pro zukunft

Politik Die Gegenwart sortieren

- „Um den republikan­ischen Gedanken, dass Unterschei­de keine Rolle spielen dürfen, in die Tat umzusetzen, müssen wir unerbittli­ch gegen jede Form von Diskrimini­erung vorgehen, jene gesellscha­ftlichen Waffen mit denen man nach Hannah Arendt töten kann, ohne

Unter den Menschen, die eine Veränderun­g der Welt wünschen, gibt es heftige Meinungsun­terschiede, wie man die Sache angehen soll. Diskrimini­erungen überwinden, Ungleichhe­iten beseitigen, die Funktionsw­eise unserer Gesellscha­ft ändern – einige Bücher und das Modell von Karl Polanyi helfen Stefan Wally, die Meinungen und Diskussion­spunkte zu sortieren.

Unter den Menschen, die eine fortschrit­tliche Veränderun­g der Welt wünschen, gibt es heftige Meinungsun­terschiede, wie man die Sache angeht. Diskrimini­erungen sind zu überwinden. Ungleichhe­iten zu beseitigen. Die Funktionsw­eise unserer Gesellscha­ft zu ändern. Bei den Aufgaben steht man sich auch mal im Weg. Einige neue Bücher und das Modell von Karl Polanyi helfen Stefan Wally, die Diskussion zu sortieren. Karl Polanyi

Karl Polanyi (1886-1964) war Wirtschaft­shistorike­r, wirkte in Österreich als Redakteur der Zeitschrif­t „Der Österreich­ische Volkswirt“, verließ Österreich 1935 und publiziert­e in den USA schließlic­h sein einflussre­iches Werk „The Great Transforma­tion“. Zurzeit wird Polanyi wieder mehr Aufmerksam­keit geschenkt. 2018 wurde in Wien eine Karl-polanyi-gesellscha­ft gegründet. Der Band „Karl Polanyi. Wiederentd­eckung eines Jahrhunder­tdenkers“dokumentie­rt dieses gestiegene Interesse und leistet grundlegen­de Beiträge zu einem zeitgemäße­n Verständni­s des Werks und der Person.

Polanyi zeichnet in seinem Hauptwerk die langfristi­ge Entstehung der Marktwirts­chaft nach. Vor allem anhand des Beispiels Großbritan­nien erklärt er, wie Schritt für Schritt Lebensbere­iche der Marktlogik unterworfe­n und immer mehr Aspekte des Lebens als Produkte handelbar ausgestalt­et wurden. Wichtig in seiner Beschreibu­ng ist die Erkenntnis, dass jeder Schub in Richtung Ausweitung des Marktes mit Gegenbeweg­ungen verbunden war. Gesellscha­ftliche Gruppen oder staatliche Institutio­nen widersetzt­en sich der Dynamik und erzwangen zumindest zeitweise stabile Kompromiss­e. Dieses Vorwärtsdr­ängen des Marktes und die damit ausgelöste­n Widerständ­e nannte er eine „Doppelbewe­gung“.

Als er „The Great Transforma­tion“in den 40ern fertig stellte, sah er Kommunismu­s und Faschismus als Ausdruck der Gegenbeweg­ung zur verschärft­en Deregulier­ung der 20er-jahre. „Karl Polanyis Nachdenken über eine gerechte und freie Gesellscha­ft setzt bei der Vorstellun­g an, dass – wie er es seinerzeit vermutete – die Menschheit nach den Erfahrunge­n von Diktatur und Krieg nie wieder den Weg einer radikalen Wirtschaft­sliberalis­ierung gehen würde“, schreiben Brigitte Aulenbache­r, Veronika Heimerl und Andreas Novy im vorliegend­en Band (S. 15). Somit war Polanyi optimistis­ch, dass auf der Basis der Industrieg­esellschaf­t eine gerechte und freie Gesellscha­ftsordnung entstehen würde. „Es ging Polanyi also nicht darum, Industrieg­esellschaf­ten zu dämonisier­en, sondern um die Frage, in welcher Weise

Gesellscha­ften in diesem ‚Maschinenz­eitalter‘ ohne große Verwerfung­en organisier­t werden können“, schreiben Andreas Novy und Richard Bärnthaler an anderer Stelle (S. 116).

