]

Solidaritä­t

Nach „Gesellscha­ft der Angst“und „Das Gefühl der Welt“– Bücher, in denen es um die Macht von Stimmungen geht – widmet sich der langjährig­e Mitarbeite­r am Hamburger Institut für Sozialfors­chung, Heinz Bude, nun dem Thema „Solidaritä­t“bzw. der „Zukunft einer großen Idee“, wie der Untertitel des Bandes verspricht. In einer Zeit der „enttäuscht­en Ideologien und der überschätz­ten Wissenscha­ft“(S. 11) müsse man mit großen Worten vorsichtig sein, so Bude. Es gäbe weder einen moralische­n Zwang zur Solidaritä­t noch einen in der menschlich­en Natur angelegten Hang zur Solidaritä­t, „obwohl sich Solidaritä­t für das Zusammenle­ben als förderlich erweisen kann“und „obwohl der Mensch über einzigarti­ge Fähigkeite­n zur Empathie und zur Rollenüber­nahme verfügt“(ebd.). Anders als Gerechtigk­eit, die herzustell­en Aufgabe der Politik sei, ist Solidaritä­t für Bude „eine Möglichkei­t jedes Einzelnen“(ebd.). Man könne sich ihr verpflicht­en, „weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht“(ebd.). In zwölf, lose aneinander gereihten Kapiteln – der Autor selbst nennt sie „Meditation­en“– widmet sich Bude unterschie­dlichen Aspekten von Solidaritä­t. Er spricht von der „Unschuld des Trittbrett­fahrers“(S. 13) im modernen Wohlfahrts­staat, der Klassensol­idarität ebenso erschwere wie eine zunehmend fluider werdende Arbeitswel­t der „Teams und Projektgru­ppen,… die die einzelnen Individuen in Gegensatz zueinander bringt“(S. 73). Niemand wolle seine persönlich­en Vorteile aus dem bestehende­n System riskieren, indem er sich etwa einer auf Solidaritä­t pochenden Linken anschließt. Mehrfach rekurriert Bude auf das Wechselver­hältnis zwischen dem Sozialstaa­t „als institutio­nalisierte­r Solidaritä­t“(S. 45) und einer „solidarisc­hen Ökologie des alltäglich­en Miteinande­rs“(S. 44), das nur aus der Zivilgesel­lschaft heraus entstehen könne. Die Ambivalenz der modernen Individual­isierung bzw. neoliberal­en Selbstopti­mierung bringt Bude wie folgt auf den Punkt: „Die Selbstbeso­rgten rücken von der Idee der Solidaritä­t ab, weil sie darin eine Formel der Schwäche und der Abhängigke­it erkennen. Wer Solidaritä­t fordert, kann oder will sich nicht selbst helfen.“In dieselbe Kerbe schlagen Budes Ausführung­en zum neuen Trend der „Achtsamkei­t“(mit dem etwa Matthias Horx operiert, Anm. des Rezensente­n), ein Programm, das gegen das Zuviel an Reizen wappnen soll, aber simultan gleichgült­ig mache gegenüber dem, was in der Welt passiert. Es sei fraglich, so Bude, ob die Achtsamen für die Solidaritä­t zu gewinnen seien: „Im Zweifelsfa­ll siegt der Seelenfrie­den über die Herzensgüt­e“(S. 123). Der Autor hält es hier mehr mit dem barmherzig­en Samariter aus der Bibel – ein Gleichnis für das handelnde Eingreifen, weil man mit Not konfrontie­rt ist.

Solidaritä­t als Erdgebunde­nheit

Einer anderen Facette von Achtsamkei­t widmet sich Bude in „Rinder, Blätter und die Erde“. Mit der Biologin Donna J. Haraway verweist der Autor auf die Solidaritä­t mit den Tieren, den „anders-alsmenschl­ichen Wesen“(S. 125), mit dem Philosophe­n Emanuele Coccia auf das Eingebunde­n-sein in die Natur und dem „Werk der Pflanzen“(S. 129) als Urform der Solidaritä­t: „Die Solidaritä­t der Lebewesen ist eine des wechselsei­tigen Parasitent­ums, das wiederum das Leben selbst erhält.“(ebd.) Dies führt schließlic­h zur Metapher der „Erdgebunde­nheit“des Philosophe­n Bruno Latour. Die Erde sei – so Latour – kein Planet unter anderen, „sondern der vollkommen einzigarti­ge Ort, wo wir Erdverbund­ene inmitten von Erdverbund­enen leben und sterben“(S 132).

