Politik Die Gegenwart sortieren
Unter den Menschen, die eine Veränderung der Welt wünschen, gibt es heftige Meinungsunterschiede, wie man die Sache angehen soll. Diskriminierungen überwinden, Ungleichheiten beseitigen, die Funktionsweise unserer Gesellschaft ändern – einige Bücher und das Modell von Karl Polanyi helfen Stefan Wally, die Meinungen und Diskussionspunkte zu sortieren.
Unter den Menschen, die eine fortschrittliche Veränderung der Welt wünschen, gibt es heftige Meinungsunterschiede, wie man die Sache angeht. Diskriminierungen sind zu überwinden. Ungleichheiten zu beseitigen. Die Funktionsweise unserer Gesellschaft zu ändern. Bei den Aufgaben steht man sich auch mal im Weg. Einige neue Bücher und das Modell von Karl Polanyi helfen Stefan Wally, die Diskussion zu sortieren. Karl Polanyi
Karl Polanyi (1886-1964) war Wirtschaftshistoriker, wirkte in Österreich als Redakteur der Zeitschrift „Der Österreichische Volkswirt“, verließ Österreich 1935 und publizierte in den USA schließlich sein einflussreiches Werk „The Great Transformation“. Zurzeit wird Polanyi wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 2018 wurde in Wien eine Karl-polanyi-gesellschaft gegründet. Der Band „Karl Polanyi. Wiederentdeckung eines Jahrhundertdenkers“dokumentiert dieses gestiegene Interesse und leistet grundlegende Beiträge zu einem zeitgemäßen Verständnis des Werks und der Person.
Polanyi zeichnet in seinem Hauptwerk die langfristige Entstehung der Marktwirtschaft nach. Vor allem anhand des Beispiels Großbritannien erklärt er, wie Schritt für Schritt Lebensbereiche der Marktlogik unterworfen und immer mehr Aspekte des Lebens als Produkte handelbar ausgestaltet wurden. Wichtig in seiner Beschreibung ist die Erkenntnis, dass jeder Schub in Richtung Ausweitung des Marktes mit Gegenbewegungen verbunden war. Gesellschaftliche Gruppen oder staatliche Institutionen widersetzten sich der Dynamik und erzwangen zumindest zeitweise stabile Kompromisse. Dieses Vorwärtsdrängen des Marktes und die damit ausgelösten Widerstände nannte er eine „Doppelbewegung“.
Als er „The Great Transformation“in den 40ern fertig stellte, sah er Kommunismus und Faschismus als Ausdruck der Gegenbewegung zur verschärften Deregulierung der 20er-jahre. „Karl Polanyis Nachdenken über eine gerechte und freie Gesellschaft setzt bei der Vorstellung an, dass – wie er es seinerzeit vermutete – die Menschheit nach den Erfahrungen von Diktatur und Krieg nie wieder den Weg einer radikalen Wirtschaftsliberalisierung gehen würde“, schreiben Brigitte Aulenbacher, Veronika Heimerl und Andreas Novy im vorliegenden Band (S. 15). Somit war Polanyi optimistisch, dass auf der Basis der Industriegesellschaft eine gerechte und freie Gesellschaftsordnung entstehen würde. „Es ging Polanyi also nicht darum, Industriegesellschaften zu dämonisieren, sondern um die Frage, in welcher Weise
Gesellschaften in diesem ‚Maschinenzeitalter‘ ohne große Verwerfungen organisiert werden können“, schreiben Andreas Novy und Richard Bärnthaler an anderer Stelle (S. 116).
Wellen der Vermarktlichung
Michael Burawoy versucht in seinem Beitrag mit Polanyis Logik einzuordnen, was in der Zeit nach dessen Tod 1964 passierte.