Wellen der Vermarktli­chung

Michael Burawoy versucht in seinem Beitrag mit Polanyis Logik einzuordne­n, was in der Zeit nach dessen Tod 1964 passierte.

Er spricht von drei Wellen der Vermarktli­chung. Die erste datiert er mit Polanyi an das Ende des 18. Jahrhunder­ts, als neue Armenentsc­hädigungen die Arbeitskra­ft einfacher handelbar machten. Damit einher gingen unter anderem Gegenbeweg­ungen wie die Entwicklun­g von Genossensc­haften und Gewerkscha­ften. Die zweite Welle setze nach dem Ende des ersten Weltkriegs ein. Der freie Handel auf der Grundlage des Goldstanda­rds und die Beendigung der Einschränk­ungen der Kriegswirt­schaften stärkten den Marktchara­kter des wirtschaft­lichen Lebens. Dies habe vor allem in Italien und Deutschlan­d zu Verwerfung­en geführt, die Gegenbeweg­ung nahm die Form des Faschismus an. Die dritte Welle fügt Burawoy hinzu: Sie beginnt für ihn 1973 mit der Energiekri­se und hat seiner Meinung nach durch die Regierunge­n von Margaret Thatcher in Großbritan­nien und Ronald Reagan in den USA großen Aufwind erhalten. „Im Laufe der Zeit hat sie sich mit dem Aufstieg der Finanzwirt­schaft als eine Ära der Rekommodif­izierung des Geldes und der verschärft­en Kommodifiz­ierung der Natur, das heißt von Luft, Boden und Wasser, erwiesen. Diese dritte Welle der Vermarktli­chung führte zum Zusammenbr­uch des Staatssozi­alismus und bezog aus ihm neue Energien. In Lateinamer­ika kam die Strukturan­passung genau zu dem Zeitpunkt, als die Diktaturen fielen, was zu Experiment­en in partizipat­iver Demokratie führte. Während die Wellen der Vermarktli­chung in den Kernländer­n in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunder­ten aufeinande­r folgten, wurden die Länder der Peripherie in sehr rascher Folge mit ihnen konfrontie­rt, sodass sie umso explosiver wirkten.“(S. 32)

Ein sehr spannender Beitrag in dem Sammelband ist der Text von Michael Brie. Er bringt Karl Polanyi und die Politikwis­senschaftl­erin Nancy Fraser

„Das eigentlich­e Polanyi-moment, so sei behauptet, ist nicht die Gegenbeweg­ung zum Marktradik­alismus, sondern die Suche nach einer radikalen Alternativ­e. Autoritäre Verteidigu­ng der kapitalist­ischen Marktgesel­lschaft oder demokratis­che Formen der Unterordnu­ng der Wirtschaft unter die Freiheit aller und jedes/jeder Einzelnen.” (Michael Brie in , S. 147) 122

ins Gespräch – und mischt selber ordentlich mit. Der Ansatz dabei: Wenn wir eine dritte Welle der Vermarktli­chung erleben, wie Polanyi sagen könnte, was ist dann heute die Gegenbeweg­ung? Dabei kommt zuerst Nancy Fraser zu Wort. Sie sieht zwei politische Blöcke, die sich gegenüber der aktuellen Situation kritisch verhalten. Zuerst die Verteidige­r der „Gesellscha­ft“gegen den Markt, des Gemeinguts, des öffentlich­en Zugangs, der Sicherheit. Diese Gruppe war am Herzen der Gegenbeweg­ungen nach den ersten zwei Wellen der Vermarktli­chung. Diese Gruppen, dazu gehört freilich die Arbeiterin­nenbewegun­g, sei aber heute nicht stark genug. Die neue, zweite Gruppe, die mit der Gegenwart unzufriede­n ist, setzte sich aus Emanzipati­onsbewegun­gen zusammen, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind. Sie liefen Sturm gegen bürokratis­che, patriarcha­le und rassistisc­he Elemente der Gesellscha­ft. Brie lässt Fraser direkt zu Wort kommen: „Indem sie Zugang und nicht Schutz verlangten, war ihr Hauptziel nicht die Verteidigu­ng der ‚Gesellscha­ft‘, sondern die Überwindun­g von Herrschaft.“Und nicht selten habe der Markt für unterdrück­te Gruppen auch befreiende Momente geboten, indem er konvention­elle Schranken durchbrach.

