Tranformative Ideen und Ansätze
Welche Expertinnen die Wirtschaftspolitik beraten, welche Think Tanks die öffentlichen Debatten bestimmen und wie Wirtschaft an den Universitäten gelehrt wird, hat wesentlichen Einfluss auf unser Leben. Der Ruf nach einer pluralen Ökonomik, die unterschiedliche Theorieansätze berücksichtigt, wird lauter. Einige Publikationen zur Thematik werden nachfolgend kritisch analysiert.
Christian Felber This is not Economy
Die wachsende Unzufriedenheit von Studierenden mit der orthodoxen wirtschaftswissenschaftlichen Lehre, die im Jahr 2000 ausgerechnet an der Pariser Eliteuniversität Sorbonne mit der Kritik an einer „autistischen Wirtschaftswissenschaft“ihren Ausgang nahm, ist der Ausgangspunkt von Christian Felbers Kritik an den Wirtschaftswissenschaften. Der Begründer der Gemeinwohlökonomie sieht in der sich naturwissenschaftlich gebenden Mathematisierung der Ökonomik sowie im Ausblenden pluralistischer Ansätze das Hauptproblem der akademischen Lehre sowie der die Politik und Öffentlichkeit beratenden Wirtschaftsinstitute.
Um die Wirtschaft zu verändern, müsse auch die Lehre über die Wirtschaft verändert werden, so Felber. Sein zentraler Kritikpunkt an der Neoklassik: der Glaube an die Gleichgewichtstheorie, also dass der Markt sich am besten selber regle. Alle unsere Krisen – von den Umweltkrisen bis hin zu den Finanzkrisen – würden jedoch belegen, dass dem nicht so ist, so Felber. Auch die angebliche Wertfreiheit der mit mathematischen Modellen operierenden neoklassischen Ökonomik kritisiert der Autor zahlreicher Bücher. Das Menschenbild vom nutzenmaximierenden egoistischen Wesen basiere nicht weniger auf Werten wie die Prinzipien von Konkurrenz und Wachstumsfixierung. In ihren Anfängen sei die Wirtschaftswissenschaft eine ethische Wissenschaft gewesen – Adam Smith sei Moralphilosoph gewesen – und es sei um Politische Ökonomie gegangen.
In seiner linguistischen Spurensuche geht Felber noch einen Schritt weiter, wenn er der herrschenden Lehre vorwirft, fälschlicherweise von „Ökonomie“zu sprechen, während „oikonomia“die Lehre vom Haushalt meine, die alle wirtschaftlichen Aktivitäten umfasse, auch und gerade die nicht monetär bewerteten. Was landläufig als Ökonomie bezeichnet wird, sei eigentlich „Chrematistik“, also die Lehre vom Geld machen, so Felber im Rekurs auf Aristoteles. Daher der Titel des Buches This is not Economy.
In fünf Abschnitten entfaltet Felber seine Bedenken gegen die herrschenden Wirtschaftswissenschaften. In „Panoptikum der Kritik“widmet er sich Aspekten wie der „Geschichtsund Kontextlosigkeit“(S. 13ff.), der „Mathematisierung“und Modellfixierung (S. 25ff.), dem „theoretischen Monismus“(S. 89ff.) sowie der „Interdisziplinaritätsresistenz“(S. 97ff.) der führenden ökonomischen Schulen. Felber scheut dabei sarkastische Töne nicht, wenn er etwa von „Gleichgewichtsmärchen“(S. 54ff.) oder der „Bildung von Egoisten“(S. 115ff.) spricht. Im zweiten Abschnitt „Radikale Amnesie“geht es um den Vorwurf der Verdrängung. Die herrschenden Wirtschaftswissenschaften hätten ihre Herkunft, ihren Namen und – damit zusammenhängend – ihr Ziel aus den Augen verloren – aus Sicht des Autors das gute Leben für alle oder eben eine am Gemeinwohl orientierte Ökonomie, die auch so in zahlreichen Verfassungen festgeschrieben sei.