Er spricht von drei Wellen der Vermarktlichung. Die erste datiert er mit Polanyi an das Ende des 18. Jahrhunderts, als neue Armenentschädigungen die Arbeitskraft einfacher handelbar machten. Damit einher gingen unter anderem Gegenbewegungen wie die Entwicklung von Genossenschaften und Gewerkschaften. Die zweite Welle setze nach dem Ende des ersten Weltkriegs ein. Der freie Handel auf der Grundlage des Goldstandards und die Beendigung der Einschränkungen der Kriegswirtschaften stärkten den Marktcharakter des wirtschaftlichen Lebens. Dies habe vor allem in Italien und Deutschland zu Verwerfungen geführt, die Gegenbewegung nahm die Form des Faschismus an. Die dritte Welle fügt Burawoy hinzu: Sie beginnt für ihn 1973 mit der Energiekrise und hat seiner Meinung nach durch die Regierungen von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA großen Aufwind erhalten. „Im Laufe der Zeit hat sie sich mit dem Aufstieg der Finanzwirtschaft als eine Ära der Rekommodifizierung des Geldes und der verschärften Kommodifizierung der Natur, das heißt von Luft, Boden und Wasser, erwiesen. Diese dritte Welle der Vermarktlichung führte zum Zusammenbruch des Staatssozialismus und bezog aus ihm neue Energien. In Lateinamerika kam die Strukturanpassung genau zu dem Zeitpunkt, als die Diktaturen fielen, was zu Experimenten in partizipativer Demokratie führte. Während die Wellen der Vermarktlichung in den Kernländern in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten aufeinander folgten, wurden die Länder der Peripherie in sehr rascher Folge mit ihnen konfrontiert, sodass sie umso explosiver wirkten.“(S. 32)
Ein sehr spannender Beitrag in dem Sammelband ist der Text von Michael Brie. Er bringt Karl Polanyi und die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser
„Das eigentliche Polanyi-moment, so sei behauptet, ist nicht die Gegenbewegung zum Marktradikalismus, sondern die Suche nach einer radikalen Alternative. Autoritäre Verteidigung der kapitalistischen Marktgesellschaft oder demokratische Formen der Unterordnung der Wirtschaft unter die Freiheit aller und jedes/jeder Einzelnen.” (Michael Brie in , S. 147) 122
ins Gespräch – und mischt selber ordentlich mit. Der Ansatz dabei: Wenn wir eine dritte Welle der Vermarktlichung erleben, wie Polanyi sagen könnte, was ist dann heute die Gegenbewegung? Dabei kommt zuerst Nancy Fraser zu Wort. Sie sieht zwei politische Blöcke, die sich gegenüber der aktuellen Situation kritisch verhalten. Zuerst die Verteidiger der „Gesellschaft“gegen den Markt, des Gemeinguts, des öffentlichen Zugangs, der Sicherheit. Diese Gruppe war am Herzen der Gegenbewegungen nach den ersten zwei Wellen der Vermarktlichung. Diese Gruppen, dazu gehört freilich die Arbeiterinnenbewegung, sei aber heute nicht stark genug. Die neue, zweite Gruppe, die mit der Gegenwart unzufrieden ist, setzte sich aus Emanzipationsbewegungen zusammen, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind. Sie liefen Sturm gegen bürokratische, patriarchale und rassistische Elemente der Gesellschaft. Brie lässt Fraser direkt zu Wort kommen: „Indem sie Zugang und nicht Schutz verlangten, war ihr Hauptziel nicht die Verteidigung der ‚Gesellschaft‘, sondern die Überwindung von Herrschaft.“Und nicht selten habe der Markt für unterdrückte Gruppen auch befreiende Momente geboten, indem er konventionelle Schranken durchbrach.
Damit ist die Gegenwart gekennzeichnet durch einen dreiseitigen Konflikt: Marktausweitung, Verteidigung der Gesellschaft gegen den Markt, Kampf um Nicht-diskriminierung beim Zugang (zum Markt).