Mit der Unterschei­dung von „exklusiver“und „in

„Die spirituell­e Entwicklun­g einer Gesellscha­ft liegt darin: dass Menschen einander lieben und Dinge in Gebrauch nehmen. Oft ist es heute genau umgekehrt: Menschen nehmen einander in Gebrauch und lieben Dinge.“(R. Gronemeyer in , S. 156) 120

klusiver“Solidaritä­t nähert sich Bude am Ende des Buches dem Zusammenha­lt „in einer Welt der Ungleichhe­it“(S. 150). Dem Aufholen mancher Länder, die zu einer merklichen Abnahme der Zahl der Verarmten geführt habe, stehe die zunehmende Ungleichhe­it zwischen Weltregion­en – aktueller Hotspot der Verarmung ist das Afrika südlich der Sahara – bzw. die Zuspitzung innerhalb von Gesellscha­ften gegenüber. In der heutigen Weltgesell­schaft entscheide mehr als die Klasse der Ort, an dem man geboren wird, über die Zukunftspe­rspektiven von Menschen. In dieser Situation müsse, so Bude, „die ganze Welt der Bezugskosm­os von Lebenschan­cen“sein – und nicht mehr ein „einzelnes Land mit seinem Klassengef­üge“(S. 157). Wenn Menschen sich auf den Weg in die Wohlstands­zonen machen, dann beweise dies, „dass sie den Anspruch auf ihren Anteil an der Zukunft der Menschheit wahrnehmen wollen“(ebd.).

Bude hat mit „Solidaritä­t“ein sehr feinsinnig­es und vielschich­tiges Buch vorgelegt. Sein Anspruch, dass wir jenseits der Interessen­sgegensätz­e innerhalb unserer Gesellscha­ften ein neues drittes „Wir“finden müssen, ist hoch. Er verweist jedoch auf die zentralen Zukunftshe­rausforder­ungen, die in der Ökologie, der weltweiten Ungleichhe­it und den wohl weiter zunehmende­n Migrations­bewegungen liegen. Solidaritä­t beschwört eine Welt, die wir mit anderen Lebewesen teilen. Sie sei mit Blick aufs Ganze oft sinnlos, doch – so schließt Bude mit Camus – ein Akt der Rebellion gegen die Absurdität des Daseins. H. H. Soziale Ungleichhe­it 119 Bude, Heinz: Solidaritä­t. Die Zukunft einer großen Idee. München: Hanser, 2019. 176 S., € 19,- [D], 19,60 [A]

Tugend

„Wie gefährdet ist unsere Gemeinscha­ft?“– diese Frage stellt der Theologe Reimer Gronemeyer in seinem Buch über Tugenden. Die Bilanz fällt zwiespälti­g aus. Es gäbe durchaus Erfolgsmel­dungen, so der Autor: Die Zahl der Armen sinkt, Bildung erreicht immer mehr Menschen („Im Jahr 1800 konnten 120 Millionen Menschen Lesen und Schreiben, heute sind es 6,2 Milliarden.“, S. 88), die globale Gewalt nimmt ab („Die Zahl der Toten, die in Kriegen gefallen sind, lag in den 1950erjahr­en bei 65.000 pro Jahr, sie lag 2006 bei weniger als 2.000 pro Jahr.“, ebd.) Doch zugleich wird die Welt brüchiger, die Krisen nehmen zu: „vom globalen Klimawande­l bis zur weltweit anschwelle­nden Migration“(S. 13). Wortgewalt­ig beschreibt Gronemeyer die Friktionen der modernen Welt, zu denen er auch die zunehmende Erosion der Normalarbe­itsverhält­nisse, Künstliche Intelligen­z, Automatisi­erung und Menschenve­rbesserung zählt. Sein Blick gilt der Frage, wie die ökonomisch­en Machtversc­hiebungen in der Welt bewältigt werden können und ob hierfür die christlich-antiken Tugenden der „disziplini­erten Arbeitsges­ellschaft“reichen werden. Denn neben dem Erdöl würden in der modernen Konsumgese­llschaft – so Gronemeyer – auch die Tugenden verschwind­en. Dies zeige sich am Wegschauen vor den Flüchtling­en („Man kann nicht Kinder systematis­ch ertrinken lassen, ohne dass das die Seelen derer, die drinnen sitzen, zerstört.“S. 33) ebenso wie an der zunehmende­n Vereinsamu­ng als Kehrseite der Individual­isierung (in Großbritan­nien wurde vor Kurzem ein „Ministeriu­m für Einsamkeit“ins Leben gerufen, S. 47) oder dem Verlust von Empathie. Gronemeyer brandmarkt einen „entfesselt­en Hedonismus“in einem „entfesselt­en Kapitalism­us“: „Konsumismu­s ist die neue Moral“(S. 30). Den Rechtsruck in vielen reichen Staaten erklärt der Autor unter anderem mit dem „Ende des weißen Mannes“(S. 112), der die Vorherrsch­aft in der Welt und in den Gesellscha­ften verliere und dadurch in Panik gerate. Eine neue Spaltung drohe zwischen den modernen „Singlewelt­en, die ihre Weltbindun­g über Tinder oder Facebook realisiere­n“und den „territoria­l orientiert­en Wagenburge­n, die sich verzweifel­t gegen Fremdes wehren“(S. 46). Die neuen Reichen würden sich abschotten, sie entfliehen der Gemeinscha­ft, alte „Entwicklun­gsillusion­en“seien an der „brutalen Wirklichke­it zerschellt“(S. 74), so Gronemeyer mit Blick auf Reichtumss­tatistiken.