Über den politische Einfluss der Mainstream-wirtschaftswissenschaften
Im dritten Abschnitt widmet sich Felber dann dem politischen Einfluss der Mainstreamwirtschaftswissenschaften – er spricht von „Econocracy“, einer „Herrschaft der Ökonomen“(S. 176). Hier finden auch Seitenhiebe gegen den Wirtschaftsnobelpreis, der eigentlich gar kein Nobelpreis, sondern ein „Reichsbankpreis“(S. 166) sei, sowie die Untersagung der österreichischen Schulbehörden einer Nennung des Autors in einem Wirtschaftskundelehrbuch Platz (aufgrund heftiger Proteste von Universitätsprofessoren musste Felbers Name aus dem Buch gestrichen werden; doch mittlerweile existiere ein weiteres Lehrbuch, in der auf seinen Namen und die Gemeinwohlökonomie Be
zug genommen werde, so der Autor, der an der Wirtschaftsuniversität Wien seinen Lehrauftrag verloren, dafür aber solche an mehreren anderen Instituten sowie eine Forschungsstelle am IASS Potsdam erhalten hat).
Kapitel vier widmet sich „zentralen Glaubensinhalten“: Wirtschaftswachstum als Ziel, egoistisches Menschenbild, Verabsolutierung von Wettbewerb, Ausspielen von Markt und Staat sowie schließlich Kritik am von gesellschaftlichen Verpflichtungen befreiten Eigentumsbegriff. Der Band schließt mit zwölf Vorschlägen für eine plurale Ökonomik und Lehre, darunter etwa ein „aristotelischer Eid für Ökonom*innen“(S. 264), der dazu verpflichtet, „mindestens zehn unterschiedliche Theorieschulen zu kennen.“(ebd.)
In seinen Ausführungen beruft sich Felber auf zahlreiche kritische Stimmen zu den Mainstream-wissenschaften, denen er (wieder) mehr Gehör verschaffen will, darunter John Maynard Keynes mit seiner Forderung nach ausgeglichenen Handelsbilanzen oder Walter Eucken mit dem Plädoyer für einen die Wirtschaft ordnenden Staat. Und er bezieht Forschungsergebnisse anderer Disziplinen wie der Anthropologie, Soziologie oder Gehirnforschung mit ein. Mit Umfrageergebnissen werden Aussagen empirisch untermauert.
Felber trifft die Schwachstellen und Auslassungen der herrschenden Wirtschaftswissenschaften und er fordert zu Recht eine „plurale Ökonomik“. Seine Bücher zur „Gemeinwohlökonomie“oder zum „Fairhandel“sind selbst bestens für die Lehre geeignet. Der in der hier besprochenen Abhandlung abschließend eingeführte Begriff einer „heiligen Wirtschaftswissenschaft“mag natürlich etwas irritieren (S. 255), auch wenn damit ein „holistischer“, also ganzheitlicher Ansatz gemeint ist. Die Publikation hat bereits heftige Reaktionen ausgelöst: Zustimmung durch Kolleginnen – Harald Welzer meint gar, das Buch werde Ökonomen weltweit in eine Sinnkrise stürzen, aber auch Anfeindungen jener, die kritisiert werden. Ein gutes Zeichen.
Theorieschulen bilden nicht nur Wirklichkeiten ab, sie können auch zu deren Legitimation dienen. Herrschendes Wissen wird so zu Herrschaftswissen. Sich verändernde Wirklichkeiten lassen jedoch neue Erklärungsmodelle entstehen – dies ist die Stärke der offenen Gesellschaft. Ihnen Geltung zu verschaffen, ist im Sinne eines Kuhn’schen Paradigmenwechsel auch Ziel des Buches von Christian Felber, ein „Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenshaften“. HH Christian Felber: This is not Economy Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft. Deuticke Verlag, Wien 2019; 302 S.