Brie ergänzt, es gebe eine vierte Bewegung: den Autoritarismus und den rechten Nationalismus. Und er will den Akzent anders legen: „Das eigentliche Polanyi-moment, so sei behauptet, ist nicht die Gegenbewegung zum Marktradikalismus, sondern die Suche nach einer radikalen Alternative: autoritäre Verteidigung der kapitalistischen Marktgesellschaft oder demokratische Formen der Unterordnung der Wirtschaft unter die Freiheit aller und jedes/jeder Einzelnen.“(S. 147)
Der Band zeigt, dass sich die Auseinandersetzung mit Polanyi lohnt. S. W. Wirtschaftstheorie
122 Karl Polanyi. Wiederentdeckung eines Jahrhundertdenkers. Hrsg. v. Armin Thurnher u. a. Wien: Falter Verl., 2019. 200 S., € 19,- [D], 19,90 [A]
Die Politik sind wir
Raphaël Glucksmann hat bereits ein bewegtes berufliches und politisches Leben hinter sich. Zuletzt erlangte er Bekanntheit, als er versuchte, ein linkes Bündnis für die Wahlen zum Europäischen Parlament in Frankreich zu etablieren. Der „Place Publique“ umfasste schließlich mehrere mitte-links Parteien und Unabhängige. Für einen relevanten Stimmenanteil reichte das nicht. Glucksmann legt sein Credo in dem Buch „Die Politik sind wir“nun auch auf Deutsch vor. Versuchen wir hier, seine Ideen im Raster von Karl Polanyi einzuordnen. Polanyi sieht seit vierhundert Jahren eine Wellenbewegung, in der die marktwirtschaftliche Organisation des Lebens schubweise vordringt und immer wieder auf eine Gegenbewegung stößt, die andere Formen des Austausches unter Menschen, nennen wir dieses Sammelsurium „Gesellschaft“, verteidigt. In Frankreich würde man hier von der „Republik“sprechen, die den Austausch der Gleichen untereinander erlaubt.
Glucksmann hat folgenden Ansatz: Der Gegensatz zwischen Marktorientierung und Verteidigung der Gesellschaft wird halbwegs deckungsgleich in den Gegensatz von „liberal“und „demokratisch“übersetzt. „Und gerade in ihrer hybriden Natur liegt die Kraft der liberalen Demokratie. Das permanente Oszillieren zwischen den beiden Polen ermöglicht unseren Gesellschaften, frei zu sein und sich weiterzuentwickeln. Sie leben im Rhythmus des Hin und Her zwischen zwei Extrempunkten: der kollektivistischen Utopie auf der einen und der maximalen gesellschaftlichen Individualisierung auf der anderen Seite.“(S. 11f.)
Aber es gibt ein Problem: „Wenn der Widerspruch, der unser System antreibt, nicht mehr dynamisch ist, wenn also einer der Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglichen werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalismus nicht mehr demokratisch – es kommt zur Krise.“(S. 12) Genau das ist passiert: „Mit der theoretischen Behauptung des homo oeconomicus und dem Sieg im Kampf der Ideologien hat der Neoliberalismus eben diesen homo oeconomicus konkret hervorgebracht. (…) Dennoch müssen wir uns eine Frage stellen, die manche für nebensächlich halten mögen: Ist die Vorherrschaft des homo oeconomicus in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit Demokratie und Republik vereinbar?“(S. 34f.)
Glucksmann sieht den Widerstand gegen diesen Status quo geschwächt. Die Ideologie des Individualismus habe zu einer Vereinsamung der Menschen in der Gesellschaft geführt, die Kollektiven wie Gewerkschaften und ähnlichem die Basis entziehe, aber Ersatzidentitäten (Glucksmann), zum Beispiel religiöse, stärke. Damit werde der Idee der „Republik“der Boden entzogen.