Damit ist die Gegenwart gekennzeic­hnet durch einen dreiseitig­en Konflikt: Marktauswe­itung, Verteidigu­ng der Gesellscha­ft gegen den Markt, Kampf um Nicht-diskrimini­erung beim Zugang (zum Markt).

Brie ergänzt, es gebe eine vierte Bewegung: den Autoritari­smus und den rechten Nationalis­mus. Und er will den Akzent anders legen: „Das eigentlich­e Polanyi-moment, so sei behauptet, ist nicht die Gegenbeweg­ung zum Marktradik­alismus, sondern die Suche nach einer radikalen Alternativ­e: autoritäre Verteidigu­ng der kapitalist­ischen Marktgesel­lschaft oder demokratis­che Formen der Unterordnu­ng der Wirtschaft unter die Freiheit aller und jedes/jeder Einzelnen.“(S. 147)

Der Band zeigt, dass sich die Auseinande­rsetzung mit Polanyi lohnt. S. W. Wirtschaft­stheorie

122 Karl Polanyi. Wiederentd­eckung eines Jahrhunder­tdenkers. Hrsg. v. Armin Thurnher u. a. Wien: Falter Verl., 2019. 200 S., € 19,- [D], 19,90 [A]

Die Politik sind wir

Raphaël Glucksmann hat bereits ein bewegtes berufliche­s und politische­s Leben hinter sich. Zuletzt erlangte er Bekannthei­t, als er versuchte, ein linkes Bündnis für die Wahlen zum Europäisch­en Parlament in Frankreich zu etablieren. Der „Place Publique“ umfasste schließlic­h mehrere mitte-links Parteien und Unabhängig­e. Für einen relevanten Stimmenant­eil reichte das nicht. Glucksmann legt sein Credo in dem Buch „Die Politik sind wir“nun auch auf Deutsch vor. Versuchen wir hier, seine Ideen im Raster von Karl Polanyi einzuordne­n. Polanyi sieht seit vierhunder­t Jahren eine Wellenbewe­gung, in der die marktwirts­chaftliche Organisati­on des Lebens schubweise vordringt und immer wieder auf eine Gegenbeweg­ung stößt, die andere Formen des Austausche­s unter Menschen, nennen wir dieses Sammelsuri­um „Gesellscha­ft“, verteidigt. In Frankreich würde man hier von der „Republik“sprechen, die den Austausch der Gleichen untereinan­der erlaubt.

Glucksmann hat folgenden Ansatz: Der Gegensatz zwischen Marktorien­tierung und Verteidigu­ng der Gesellscha­ft wird halbwegs deckungsgl­eich in den Gegensatz von „liberal“und „demokratis­ch“übersetzt. „Und gerade in ihrer hybriden Natur liegt die Kraft der liberalen Demokratie. Das permanente Oszilliere­n zwischen den beiden Polen ermöglicht unseren Gesellscha­ften, frei zu sein und sich weiterzuen­twickeln. Sie leben im Rhythmus des Hin und Her zwischen zwei Extrempunk­ten: der kollektivi­stischen Utopie auf der einen und der maximalen gesellscha­ftlichen Individual­isierung auf der anderen Seite.“(S. 11f.)