Irene Antoni-komar et al. (Hg.) Transformative Unternehmen
Dass Wissenschaft und Praxis einander besonders befruchten und zu neuen Ergebnissen führen können, beweist das Forschungsprojekt „nascend“an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Geleitet wurde es von Irene Antonikomar, Cordula Krupp, Reinhard Pfriem und Niko Paech, den Herausgebern der gleichnamigen Publikation. In Zusammenarbeit mit Praxispartnerinnen, Genossenschaften, Initiativen der Solidarischen Landwirtschaft oder neuen Finanzierungsmodellen, wurden Möglichkeiten untersucht, wie Nischenunternehmen in der Ernährungswirtschaft stabilisiert werden und an Breite gewinnen können. Ausgehend von einem Diffusionsmodell, das von „pioneers“über „early adopters“hin zum „take off“für neue Mehrheiten („late majority“) verläuft, sollte herausgefunden werden, wie der Verdrängung von Kleinunternehmen durch Großbetriebe entgegengewirkt – also eine „alterative Diffusionslogik“(S. 366) – erreicht werden könne. Möglich sei dies durch den Zusammenschluss zu Verbänden beispielsweise von Erzeugerverbraucher-initiativen, Gemeinschaftsgärten oder Foodcoops; durch Franchise-modelle wie beim Projekt „Mietacker“oder durch Erfahrungsweitergabe und Erprobungsmöglichkeiten für Neu-interessierte.
Deutlich wurde auch, dass alternative Versorgungssysteme mehr sind als Wege der Nahrungsbeschaffung. So weisen Selbsternte- und Gemeinschaftsgärten beispielsweise auf die räumliche Nähe, Selbstwirksamkeitserfahrungen sowie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft hin (S. 371). Veranstaltungen wie Hoffeste oder Märkte dienen der Sichtbarmachung der Projekte, Flexibilität etwa in der Ausgestaltung von Foodcoops sollen den Bedürfnissen der Gruppe angepasst sein. Deutlich machen die untersuchten Projekte aber auch, dass neue Wege der Ernährungssouveränität ein verändertes Bewusstsein sowie andere Lebensstile erfordern, etwa im Umgang mit Zeit, die in solche Projekte investiert werden will.
Der Band informiert über die Forschungsergebnisse sowie die Typologie transformativer Unternehmen der Ernährungswissenschaft hinaus auch über Aspekte einer generellen Ernährungswende, etwa eine geänderte Agrarpolitik der EU, globale Perspektiven von Ernährungssouveränität oder Ernährungsdemokratie durch sogenannte Ernährungsräte. HH Irene Antoni-komar, Cordula Kropp, Niko Paech, Reinhard Pfriem (Hg.): Transformative Unternehmen und die Wende in der Ernährungswirtschaft Metropolis Verlag, Marburg 2019; 488 S.
Lars Hochmann et al. (Hg.) Möglichkeitswissenschaften
„Ökonomie mit Möglichkeitssinn“lautet das Motto einer Festschrift für Reinhard Pfriem von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zu dessen 70. Geburtstag. In Anlehnung an Robert Musils „Möglichkeitssinn“plädiert Pfriem für eine „Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft“, die selbstreflexiv, pluralistisch und Alternativen aufzeigend wirkt. In den insgesamt 39 Beiträgen des vom Wuppertal Institut, dem Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung und der Cusanus Hochschule herausgegebenen Bandes wird das Werk von Pfriem gewürdigt und der Ansatz einer Möglichkeitswissenschaft weitergedacht. Ein zentraler Begriff dabei ist Performativität, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Wirtschaftswissenschaft nicht einen Gegenstand, nämlich die Wirtschaft erforscht und in Modellen abbildet, sondern je nach Ausrichtung Aspekte von Wirtschaft hervorbringt. Ökonomik sei daher keine Naturwissenschaft, die Wirklichkeit in Modellen abbildet, sondern eine Disziplin, die Wirklichkeiten konstruiert. Dies zu bedenken, sei Aufgabe selbstreflexiver Wissenschaft. Daran knüpfen mehrere Autorinnen des Bandes mit dem Begriff der Kontingenz an, also der Möglichkeit und Notwendigkeit, aus mehreren Alternativen auswählen zu können und zu müssen. Auch dies erfordere Reflexivität, wie die Herausgeber um Uwe Schneidewind in der Einführung betonen: „Sich seiner mindestens impliziten normativen Orientierungen zu bekennen, wird zu einer fortwährenden Reflexions- und Rechtfertigungsfrage wissenschaftlicher Redlichkeit.“(S. 25)
Der Schwerpunkt der Beiträge liegt auf philosophisch-wissenschaftstheoretischen Abhandlungen. Thematisiert werden die Rolle von Wirtschaftswissenschaften als Gesellschaftswissenschaften, die Notwendigkeiten einer Neuausrichtung von Forschung und Lehre in der Betriebswirtschaft, der Managementlehre, des Marketing oder der Unternehmensberatung und Nachhaltigkeitsforschung, sowie der Kontext zu Politik und Demokratie, etwa in Ausführungen über die „Rechte der Natur“.