Die Reaktion darauf spaltet: Die republikanische Linke bekämpft die neuen „Ersatz“-identitäten
wie den Islamismus, die von Glucksmann als „differenzialistisch“bezeichnete Linke feiert die anzuerkennenden Unterschiede. Glucksmann bezieht klar Position: „Das Anerkennen von Unterschieden in ein politisches Programm zu übersetzen, verleiht dem, was gerade passiert – dem Zusammenschluss der Ähnlichen und dem Ausschluss der Anderen den Anstrich des Fortschrittlichen. Und er erweist sich langfristig als Katastrophe für die Minderheiten, die man zu verteidigen vorgibt. Wenn der politische Kampf zu einer Frage identitärer Anerkennung wird, kommt irgendwann unausweichlich der Tag, an dem die größere ‚Gemeinschaft‘ sich ihrerseits in identitärer Weise selbst bekräftigt. Damit tritt man in die Ära des ‚Mehrheitsvolkes‘ ein.“(S. 58f.) Glucksmann: „Um den republikanischen Gedanken, dass Unterschiede keine Rolle spielen dürfen, in die Tat umzusetzen, müssen wir unerbittlich gegen jede Form von Diskriminierung vorgehen, jene gesellschaftlichen Waffen mit denen man nach Hannah Arendt töten kann, ohne Blut zu vergießen. Ob sexistisch, antisemitisch oder rassistisch – Diskriminierung verhindert, dass die abstrakte Idee des Staatsbürgers konkrete Gestalt annehmen kann. Sie untergräbt die Republik.“(S. 108) Die moderne republikanische Idee ist der Versuch, ein „Wir“neu zu definieren, ohne andere auszuschließen. Dies könne nur an einem öffentlichen Platz („place publique“, daher die Bezeichnung der politischen Formation Glucksmanns) stattfinden, zu dem alle Zugang haben. Elemente des neuen republikanischen Programms sind politische Partizipation, Grundeinkommen, allgemeiner Zivildienst zugunsten der Republik und eine ökologische Politik. Glucksmann zeichnet das Programm einer Rückgewinnung des Gleichgewichts zwischen Markt und Gesellschaft, nicht der Überwindung des Spannungsverhältnisses. Und in der Diskussion zwischen jenen, die sich der Verteidigung der Gesellschaft verschrieben haben und jenen, die sich für den Zugang zu den Vorteilen der Marktgesellschaft für diskriminierte Gruppen einsetzen, hofft Glucksmann, dass die identitären Gegenbewegungen sich nach einer Läuterung der republikanischen Seite anschließen. S. W.
Gesellschaftskritik 123 Glucksmann, Raphaël: Die Politik sind wir. München: Hanser, 2019. 190 S., € 18,- [D], 18,50 [A]
Die Moralfalle
Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Dramaturg am Berliner Ensemble. Daneben ist er politisch aktiv, zuletzt vor allem an der Seite von Sarah Wagenknecht bei der Etablierung des Netzwerkes „aufstehen“. In „Die Moralfalle“beschreibt er, wie aus seiner Sicht linke Politik in eine Sackgasse geraten ist.
Im Kern geht es um die Auseinandersetzung zwischen den zwei Bewegungen linker Politik: Der Politik der ökonomisch Schwächeren für Schutz vor den Auswirkungen des Marktes und der Politik von Menschen, die gegen ihre Diskriminierung auf der Grundlage von Aspekten ihrer Identität aufstehen.
Stegemann verwendet ein bekanntes Bild der Kulturwissenschaftlerin Gayatri Spivak, um einen Ausgangspunkt seiner Kritik an der Identitätspolitik zu haben. Im Zentrum Spivaks Überlegungen „steht das Beispiel einer indischen Frau, die sich der Tradition der Witwenverbrennung beugt und ihrem eigenen Tod zustimmt. Die Entscheidung dieser Frau wird als objektive Zwangslage beschrieben. Widersetzt sie sich der Tradition, so wird sie von den englischen Kolonialisten als Verbündete vereinnahmt, folgt sie der Tradition, so bestätigt sie eine frauenfeindliche Gesellschaft. Sie hat nur die Wahl zwischen dem Verrat ihrer eigenen Herkunft oder der Unterordnung unter eine falsche Tradition. Zwischen diesen beiden falschen Optionen ist ihr Handeln eingezwängt und sie findet keine dritte Position, aus der heraus sie diesen Zwang als das Falsche kritisieren könnte. Diese Situation meint Spivak, wenn sie zu der Schlussfolgerung kommt, dass die subalterne Frau nicht sprechen kann. (...) Auf der Grundlage dieser Beschreibung kommt sie dann zu wichtigen Hinweisen, wie mit dem Verstummen umgegangenen werden kann. Der erste besteht darin, dass ein strategischer Essenzialismus helfen kann, die ersten Schritte aus der Sprachlosigkeit zu finden. Mit Essenzialismus sind kollektive Zuordnungen gemeint, die sich als naturhafte Identitäten verstehen.“(S. 148f.). Spivak wisse genau, dass der Essenzialismus der Feind der gesellschaftlichen Emanzipation ist, wenn sie ihn als Mittel für ebendiese Befreiung vorschlägt, nutze sie ihn strategisch. Man solle quasi willentlich vergessen, dass eine Identität gewählt wurde, um dann aus ihrer naturhaften Wahrheit die Kraft für den Befreiungskampf zu gewinnen. Dies solle Mitglieder der diskriminierten Gruppen stärken und ihre Forderungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft nachdrücklicher machen.
