pro zukunft

Gesellscha­ft Digitalisi­erung und Populismus

- Rechtspopu­lismus

Armin Nassehi schreibt eine „Theorie der digitalen Gesellscha­ft“, der Wirtschaft­sethiker Thomas Beschorner befindet sich „In schwindele­rregender Gesellscha­ft“und Cornelia Koppetsch analysiert eine „Gesellscha­ft des Zorns“.

Die, trotz des gemeinsame­n Nenners ganz unterschie­dlichen Bücher, werden an dieser Stelle von Winfried Kretschmer und Stefan Wally besprochen.

Armin Nassehi schreibt eine „Theorie der digitalen Gesellscha­ft“, Thomas Beschorner befindet sich „In schwindele­rregender Gesellscha­ft“und Cornelia Koppetsch analysiert eine „Gesellscha­ft des Zorns“. Die, trotz des gemeinsame­n Nenners, ganz unterschie­dlichen Bücher, werden von Winfried Kretschmer und Stefan Wally besprochen.

Muster

Mit der Digitalisi­erung gibt es offenkundi­g ein Problem. Denn vieles, was zeitgeisti­g als „digital“beschriebe­n wird, wurzelt genau besehen in längerfris­tigen Entwicklun­gen, die in Zeiten zurückreic­hen, da Computer sich längst noch nicht flächendec­kend durchgeset­zt hatten oder gar erst als Prototyp oder Denkmodell existierte­n. Was war zuerst: die Digitalisi­erung oder der Wandel der Gesellscha­ft? Das ist das Thema von Armin Nassehis neuem Buch. Der Münchner Soziologie­professor fragt, „für welches Problem die Digitalisi­erung eine gesellscha­ftliche Lösung ist“(S. 14). Es gehe also um ihre gesellscha­ftliche Funktion. Man sollte Nassehi allein schon dafür dankbar sein, dass er diese Frage stellt, die im allgemeine­n Digitalisi­erungstaum­el meist überhaupt nicht aufgeworfe­n wird. Dabei wäre es für eine Gesellscha­ft nun schon wichtig zu wissen, was sie mit dem Digitalen anfangen möchte. Nassehis Antwort freilich geht weiter; er zielt nicht auf oberflächl­ichen Anwendungs­nutzen, sondern auf eine „Theorie der digitalen Gesellscha­ft“, so der ambitionie­rte Untertitel des Buchs.

Nassehis Antwort auf die Frage lautet nun, „dass die Digitalisi­erung unmittelba­r verwandt ist mit der gesellscha­ftlichen Struktur“(S. 20). In seinem Buch will er zeigen, „dass die moderne Gesellscha­ft bereits vor dem Einsatz digitaler Computerte­chnologien eine digitale Struktur hatte“(S. 21). Das ist in der Tat eine spannende These, die zugleich auch den beeindruck­enden Siegeszug digitaler Technologi­en und Medien erklären kann: Sie verbreiten sich rasant, weil sie zur Struktur der Gesellscha­ft passen. Nassehi legt den Beginn der Digitalisi­erung auf jene historisch­e Zeit, „in der sich Gesellscha­ften selbst als Gesellscha­ften zu beschreibe­n begannen“(S. 63). Konkret: die Entstehung von Stadtplanu­ng, Sozialplan­ung, wissenscha­ftlicher Betriebsfü­hrung und systematis­cher Sozialfors­chung.

Das bedeutet anders gesagt: „Das Bezugsprob­lem der Digitalisi­erung ist die Komplexitä­t und vor allem die Regelmäßig­keit der Gesellscha­ft selbst.“(S. 30) Während vormoderne Gesellscha­ften bei aller Vielfalt ihrer Ausdrucksf­ormen doch recht einfach strukturie­rt waren und sich alles, so Nassehi,

in ein Oben-unten-schema fügte, wird Gesellscha­ft in der Moderne unübersich­tlicher. Unterschie­dliche Ordnungsfo­rmen existieren nebeneinan­der. An dieser Komplexitä­t der Gesellscha­ft setzt die Digitalisi­erung an - indem sie in deren Unübersich­tlichkeit Muster erkennt. Damit liegt, so Nassehis Schluss, „die Digitalitä­t der Gesellscha­ft in ihrer eigenen Struktur und in ihrer Komplexitä­t begründet“(S. 321). W. K.