In Summe ein wichtiger Band, der jedoch auf hohem Abstraktionsniveau verharrt und damit vornehmlich dem innerwissenschaftlichen Diskurs dient. Agenda-setting für eine andere Wirtschaftspolitik wird eine deutlichere Sprache brauchen. HH Lars Hochmann, Silja Graupe, Thomas Korbun, Stephan Panther, Uwe Schneidewind (Hg.): Möglichkeitswissenschaften Ökonomie mit Möglichkeitssinn. Metropolis Verlag, Marburg 2019; 785 S.
Aus ideologiekritischer, radikaler Sicht können die Lehrbücher als Ausdruck und Abbild einer vorherrschenden, hegemonialen Marktapologie verstanden werden.
Helge Peukert Mikroökonomie
„Wissenschaft oder Ideologie?“so untertitelt Helge Peukert seine Studie über mikroökonomische Lehrbücher. Nicht weniger als 23 aktuelle Theorieschulen benennt der Leiter des neuen Masterstudiengangs „Plurale Ökonomik“an der Universität Siegen, in dessen Rahmen das Forschungsprojekt durchgeführt wurde. Die Ansätze reichen von der Neoklassik und dem Monetarismus über den Neukeynesianismus und den Postkeynesianismus bis hin zur Regulationstheorie, dem Ordoliberalismus, dem Marxismus, der Ökologischen Ökonomie und der Feministischen Ökonomie. In der Folge konzentriert sich der Autor auf zwei Diskursstränge, Ansätze, die er dem „Mainstream“zuordnet und jene der „Heterodoxie“. Beide Theorieschulen unterscheiden sich in Bezug auf die Beschreibung von Märkten (etwa Gleichgewichtstheorie versus Regulationstheorie), dem Menschenbild (etwa rational berechnender „Homo oeconomicus“versus „Homo duplex“, der utilitaristische und altruistische Seiten hat), die Rolle des Staates (möglichst wenig Eingriffe versus wirtschaftspolitische Steuerung), die Funktion des Geld- und Finanzsystems (neutrales Medium versus Machtinstrument) oder die Bedeutung nicht am Markt erbrachter wirtschaftlicher Aktivitäten wie Care-arbeit (Negation versus Berücksichtigung).
Zwei Denkschulen im Vergleich
Die beiden Denkschulen weisen selbstredend unterschiedliche Schattierungen auf – Peukert spricht von „Mainstream I“und „Mainstream II“; als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal benennt der Autor dabei das Wissenschaftsverständnis: während sich die einen als naturwissenschaftlich-mathematisch verstehen, sehen die anderen die Ökonomik als sozialwissenschaftliche Disziplin, die als solche plural bzw. heterodox angelegt sein muss, da es keine wertneutral-objektiven Aussagen gäbe. „Pluralismus ist unser Schicksal.“(S. 53)
Als analytischen Rahmen stellt Peukert jeweils elf Grundannahmen bzw. Charakteristika beider Denkschulen heraus (die er mit „M1M11“für den Mainstream und „H1-H11“für die Heterodoxie kennzeichnet). Zwei Beispiele: Während sich im Mainstream die Volkswirtschaftslehre vor allem „mit dem Studium von freiwilligen Wahlhandlungen (Konsumentensouveränität) unter Knappheitsbedingungen“(S. 32) befasst, thematisierten, so Peukert, die heterodoxen Ansätze insbesondere die „soziale Versorgung (social provisioning) einschließlich der Befriedigung basaler physischer Bedürfnisse für alle.“(S. 43) Das primäre Ziel der Neoklassik
seien „allokative Effizienz und Bip-wachstum“als „Garanten für Wohlstand und Wohlbefinden“(S. 33), in der pluralen Ökonomik würden neben materiellen Konsumbedürfnissen auch nichtmaterielle Bedürfnisse, wie eine „verantwortungsvolle, partizipative Regierungsführung“oder ein „soziales Sicherungsnetz, Gesundheit für alle, kulturelle und ökologische Diversität und Resilienz“(S. 46) eine wichtige Rolle spielen.