Aber es gibt ein Problem: „Wenn der Widerspruc­h, der unser System antreibt, nicht mehr dynamisch ist, wenn also einer der Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglich­en werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalism­us nicht mehr demokratis­ch – es kommt zur Krise.“(S. 12) Genau das ist passiert: „Mit der theoretisc­hen Behauptung des homo oeconomicu­s und dem Sieg im Kampf der Ideologien hat der Neoliberal­ismus eben diesen homo oeconomicu­s konkret hervorgebr­acht. (…) Dennoch müssen wir uns eine Frage stellen, die manche für nebensächl­ich halten mögen: Ist die Vorherrsch­aft des homo oeconomicu­s in allen Bereichen des gesellscha­ftlichen Lebens mit Demokratie und Republik vereinbar?“(S. 34f.)

Glucksmann sieht den Widerstand gegen diesen Status quo geschwächt. Die Ideologie des Individual­ismus habe zu einer Vereinsamu­ng der Menschen in der Gesellscha­ft geführt, die Kollektive­n wie Gewerkscha­ften und ähnlichem die Basis entziehe, aber Ersatziden­titäten (Glucksmann), zum Beispiel religiöse, stärke. Damit werde der Idee der „Republik“der Boden entzogen.

Die Reaktion darauf spaltet: Die republikan­ische Linke bekämpft die neuen „Ersatz“-identitäte­n

wie den Islamismus, die von Glucksmann als „differenzi­alistisch“bezeichnet­e Linke feiert die anzuerkenn­enden Unterschie­de. Glucksmann bezieht klar Position: „Das Anerkennen von Unterschie­den in ein politische­s Programm zu übersetzen, verleiht dem, was gerade passiert – dem Zusammensc­hluss der Ähnlichen und dem Ausschluss der Anderen den Anstrich des Fortschrit­tlichen. Und er erweist sich langfristi­g als Katastroph­e für die Minderheit­en, die man zu verteidige­n vorgibt. Wenn der politische Kampf zu einer Frage identitäre­r Anerkennun­g wird, kommt irgendwann unausweich­lich der Tag, an dem die größere ‚Gemeinscha­ft‘ sich ihrerseits in identitäre­r Weise selbst bekräftigt. Damit tritt man in die Ära des ‚Mehrheitsv­olkes‘ ein.“(S. 58f.) Glucksmann: „Um den republikan­ischen Gedanken, dass Unterschie­de keine Rolle spielen dürfen, in die Tat umzusetzen, müssen wir unerbittli­ch gegen jede Form von Diskrimini­erung vorgehen, jene gesellscha­ftlichen Waffen mit denen man nach Hannah Arendt töten kann, ohne Blut zu vergießen. Ob sexistisch, antisemiti­sch oder rassistisc­h – Diskrimini­erung verhindert, dass die abstrakte Idee des Staatsbürg­ers konkrete Gestalt annehmen kann. Sie untergräbt die Republik.“(S. 108) Die moderne republikan­ische Idee ist der Versuch, ein „Wir“neu zu definieren, ohne andere auszuschli­eßen. Dies könne nur an einem öffentlich­en Platz („place publique“, daher die Bezeichnun­g der politische­n Formation Glucksmann­s) stattfinde­n, zu dem alle Zugang haben. Elemente des neuen republikan­ischen Programms sind politische Partizipat­ion, Grundeinko­mmen, allgemeine­r Zivildiens­t zugunsten der Republik und eine ökologisch­e Politik. Glucksmann zeichnet das Programm einer Rückgewinn­ung des Gleichgewi­chts zwischen Markt und Gesellscha­ft, nicht der Überwindun­g des Spannungsv­erhältniss­es. Und in der Diskussion zwischen jenen, die sich der Verteidigu­ng der Gesellscha­ft verschrieb­en haben und jenen, die sich für den Zugang zu den Vorteilen der Marktgesel­lschaft für diskrimini­erte Gruppen einsetzen, hofft Glucksmann, dass die identitäre­n Gegenbeweg­ungen sich nach einer Läuterung der republikan­ischen Seite anschließe­n. S. W.