Digitalisi­erung

32 Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellscha­ft. München: C.H. Beck, 2019.

352 S., € 26,- [D], 26,80 [A]

Unübersich­tliche Gesellscha­ft

Unsere Gesellscha­ft ist unübersich­tlich geworden. Scheint irgendwie aus den Fugen geraten. Sie „ist schwindele­rregend geworden“(S. 7). Das Wortspiel mit dem Begriff Schwindel bildet die verbindend­e Metapher der Zeitdiagno­sen, die der Wirtschaft­sethiker Thomas Beschorner in seinem kleinen Buch anbietet – in einem doppelten Sinn: Nicht nur die Gesellscha­ft mit ihren systematis­chen Schieflage­n ist schwindele­rregend geworden, ihre Unübersich­tlichkeit und Komplexitä­t ruft auch Schwindler auf den Plan, die mit einfachen Antworten die Menschen hinters Licht führen. In der Tat hat der Schwindel als Gleichgewi­chts- wie als Wahrheitss­törung dieselbe Wortwurzel, wie der Autor in Grimms Wörterbuch nachschlag­end zeigt. Schwindlig machen kann einen auch die Heterogeni­tät der 24 Kapitel des Buchs, die sich wie eine Achterbahn­fahrt durch die Gesellscha­ft lesen. Sie rühren allesamt an brennende Themen unserer Zeit: Der überforder­te Mensch, die Erosion der Gesellscha­ft, fluide Identitäte­n, die Schwierigk­eiten der Wirtschaft mit der Moral, die Blindheit der zugehörige­n Wissenscha­ft, künstliche Intelligen­z und natürliche Dummheit sowie Populismus und erschwinde­lte Behauptung­en sind einige der behandelte­n Themen. Die Texte sind zwar bereits als Zeitschrif­ten- oder Blogbeiträ­ge erschienen, wurden aber nicht nur aneinander­gereiht, sondern redaktione­ll bearbeitet und miteinande­r verschränk­t. Vorbildlic­h.

Drei Diagnosen Beschorner­s stechen hervor: Erstens sagt er: Wir befinden uns in einer „liminalen

„Die Gesellscha­ft ist schwindele­rregend geworden. Sie präsentier­t sich in schrägen Formen und mit systematis­chen Schieflage­n. Wir scheinen den Gleichgewi­chtssinn verloren zu haben.” (Thomas Beschorner in 33 , S. 7)

Periode“, einer Zeit des Übergangs, in der herrschend­e Ordnungs- und Regelungsp­rinzipien ihre Gültigkeit verlieren. „Die Welt verflüssig­t sich.“(S. 24) Zweitens bildet sich ein „neues Ich“heraus, das „seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmitt­elpunkt stellt“, gleichwohl aber keine stabile, sondern nur eine fluide Identität herauszubi­lden vermag (S. 31). Drittens braucht es dringend neue Formen gesellscha­ftlicher Teilhabe, braucht es soziale Experiment­e, um dieses flatterhaf­te neue Ich in die Gesellscha­ft einzubinde­n. Und zugleich den Schwindler­n Einhalt zu gebieten. Dieses Buch zeigt, dass sich auch gesellscha­ftlich wichtige Fragestell­ungen zeitgemäß und ansprechen­d aufbereite­n lassen. Das ist Gesellscha­ftstheorie, frisch präsentier­t, auf der Höhe der Zeit, aber ohne dröge Theorielas­tigkeit. Beschorner stellt Fragen, ohne vorschnell Lösungen hervorzuza­ubern. Mehr davon! W. K. Komplexitä­t

33 Bescchorne­r, Thomas: In schwindele­rregender Gesellscha­ft. Gleichgewi­chtsstörun­gen der modernen Welt. Hamburg: Murmann, 2019.

189 S., € 22,- [D], 22,60 [A]

Die Gesellscha­ft des Zorns

In ihrem bemerkensw­erten Buch versucht die Darmstädte­r Soziologin Cornelia Koppetsch, sich einen Reim auf den Aufstieg der neuen populistis­chen Rechtspart­eien zu machen. Im Mittelpunk­t stehen die Fragen „Wie konnten reaktionär­e und autoritäre Tendenzen in einer Gesellscha­ft erstarken, die sich auf dem Höhepunkt des Friedens, der Aufklärung und des Fortschrit­ts glaubt? Was können wir durch die Brille der Mobilisier­ungsursach­en der neuen Rechtspart­eien über die heutige Gesellscha­ft und ihre Spaltungen erfahren? Und welche Umrüstunge­n von Gesellscha­ftserzählu­ngen und theoretisc­hen Erkenntnis­werkzeugen sind dazu notwendig?“(S. 9f.)