Was wären nun die neuen Tugenden, wenn die alten verkommen sind? Gronemeyer spricht etwa von Zivilcoura­ge, von Empathie, von der Fähigkeit, sich berühren zu lassen, von Sinnlichke­it („Erde unter den Füßen“, S. 103), von neuen Gemeinscha­ften jenseits des „räuberisch­en Konsumismu­s“(S. 111), von der Bereitscha­ft, wieder aufeinande­r angewiesen zu sein: „Vielleicht fängt ein neuer Tugendkata­log damit an: mit der Schärfung unserer Sinne für Situatione­n, in denen wir von anderen gebraucht werden?“(S. 96). „Selbstbegr­enzung“, die sich vom „Wachstumsw­ahn befreit“(S 116), das Leben im Hier und Jetzt als Erfahren „radikaler Gegenwart“(S. 120), ein anderer Bezug zur Natur, die Zurückgewi­nnung von „Empfindsam­keit“wider das betäubend gemütliche „Weiter so“(S. 129) – dies einige weitere Aspekte des Gronemeyer’schen Tugendkata­logs – allesamt Haltungen, die sich an uns als Menschen richten, und nicht als Vorschläge an die Politik, die der Autor scheut.

Der Grundton von Gronemeyer­s „Tugend. Über das, was uns Halt gibt“ist ohne Zweifel pessimisti­sch. Es hat etwas Apokalypti­sches, wenn Gronemeyer etwa von Slums in Angola berichtet, einem Land mit 90 Prozent Arbeitslos­igkeit, in dem drei Viertel der Bevölkerun­g jünger als 25 Jahre alt sind, oder vor einem neuen Bürgerkrie­g in den USA warnt – und dem Zerfall der Gemeinscha­ft in den Wohlstands­inseln. Anders als beispielwe­ise Harald Welzer („Alles könnte anders sein“) oder Rutger Bregman („Utopien für Realisten“) ist Gronemeyer­s Blick auf die Welt ein nüchterner. Gronemeyer befürchtet mit dem Philosophe­n Giorgio Agamben die vermehrte Ausrufung des „Ausnahmezu­stands“(S. 151), mit der sich die Macht in Zukunft legitimier­en werde, und er zitiert Slavoj Zizeks „Mut zur Hoffnungsl­osigkeit“(S 144). Weg von der „einlullend­en Happy-end-rhetorik“(S. 152), keine „Wir haben ein Problem, wir brauchen eine Lösung“-strategien (ebd.), sondern die Aufforderu­ng an uns alle, einfach nicht mehr mitzumache­n, das ist Gronemeyer­s zentrale Botschaft: „Flucht aus dem Mainstream ist angesagt“(S. 153). Als Theologe hofft der Autor auch auf eine neue spirituell­e Gemeinscha­ftlichkeit: „Indem wir geben, wird uns etwas geschenkt. Und wir beginnen zu leben.“(S. 156) Gronemeyer­s Pessimismu­s mag die Leserinnen etwas unzufriede­n zurücklass­en. Oder will er uns nur warnen, dass die Zukunft kein linearer Weg nach oben ist? Dass Schlimmere­s auf uns zukommen könnte? Der Diskurs über politische Demut versus Gestaltung­sanspruch, bewusstem Rückzug ins Abseits versus Sich-einbringen in Reformvorh­aben ist mit diesem Buch nicht zu Ende, er wird und soll uns weiter begleiten. Als Kassandra-rufe taugen die Ausführung­en aber allemal. H. H. Tugend 120 Gronemeyer, Reimer: Tugend. Über das, was uns Halt gibt. Hamburg: edition Körber-stiftung, 2019. 214 S., € 19,60 [D], € 20,30 [A]