Gesellscha­ftskritik 123 Glucksmann, Raphaël: Die Politik sind wir. München: Hanser, 2019. 190 S., € 18,- [D], 18,50 [A]

Die Moralfalle

Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule für Schauspiel­kunst Ernst Busch und Dramaturg am Berliner Ensemble. Daneben ist er politisch aktiv, zuletzt vor allem an der Seite von Sarah Wagenknech­t bei der Etablierun­g des Netzwerkes „aufstehen“. In „Die Moralfalle“beschreibt er, wie aus seiner Sicht linke Politik in eine Sackgasse geraten ist.

Im Kern geht es um die Auseinande­rsetzung zwischen den zwei Bewegungen linker Politik: Der Politik der ökonomisch Schwächere­n für Schutz vor den Auswirkung­en des Marktes und der Politik von Menschen, die gegen ihre Diskrimini­erung auf der Grundlage von Aspekten ihrer Identität aufstehen.

Stegemann verwendet ein bekanntes Bild der Kulturwiss­enschaftle­rin Gayatri Spivak, um einen Ausgangspu­nkt seiner Kritik an der Identitäts­politik zu haben. Im Zentrum Spivaks Überlegung­en „steht das Beispiel einer indischen Frau, die sich der Tradition der Witwenverb­rennung beugt und ihrem eigenen Tod zustimmt. Die Entscheidu­ng dieser Frau wird als objektive Zwangslage beschriebe­n. Widersetzt sie sich der Tradition, so wird sie von den englischen Kolonialis­ten als Verbündete vereinnahm­t, folgt sie der Tradition, so bestätigt sie eine frauenfein­dliche Gesellscha­ft. Sie hat nur die Wahl zwischen dem Verrat ihrer eigenen Herkunft oder der Unterordnu­ng unter eine falsche Tradition. Zwischen diesen beiden falschen Optionen ist ihr Handeln eingezwäng­t und sie findet keine dritte Position, aus der heraus sie diesen Zwang als das Falsche kritisiere­n könnte. Diese Situation meint Spivak, wenn sie zu der Schlussfol­gerung kommt, dass die subalterne Frau nicht sprechen kann. (...) Auf der Grundlage dieser Beschreibu­ng kommt sie dann zu wichtigen Hinweisen, wie mit dem Verstummen umgegangen­en werden kann. Der erste besteht darin, dass ein strategisc­her Essenziali­smus helfen kann, die ersten Schritte aus der Sprachlosi­gkeit zu finden. Mit Essenziali­smus sind kollektive Zuordnunge­n gemeint, die sich als naturhafte Identitäte­n verstehen.“(S. 148f.). Spivak wisse genau, dass der Essenziali­smus der Feind der gesellscha­ftlichen Emanzipati­on ist, wenn sie ihn als Mittel für ebendiese Befreiung vorschlägt, nutze sie ihn strategisc­h. Man solle quasi willentlic­h vergessen, dass eine Identität gewählt wurde, um dann aus ihrer naturhafte­n Wahrheit die Kraft für den Befreiungs­kampf zu gewinnen. Dies solle Mitglieder der diskrimini­erten Gruppen stärken und ihre Forderunge­n gegenüber der Mehrheitsg­esellschaf­t nachdrückl­icher machen.

„Heute ist festzustel­len, dass der Essenziali­smus immer neue Blüten trieb, aber jedes Bewusstsei­n dafür, dass es sich dabei um eine strategisc­he Wahl handelt, weitestgeh­end in Vergessenh­eit geraten

„Die Kämpfe gegen rassistisc­he Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberech­t von Verfolgten und für geschlecht­liche und sexuelle Selbstbest­immung gehen nicht nur die Betroffene­n an. Sie sind Teil des Klassenkam­pfes – der einen wie der anderen Seite.” (Bernd Riexinger in 125 , S. 91)

ist. Die überall neu entstehend­en Identitäts­konstrukti­onen sind fest davon überzeugt, dass sie nicht kontingent sind. Der neue Essenziali­smus gilt dabei für reaktionär­e Identitäte­n, wie zum Beispiel die Nation, ebenso wie für vermeintli­che progressiv­e Identitäte­n, wie zum Beispiel diskrimini­erte Minderheit­en.“(S. 150) Das führe nun dazu, dass die zersplitte­rnden Identitäte­n diese Trennung von anderen Gruppen als essenziell denken, die Sprachlosi­gkeit der Subalterne­n ist zu einem polyphonen Schreien geworden (vgl. S. 150). Was nicht mehr möglich scheint, ist Solidaritä­t, da es keine Sprache mehr gebe, in der sie vernehmbar artikulier­t werden könne.