„Heute ist festzustellen, dass der Essenzialismus immer neue Blüten trieb, aber jedes Bewusstsein dafür, dass es sich dabei um eine strategische Wahl handelt, weitestgehend in Vergessenheit geraten
„Die Kämpfe gegen rassistische Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberecht von Verfolgten und für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung gehen nicht nur die Betroffenen an. Sie sind Teil des Klassenkampfes – der einen wie der anderen Seite.” (Bernd Riexinger in 125 , S. 91)
ist. Die überall neu entstehenden Identitätskonstruktionen sind fest davon überzeugt, dass sie nicht kontingent sind. Der neue Essenzialismus gilt dabei für reaktionäre Identitäten, wie zum Beispiel die Nation, ebenso wie für vermeintliche progressive Identitäten, wie zum Beispiel diskriminierte Minderheiten.“(S. 150) Das führe nun dazu, dass die zersplitternden Identitäten diese Trennung von anderen Gruppen als essenziell denken, die Sprachlosigkeit der Subalternen ist zu einem polyphonen Schreien geworden (vgl. S. 150). Was nicht mehr möglich scheint, ist Solidarität, da es keine Sprache mehr gebe, in der sie vernehmbar artikuliert werden könne.
Stegemann ist der Meinung, dass folgende gesellschaftliche Bewegung stattfand. Er sieht die Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen. Wie im Bild Spivaks versteht er, dass sich die durch Diskriminierung ausgegrenzten Menschen zusammenschließen und dadurch gegenseitig ermutigen. Durch die Umdeutung der stigmatisierenden Mittel als Gerüst einer Identitätsstiftung stärkt man sich als Gruppe nach innen und außen. Das geschah in etwa so wie in der Arbeiterinnenbewegung. Während die Arbeiterinnenbewegung aber eine neue Gesellschaft der Gleichen propagierte, sieht Stegemann bei der zeitgenössischen Identitätspolitik die Stoßrichtung anders. „Der paradoxe Befehl der Identitätspolitik lautet: Nimm mich in meiner Besonderheit wahr und zeige mir zugleich, dass dieser Unterschied für dich keinen Unterschied macht.“(S. 94f.) Diese Forderung sei ein Problem. „Jeder der damit in Berührung kommt, wird unfrei in seinem Handeln, denn die Entscheidung, welche der beiden Seiten des Paradoxes gerade gilt, liegt allein bei demjenigen, der sich als Teil einer identitätspolitischen Gruppe definiert. Von hier aus wird bestimmt, ob die Unterscheidungsmarker genannt werden dürfen oder gerade nicht, welche Anerkennung noch fehlt und wer sie in welcher Form zu erbringen hat.“(S. 95). Man komme in eine sich selbst immunisierende Sprecherposition (vgl. S. 98).