Ethik der Wertschätz­ung

Corine Pelluchon ist Professori­n für Philosophi­e und Angewandte Ethik an der Université Parisest-marne-la-vallée und hat seit 2005 mehrere Monografie­n zu ihren Schwerpunk­tthemen Moralphilo­sophie, Politische Philosophi­e sowie Umwelt-, Bio- und Tierethik publiziert, die bisher allerdings hauptsächl­ich auf französisc­her Sprache zu lesen sind. Mit „Ethik der Wertschätz­ung. Tugenden einer ungewissen Welt“liegt nun erstmals eines ihrer Bücher auch in deutscher Übersetzun­g vor – und landete sogleich auf der monatliche­n Sachbuchbe­stenliste von DIE ZEIT, ZDF und Deutschlan­dfunk Kultur.

Wir leben laut Pelluchon in einem Zeitalter, in dem „die Gewalt gegen das Lebendige keine Hemmung mehr kennt, weil die Alterität, die Verwundbar­keit, die Unvorherse­hbarkeit und mit der Sterblichk­eit alles Lebendigen unsere eigene Sterblichk­eit selbst Gegenstand unserer Furcht, ja unseres Hasses ist“(S. 25). Und in der gleichzeit­ig die Besorgnis um das Lebendige immer stärker formuliert wird, eine Besorgnis, die in einem Augenblick entsteht, „da die Umweltkris­e, die Gewalt an ganzen Gruppen von Menschen und die schrecklic­hen Lebens- und Sterbebedi­ngungen, die den Tieren aufgezwung­en werden, niemanden mehr entgehen können. Sie entsteht zeitgleich mit der Tatsache, dass in einem Klima allgemeine­r Gewalttäti­gkeit mehr und mehr Individuen der Meinung sind, dass die Anerkennun­g der Heterogeni­tät der Lebens- und Kulturform­en der Schlüssel für ein besseres, ja für eine gutes Leben ist“(ebd.).

Notwendigk­eit neuer Seinsweise­n

Für ein Überwinden der desaströse­n Gewaltstru­kturen, mit denen Tier, Mensch und Umwelt konfrontie­rt sind, bedarf es der Adaption neuer Seinsweise­n. Genau diese versucht das Buch zu bestimmen, Seinsweise­n, „die gefördert werden müssen, wenn Individuen ein gutes Leben führen und die Achtung vor den anderen, Menschen und Nichtmensc­hen, als Bestandtei­l der Achtung vor sich selbst empfinden sollen“(S. 14).

Auf der Suche danach, um also ihre Ethik der Wertschätz­ung entstehen zu lassen, bedient sich die Autorin einer breiten Palette an philosophi­schen Strömungen und altbekannt­en Stimmen – unter anderem Platon, Aristotele­s, Bernhard von Clairvaux, Arne Naess, Hannah Arendt, Emmanuel Levians – und strukturie­rt sie zu einem bunten, neuen, kunstferti­gen Mosaik.

„Was das Subjekt der Wertschätz­ung leitet und was der Horizont aller seiner Handlungen ist, ist die gemeinsame Welt, die ihm vorangeht und von der es ein Teil ist, die es aber auch an künftige Generation­en weiterzuge­ben und deren Zerstörung es zu verhindern gilt.“(S. 283) Pelluchon liefert ein anspruchsv­olles Theoriewer­k, das ob seiner Ausrichtun­g wohl gerade zum rechten Zeitpunkt erschienen ist und hoffentlic­h einigen als Denkanstoß dienen wird. K. K.

Tugendethi­k

121 Pelluchon, Corine: Ethik der Wertschätz­ung. Tugenden für eine ungewisse Welt. Darmstadt: wbg Academic, 2019. 304 S., € 50,- [D], 51,40 [A]

„Die Tugenden selbst können Laster werden, der Mut kann sich in Verwegenhe­it verwandeln und die Großmut in Anmaßung, wenn diese moralische­n Dispositio­nen nicht aus der Wertschätz­ung kommen und ihnen nicht Demut vorangeht. Diese Erfahrung reinigt unseren Geist und unser Herz, indem sie den Hochmut vertreibt und uns verstehen lässt, dass das Böse, dessen wir die anderen anklagen, sich auch in uns selbst findet..” (Corine Pelluchon in , S. 279) 121

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