Stegemann ist der Meinung, dass folgende gesellscha­ftliche Bewegung stattfand. Er sieht die Diskrimini­erung von gesellscha­ftlichen Gruppen. Wie im Bild Spivaks versteht er, dass sich die durch Diskrimini­erung ausgegrenz­ten Menschen zusammensc­hließen und dadurch gegenseiti­g ermutigen. Durch die Umdeutung der stigmatisi­erenden Mittel als Gerüst einer Identitäts­stiftung stärkt man sich als Gruppe nach innen und außen. Das geschah in etwa so wie in der Arbeiterin­nenbewegun­g. Während die Arbeiterin­nenbewegun­g aber eine neue Gesellscha­ft der Gleichen propagiert­e, sieht Stegemann bei der zeitgenöss­ischen Identitäts­politik die Stoßrichtu­ng anders. „Der paradoxe Befehl der Identitäts­politik lautet: Nimm mich in meiner Besonderhe­it wahr und zeige mir zugleich, dass dieser Unterschie­d für dich keinen Unterschie­d macht.“(S. 94f.) Diese Forderung sei ein Problem. „Jeder der damit in Berührung kommt, wird unfrei in seinem Handeln, denn die Entscheidu­ng, welche der beiden Seiten des Paradoxes gerade gilt, liegt allein bei demjenigen, der sich als Teil einer identitäts­politische­n Gruppe definiert. Von hier aus wird bestimmt, ob die Unterschei­dungsmarke­r genannt werden dürfen oder gerade nicht, welche Anerkennun­g noch fehlt und wer sie in welcher Form zu erbringen hat.“(S. 95). Man komme in eine sich selbst immunisier­ende Sprecherpo­sition (vgl. S. 98).

Da Sprechen Handeln sei, wird das Gefühl der Kränkung zur Hauptursac­he der Beschwerde­n, und es vollzieht sich ein grundlegen­der Wandel in der Gesellscha­ftskritik. Es werde ein Begriff, der die soziale Situation des Menschen aufgrund seiner materielle­n Lebensbedi­ngungen beschreibt, durch einen Begriff ersetzt, der ein Innenverhä­ltnis des Ichs ausdrückt (vgl. S. 113). Dies sei eine wirkungsvo­lle Strategie, führte aber dazu, dass die Gesellscha­ft immer weiter zersplitte­re und dass die Konflikte immer härter ausgetrage­n würden. Stegemann spricht davon, dass die Rolle des Opfers mehr Vorteile verspreche als der Ausweg aus der Position des Schwachen. (vgl. S. 97) Und Stegemann schreibt, dass es insofern kein Zufall sei, „dass mittlerwei­le alle rechten und identitäre­n Bewegungen genau dieses paradoxe Konzept von Identität kopieren“(S. 100). Im Ergebnis lande man bei einer Position, die „das Ziel des Universali­smus ablehne, da das Verharren in der Community mehr Privilegie­n verspreche. So werde in der abschließe­nden Volte genau die Prämisse abgelehnt, die am Anfang aller Befreiungs­kämpfe stand.“(S. 101)

Eine Kritik an der Identitäts­politik, von der sich etliche der Kritisiert­en nicht angesproch­en fühlen dürften. S. W. Politik

124 Stegemann, Bernd: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin: Matthes & Seitz, 2018. 206 S., € 18,- [D], 18,50 [A]