Da Sprechen Handeln sei, wird das Gefühl der Kränkung zur Hauptursache der Beschwerden, und es vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der Gesellschaftskritik. Es werde ein Begriff, der die soziale Situation des Menschen aufgrund seiner materiellen Lebensbedingungen beschreibt, durch einen Begriff ersetzt, der ein Innenverhältnis des Ichs ausdrückt (vgl. S. 113). Dies sei eine wirkungsvolle Strategie, führte aber dazu, dass die Gesellschaft immer weiter zersplittere und dass die Konflikte immer härter ausgetragen würden. Stegemann spricht davon, dass die Rolle des Opfers mehr Vorteile verspreche als der Ausweg aus der Position des Schwachen. (vgl. S. 97) Und Stegemann schreibt, dass es insofern kein Zufall sei, „dass mittlerweile alle rechten und identitären Bewegungen genau dieses paradoxe Konzept von Identität kopieren“(S. 100). Im Ergebnis lande man bei einer Position, die „das Ziel des Universalismus ablehne, da das Verharren in der Community mehr Privilegien verspreche. So werde in der abschließenden Volte genau die Prämisse abgelehnt, die am Anfang aller Befreiungskämpfe stand.“(S. 101)
Eine Kritik an der Identitätspolitik, von der sich etliche der Kritisierten nicht angesprochen fühlen dürften. S. W. Politik
124 Stegemann, Bernd: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin: Matthes & Seitz, 2018. 206 S., € 18,- [D], 18,50 [A]
Neue Klassenpolitik
Die gegenwärtige Stärkung der Marktwirtschaft auf Kosten anderer Formen des Austausches in der Gesellschaft würde Karl Polanyi als dritte Welle der Marktdurchsetzung beschreiben. Nancy Fraser würde die Frage stellen, wo diesmal, wie bei den ersten beiden Wellen, die Gegenbewegung bleibt. Und sie würde meinen, dass es diesmal eine Dreierkonstellation gibt: Die Bewegung zugunsten des Marktes, zweitens die von Polanyi erwartete Reaktion zum Schutz der Gesellschaft vor dem Markt und drittens das Interesse, beim Zugang zum Markt nicht diskriminiert zu werden. Glucksmann und vor allem Stegemann kritisieren die Effekte der Bewegung derer, die den nicht-diskriminierten Zugang mit Hilfe von neuen Identitätskonstruktionen erkämpfen – auch um den Preis, dass diese essentialistisch würden und damit nicht mehr in einer Gesellschaft der Gleichen Platz finden.
Bernd Riexinger ist Vorsitzender der Partei „Die Linke“in Deutschland, kommt aus der Gewerkschaftsbewegung, und sieht diese Kritik an den neuen Emanzipationspolitiken ungern. Für ihn ist klar, dass nur ein Zusammenwirken von Bewegungen, die für Gleichstellung eintreten mit den hier als Emanzipationsbewegungen bezeichneten Gruppen, erfolgversprechend sein kann. „Während Bernd Stegemann unter anderem kritisiert, der Linksliberalismus habe die Klassenfrage zugunsten von Identitätsfragen verdrängt, trifft das einen rationalen Kern, aber führt doch in die Irre. (...) Die Aufgabe der Linken ist es nicht, den Einsatz für Minderheiten gegen die Klassenfrage auszuspielen, sondern Emanzipationskämpfe der
„Die Professoren machen sich keine Gedanken über Ungleichheit, solange diese nicht durch Diskriminierung verursacht wird. Wir machen uns große Sorgen darüber, ob Frauen im Mathematikunterricht fair behandelt werden, aber wir kümmern uns nicht um den Lohn der Frauen, die unsere Büros putzen.“(W. B. Michaels in 126 , S. 41)
Menschen zu unterstützen und in der gesellschaftlichen Debatte die Grenze des Liberalismus deutlich zu machen: Formale Rechte sind noch lange nicht materiell verwirklicht – und sie können unter den gegebenen neoliberalen und kapitalistischen Bedingungen eben nicht für alle verwirklicht werden.“(S. 89) „Die Kämpfe gegen rassistische Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberecht von Verfolgten und für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung gehen nicht nur die Betroffenen an. Sie sind Teil des Klassenkampfes – der einen wie der anderen Seite.“(S. 91) Riexinger meint, dass die Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht überschätzt werden dürfe, Herausforderungen würden viele wieder in ähnliche Situationen bringen. Man denke an die Digitalisierung, die in vielen Lebensbereichen und Branchen dieselben Herausforderungen aufwerfe. Riexinger sucht das verbindende Programm und schlägt ein neues Normalarbeitsverhältnis vor. Dieses solle ein gutes Leben ermöglichen, Zukunftsplanung erlauben, Arbeit dabei nicht wichtiger als das Leben sein; die Arbeit solle gerecht verteilt sein und somit Dauerstress und Erwerbslosigkeit verhindern und in demokratische Strukturen eingebettet sein. (S. 131ff.) S. W. Solidarität 125 Riexinger, Bernd: Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen. Hamburg: VSA, 2018. 158 S., € 14,80 [D], 15,30[A]
Jacobin
Ein politisches Magazin in den USA erweckt derart viel Aufsehen, dass in der Edition Suhrkamp wenige Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen, eine Anthologie mit verschiedenen Texten erscheint. Es handelt sich um „Jacobin“, das im Umfeld der Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders Aufmerksamkeit erfuhr. In der Anthologie sind sehr verschiedene Texte zusammenfasst. Von einem Interview mit Walter Benn Michael über Identitätspolitik, über einen Text zur Aktualität Karl Marx‘ bis hin zu einem Text von Peter Frase über „Vier Zukünfte“.