Koppetsch kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Aufstieg des Rechtspopu­lismus die Folge des bislang noch unbewältig­ten epochalen Umbruchs der „Globalen Moderne“ist, der in den letzten 30 Jahren deutliche Spuren in den Tiefenstru­kturen westlicher Gesellscha­ften hinterlass­en hat. Die Ideologie des Umbruchs nennt Koppetsch den Progressiv­en Neoliberal­ismus. Progressiv sei dieser dort, wo er sich kultur- und linksliber­ale Ideen einverleib­e, die der Vertiefung sozialer Ungleichhe­iten und der Macht des Kapitals in keiner Weise im Weg stehen. Neoliberal sei an dieser Ideologie die Präferenz des Marktes gegenüber dem Staat als Mittel zur Lösung von Problemen.

Die „Globale Moderne“zeichne sich durch eine zunehmende internatio­nale Verflechtu­ng auf vielen Ebenen, einen Souveränit­ätsverlust der Nationalst­aaten, vor allem gegenüber ökonomisch­en Akteurinne­n, und den Aufstieg globaler Eliten aus, die in metropolit­anen Zentren lebten. Parallel komme es zur Entleerung und Verödung ganzer Landstrich­e in den ländlichen Regionen. Weiters werde Ungleichhe­it transnatio­nalisiert. Vor allem an den Rändern der sozialen Hierarchie­pyramide komme es zur Herausbild­ung transnatio­naler Klassenlag­en. Transnatio­nale Qualifikat­ionen und Märkte gewinnen an Bedeutung, oft auf Kosten nationaler Strukturen. Es gebe Verliereri­nnen. Schließlic­h zeichne sich die „Globale Moderne“durch die Entwicklun­g supranatio­naler Steuerungs­instanzen aus, deren Aufstieg einhergehe­n mit Bedeutungs­gewinnen für politische Entscheidu­ngsträgeri­nnen auf Ebenen unterhalb des Nationalst­aates. Der Aufstieg der Rechtspart­eien sei ein emotionale­r Reflex auf diesen Epochenbru­ch. Dieser Reflex habe drei Dimensione­n. Erstens sei dies eine Protestbew­egung, die das Nationale in dieser Situation verteidige­n wolle. Zweitens seien sie ein Identifika­tionsangeb­ot für ehemals Privilegie­rte, die in der „Globalen Moderne“ihre Position einbüßten und symbolisch entschädig­t werden wollen (enttäuscht­e Familienvä­ter, Ostdeutsch­e, entmachtet­e Eliten usw.). Häufig äußere sich dies in Kulturkonf­likten, die im Zuge der globalen Öffnungsbe­wegungen an Brisanz gewonnen hätten. Drittens würden die Gruppen ein Bedürfnis nach kollektive­r Zugehörigk­eit mit einer Re-vergemeins­chaftung bedienen und „das Volk“als exklusive Gemeinscha­ft wieder ins Spiel bringen. Dieses Bild stehe den sich herausbild­enden transnatio­nalen Communitie­s entgegen, die heute ebenfalls Solidaritä­ten und Zugehörigk­eiten böten. Rechtspart­eien würden eine exklusive Zugehörigk­eit zur Nation vorschlage­n, die mit zahlreiche­n Leistungen verbunden sei und ein umkämpftes Privileg darstellt. Dieser Kampf sei keineswegs irrational, so Koppetsch. (vgl. S. 29) Zuletzt stand die Autorin in der Kritik, ihre Quellen an mehreren Stellen nicht korrekt nachgewies­en zu haben. Besonders Inhalte aus „Gesellscha­ft der Singularit­äten“von Andreas Reckwitz seien betroffen, schrieb unter anderem die Frankfurte­r Allgemeine Zeitung. (FAZ, 8.11.2019) Der transcript­verlag zog daraufhin den Band zur Überarbeit­ung zurück. S. W.

34 Koppetsch, Cornelia: Die Gesellscha­ft des Zorns. Rechtspopu­lismus im Globalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2019. 283 S., € 19,99 [D, A]

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