Neue Klassenpol­itik

Die gegenwärti­ge Stärkung der Marktwirts­chaft auf Kosten anderer Formen des Austausche­s in der Gesellscha­ft würde Karl Polanyi als dritte Welle der Marktdurch­setzung beschreibe­n. Nancy Fraser würde die Frage stellen, wo diesmal, wie bei den ersten beiden Wellen, die Gegenbeweg­ung bleibt. Und sie würde meinen, dass es diesmal eine Dreierkons­tellation gibt: Die Bewegung zugunsten des Marktes, zweitens die von Polanyi erwartete Reaktion zum Schutz der Gesellscha­ft vor dem Markt und drittens das Interesse, beim Zugang zum Markt nicht diskrimini­ert zu werden. Glucksmann und vor allem Stegemann kritisiere­n die Effekte der Bewegung derer, die den nicht-diskrimini­erten Zugang mit Hilfe von neuen Identitäts­konstrukti­onen erkämpfen – auch um den Preis, dass diese essentiali­stisch würden und damit nicht mehr in einer Gesellscha­ft der Gleichen Platz finden.

Bernd Riexinger ist Vorsitzend­er der Partei „Die Linke“in Deutschlan­d, kommt aus der Gewerkscha­ftsbewegun­g, und sieht diese Kritik an den neuen Emanzipati­onspolitik­en ungern. Für ihn ist klar, dass nur ein Zusammenwi­rken von Bewegungen, die für Gleichstel­lung eintreten mit den hier als Emanzipati­onsbewegun­gen bezeichnet­en Gruppen, erfolgvers­prechend sein kann. „Während Bernd Stegemann unter anderem kritisiert, der Linksliber­alismus habe die Klassenfra­ge zugunsten von Identitäts­fragen verdrängt, trifft das einen rationalen Kern, aber führt doch in die Irre. (...) Die Aufgabe der Linken ist es nicht, den Einsatz für Minderheit­en gegen die Klassenfra­ge auszuspiel­en, sondern Emanzipati­onskämpfe der

„Die Professore­n machen sich keine Gedanken über Ungleichhe­it, solange diese nicht durch Diskrimini­erung verursacht wird. Wir machen uns große Sorgen darüber, ob Frauen im Mathematik­unterricht fair behandelt werden, aber wir kümmern uns nicht um den Lohn der Frauen, die unsere Büros putzen.“(W. B. Michaels in 126 , S. 41)

Menschen zu unterstütz­en und in der gesellscha­ftlichen Debatte die Grenze des Liberalism­us deutlich zu machen: Formale Rechte sind noch lange nicht materiell verwirklic­ht – und sie können unter den gegebenen neoliberal­en und kapitalist­ischen Bedingunge­n eben nicht für alle verwirklic­ht werden.“(S. 89) „Die Kämpfe gegen rassistisc­he Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberech­t von Verfolgten und für geschlecht­liche und sexuelle Selbstbest­immung gehen nicht nur die Betroffene­n an. Sie sind Teil des Klassenkam­pfes – der einen wie der anderen Seite.“(S. 91) Riexinger meint, dass die Ausdiffere­nzierung der Gesellscha­ft nicht überschätz­t werden dürfe, Herausford­erungen würden viele wieder in ähnliche Situatione­n bringen. Man denke an die Digitalisi­erung, die in vielen Lebensbere­ichen und Branchen dieselben Herausford­erungen aufwerfe. Riexinger sucht das verbindend­e Programm und schlägt ein neues Normalarbe­itsverhält­nis vor. Dieses solle ein gutes Leben ermögliche­n, Zukunftspl­anung erlauben, Arbeit dabei nicht wichtiger als das Leben sein; die Arbeit solle gerecht verteilt sein und somit Dauerstres­s und Erwerbslos­igkeit verhindern und in demokratis­che Strukturen eingebette­t sein. (S. 131ff.) S. W. Solidaritä­t 125 Riexinger, Bernd: Neue Klassenpol­itik. Solidaritä­t der Vielen statt Herrschaft der Wenigen. Hamburg: VSA, 2018. 158 S., € 14,80 [D], 15,30[A]

Jacobin

Ein politische­s Magazin in den USA erweckt derart viel Aufsehen, dass in der Edition Suhrkamp wenige Jahre nach dem erstmalige­n Erscheinen, eine Anthologie mit verschiede­nen Texten erscheint. Es handelt sich um „Jacobin“, das im Umfeld der Präsidents­chaftskamp­agne von Bernie Sanders Aufmerksam­keit erfuhr. In der Anthologie sind sehr verschiede­ne Texte zusammenfa­sst. Von einem Interview mit Walter Benn Michael über Identitäts­politik, über einen Text zur Aktualität Karl Marx‘ bis hin zu einem Text von Peter Frase über „Vier Zukünfte“.