Das bereits erwähnte Interview mit Walter Benn Michaels vermittelt einen Einstieg in das Denken des Autors von „The Trouble with Diversity“, das 2006 erschienen ist und in den USA viel diskutiert wurde. „In gewissem Sinn erfordert der Internationalismus des neoliberalen Prozesses also eine Form des Antirassismus, und der Neoliberalismus hat in zweierlei Hinsicht tatsächlich sehr guten Gebrauch von der Form des Antirassismus gemacht, den wir entwickelt haben, das heißt vom Multikulturalismus. (...) Die Essenz der Antwort ist eben, dass die Internationalisierung, die neue Mobilität von Kapital und Arbeit, einen Antirassismus hervorgebracht hat, der nicht dem Widerstand gegen oder auch nur der Kritik am Kapital, sondern dessen Legitimierung dient.“(S. 27f.) Eine grundlegende Kritik der Verhältnisse komme nicht mehr vor, vor allem nicht in linken akademischen Kreisen. „Die Professoren machen sich keine Gedanken über Ungleichheit, solange diese nicht durch Diskriminierung verursacht wird. Wir machen uns große Sorgen darüber, ob Frauen im Mathematikunterricht fair behandelt werden, aber wir kümmern uns nicht um den Lohn der Frauen, die unsere Büros putzen.“(S. 41) Über die Zukunft befragt, vertritt Michaels die These, dass wir uns auf gleichberechtigte Ausbeutung zubewegen.
Vier Zukunftsbilder
In dem Text von Peter Frase über vier Zukünfte kombinierte dieser zwei Gegensatzpaare, Überfluss und Knappheit sowie Egalitarismus und Hierarchie zu vier Zukunftsbildern. Damit will er in Idealtypen die Optionen aufzeigen, zwischen denen die Zukunft oszilliert.
Erste Variante: Egalitarismus und Überfluss wäre Kommunismus. Dieses Modell denkt er unter anderem anhand des kommunistischen Charakters des Universums von Star Trek durch. Er warnt davor, dass dort die eine dominante Hierarchie, Vermögen, durch viele andere Hierarchien, wie zum Beispiel Reputationen, ersetzt werden könnte. Zweite Variante: Hierarchie und Überfluss wäre „Rentismus“. Hier stelle sich das Problem, wie die ungleiche Gesellschaft stabilisiert werden könnte. Angesichts von Überfluss wäre Vollbeschäftigung schwierig herzustellen. Und es würde eine starke Ideologie nötig sein, um die Akzeptanz der Unterschiede zu argumentieren.
Dritte Variante: Egalitarismus und Knappheit wären Sozialismus. Grundeinkommen, wenn keine Überflussproduktion gegeben sei, führe zu Verteilungsnotwendigkeiten, die eines Staates bedürfen. Auseinandersetzungen seien vorprogrammiert, große Klassenkonflikte wären hingegen beseitigt. Und vierte Variante: Hierarchie und Knappheit wäre Extremismus. Hier würden die Konflikte durch Gewalt oder die Trennung der Gruppen der Gesellschaft (durch Auswanderung der Oberschicht zum Beispiel) „gelöst“werden.
Das Magazin gibt es auch im Internet. S. W.
Sozialismus
126 Jacobin. Die Anthologie. Hrsg. v. Loren Balhorn und Bhaskar Sunkara. Berlin: Suhrkamp, 2018.
314 S., € 18,- [D], 18,50 [A]