Gibt es nur zwei Standardwerke?
Diese Grundannahmen der Denkschulen liegen der Untersuchung der Lehrbücher zugrunde. An den meisten Universitäten im englischsprachigen, aber auch im deutschsprachigen Raum werden nur zwei Bücher verwendet: Grundzüge der Mikroökonomik von Hal Varian, der neben seiner Lehrtätigkeit auch Chefökonom von Google ist, und Mikroökonomie der mittlerweile über 70 Jahre alten Us-ökonomen Robert Stephen Pindyck und Daniel Lee Rubinfeld. Detailreich werden beide Standardwerke auf ihre Grundaussagen geprüft, aber auch die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen der Autoren beleuchtet. Das Fazit: Beide Werke sind strikt dem neoliberalen, mathematisch ausgerichteten Denkgebäude verhaftet, pluralistische Ansätze werden kaum bis gar nicht zur Diskussion gestellt. Peukert geht noch einen Schritt weiter, wenn er vielen Passagen der Werke Unwissenschaftlichkeit vorwirft, in denen die „Kunst der Rhetorik“(S. 315) vor Plausibilität gehe.
Die Studie gibt einen ausgezeichneten Analyseraster, der etwa auch für Schulbücher in etwas vereinfachter Form, angewendet werden könnte. Aufschlussreich sind auch die Ausführungen über das Funktionieren der monopolistischen Lehrbuchmärkte, die mit freier Wahl der Lehrenden wenig zu tun haben. Der Band schließt mit Vorschlägen für eine pluralistische Mikroökonomik, der es darum geht, unterschiedliche Denkansätze transparent und damit auch diskutierbar zu machen. Dazu zählen für Peukert ganz grundsätzliche Fragen wie das Verhältnis zu Eigentumsrechten, die Definition menschlicher Bedürfnisse oder die Sichtweise auf Wirtschafts- oder Staatsversagen (S. 333f.), methodische Fragen wie „quantitativer Formalismus versus gleichberechtigte qualitative und narrativ-hermeneutische Verfahren“(S. 335), die Einschätzung von Märkten und Institutionen sowie Aussagen zur Wirtschaftspolitik wie Nichthinterfragung der „natürlichen Ordnung“versus „Mut zu radikaleren Reformvorschlägen“(S. 33). HH Helge Peukert: Mikroökonomische Lehrbücher Wissenschaft oder Ideologie? Metropolis Verlag, Marburg 2019; 376 S.
Ungleichheit wird möglicherweise am stärksten innerhalb einer Gesellschaft oder Gemeinschaft spürbar. Aber ebenso wie unser Leben ist Ungleichheit eng mit der globalen Ökonomie verbunden, sodass die Herausforderung bei der Bekämpfung von Ungleichheit eine globale ist.
Karin Fischer et al. (Hg.) Globale Ungleichheit
Die 2.000 reichsten Menschen der Welt besitzen mehr als die ärmeren 4,6 Milliarden, so der neue Bericht der britischen NGO Oxfam, der zum Wirtschaftsforum in Davos Ende Januar 2020 erschienen ist. Ein zeitgleich publizierter Vertrauensindex kommt zum Ergebnis, dass von den 36.000 Befragten in 24 Ländern 54 Prozent, also mehr als die Hälfte angaben, der Kapitalismus schade mehr als er nützt. Droht dem weltweit dominierenden Wirtschaftssystem die Delegitimation? Oder ist der Glaube an eine nachholende Entwicklung der Länder des Südens ungebrochen? Entscheidende Zukunftsfragen, die im Band Globale Ungleichheit gestellt und bearbeitet werden.
Ungleichheit hat es immer gegeben, neu in der globalen Informationsgesellschaft sei, dass alle davon wissen, so einmal Ulrich Beck, der mit dem Begriff „Weltrisikogesellschaft“der Soziologie den globalen Blick geöffnet hat. In diesem Sinne postulieren die Herausgeberinnen dieses Bandes, Karin Fischer von der Kepler Universität Linz und Margarete Grandner vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien: „Wenn soziale Unterschiede als ‚natürlich‘ oder gottgegeben empfunden werden, werden sie üblicherweise nicht als Ungleichheit definiert.“(S. 10) Als Beispiel führen die Beiden Aristoteles an, für den die Ungleichbehandlung zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Herrschenden und Dienenden normal waren.