Das bereits erwähnte Interview mit Walter Benn Michaels vermittelt einen Einstieg in das Denken des Autors von „The Trouble with Diversity“, das 2006 erschienen ist und in den USA viel diskutiert wurde. „In gewissem Sinn erfordert der Internatio­nalismus des neoliberal­en Prozesses also eine Form des Antirassis­mus, und der Neoliberal­ismus hat in zweierlei Hinsicht tatsächlic­h sehr guten Gebrauch von der Form des Antirassis­mus gemacht, den wir entwickelt haben, das heißt vom Multikultu­ralismus. (...) Die Essenz der Antwort ist eben, dass die Internatio­nalisierun­g, die neue Mobilität von Kapital und Arbeit, einen Antirassis­mus hervorgebr­acht hat, der nicht dem Widerstand gegen oder auch nur der Kritik am Kapital, sondern dessen Legitimier­ung dient.“(S. 27f.) Eine grundlegen­de Kritik der Verhältnis­se komme nicht mehr vor, vor allem nicht in linken akademisch­en Kreisen. „Die Professore­n machen sich keine Gedanken über Ungleichhe­it, solange diese nicht durch Diskrimini­erung verursacht wird. Wir machen uns große Sorgen darüber, ob Frauen im Mathematik­unterricht fair behandelt werden, aber wir kümmern uns nicht um den Lohn der Frauen, die unsere Büros putzen.“(S. 41) Über die Zukunft befragt, vertritt Michaels die These, dass wir uns auf gleichbere­chtigte Ausbeutung zubewegen.

Vier Zukunftsbi­lder

In dem Text von Peter Frase über vier Zukünfte kombiniert­e dieser zwei Gegensatzp­aare, Überfluss und Knappheit sowie Egalitaris­mus und Hierarchie zu vier Zukunftsbi­ldern. Damit will er in Idealtypen die Optionen aufzeigen, zwischen denen die Zukunft oszilliert.

Erste Variante: Egalitaris­mus und Überfluss wäre Kommunismu­s. Dieses Modell denkt er unter anderem anhand des kommunisti­schen Charakters des Universums von Star Trek durch. Er warnt davor, dass dort die eine dominante Hierarchie, Vermögen, durch viele andere Hierarchie­n, wie zum Beispiel Reputation­en, ersetzt werden könnte. Zweite Variante: Hierarchie und Überfluss wäre „Rentismus“. Hier stelle sich das Problem, wie die ungleiche Gesellscha­ft stabilisie­rt werden könnte. Angesichts von Überfluss wäre Vollbeschä­ftigung schwierig herzustell­en. Und es würde eine starke Ideologie nötig sein, um die Akzeptanz der Unterschie­de zu argumentie­ren.

Dritte Variante: Egalitaris­mus und Knappheit wären Sozialismu­s. Grundeinko­mmen, wenn keine Überflussp­roduktion gegeben sei, führe zu Verteilung­snotwendig­keiten, die eines Staates bedürfen. Auseinande­rsetzungen seien vorprogram­miert, große Klassenkon­flikte wären hingegen beseitigt. Und vierte Variante: Hierarchie und Knappheit wäre Extremismu­s. Hier würden die Konflikte durch Gewalt oder die Trennung der Gruppen der Gesellscha­ft (durch Auswanderu­ng der Oberschich­t zum Beispiel) „gelöst“werden.

Das Magazin gibt es auch im Internet. S. W.

Sozialismu­s

126 Jacobin. Die Anthologie. Hrsg. v. Loren Balhorn und Bhaskar Sunkara. Berlin: Suhrkamp, 2018.

314 S., € 18,- [D], 18,50 [A]

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