Politikfelder der Ungleichheit
In den 14 Kapiteln des als Lehrbuch konzipierten Werkes geht es jedoch weniger um die Wahrnehmung von Ungleichheit, sondern vielmehr um Theorieansätze, die diese erklären bzw. – im Nord-süd-zusammenhang – um die „Great Divergence“sowie die „Entstehung der Dritten Welt“(Andrea Komlosy, S. 57). Es geht um Politikfelder der Ungleichheit wie beispielweise Globalisierung, Freihandel, Kolonialismus, globale Arbeitsmärkte und die Rolle der „Finanzialisierung“der Wirtschaft.
Die von Experten unterschiedlicher Universtäten und Institute verfassten Beiträge geben einen exzellenten Einblick in die Thematik globaler Ungleichheit. Die theoretischen Ansätze werden durch Exempel ergänzt: zum Beispiel über Bildungsungleichheit, Initiativen zur Verbesserung von Arbeitsstandards sowie gegen Steuerdumping globaler Konzerne, die Rolle der Wirtschaftspartnerabkommen der EU mit afrikanischen Ländern, den Einfluss globaler Vermögensverwalter sowie jenem globaler Medienimperien wie der Familie Murdoch. Im Kapitel über „Globale ökologische Ungleichheit“(Anke Schaffartzik, S. 301ff.) wird die ungleiche Pestizidbelastung der globalen Agrarindustrie am Beispiel Glyphosat ebenso behandelt wie die ungleiche Auswirkung des Klimawandels auf Länder und Regionen.
Für die Erklärung von globaler Ungleichheit gibt es im Wesentlichen zwei Theorieanstränge: Dependenztheorien und Modernisierungsansätze. Für Fischer und Grandner ist die Hoffnung auf „trickle down“sowie nachholende Modernisierung weitgehend gescheitert. Ungleichheit aber ausschließlich aus strukturellen Abhängigkeitsbeziehungen zu erklären, greife jedoch ebenfalls zu kurz. Politökonomische Erklärungen ergänzen sie mit kulturellen Ansätzen, die etwa auch Geschlechtsdimensionen berücksichtigen. „Es gibt keinen prime mover, keinen Wirkmechanismus, der allein für Ungleichheit verantwortlich ist.“(S. 22)
„Lotterie der Geburt“
Der Band bietet auch empirische Befunde: Basierend auf Daten des Human Development Index der UNO, der Lebenserwartung, Bildung und Bruttoinlandsprodukt verbindet, zeigt die Entwicklung in allen Weltregionen in eine positive Richtung (Andreas Exenberger, S. 29f.). An anderer Stelle wird jedoch erklärt, dass die Konvergenzthese einen Haken hat: „Ohne China stagniert die globale Ungleichheit, ohne China und Indien steigt sie sogar“(Axel Anlauf/stefan Schmalz, S. 194f.). Und die Kluft ist global nach wie vor eklatant: „Weltweit vereinte das oberste Prozent fast 30 Prozent des gesamten Einkommenswachstums von 1980 bis 2016 auf sich, die oberen 10 Prozent fast 60 Prozent.“(S. 229) Fischer spricht von einer „Geografie der globalen Einkommensungleichheit“als „Lotterie der Geburt“(S. 214). Dies gilt nicht weniger für die Entwicklung der Vermögen, die mit Bezug auf „Reichenlisten“dargestellt werden. Da Reiche der Wirtschaft Werte entziehen und Entwicklungsmöglichkeiten verhindern, seien politische Maßnahmen wie die Austrocknung von Steueroasen sowie die Substanzbesteuerung von Vermögen unumgänglich, so Fischer. Dass die Wissenschaften auch dafür Belege haben, zeigt das Schlusskapitel des lesenswerten Buches über „Theorien der Gerechtigkeit“. Diese umzusetzen, wird Aufgabe eines Bündnisses engagierter Politikerinnen mit zivilgesellschaftlichen Kräften sein. HH Karin Fischer, Margarete Grandner (Hg.): Globale Ungleichheit Über die Zusammenhänge von Kolonialismus, Arbeitsverhältnissen und Naturverbrauch. Mandelbaum Verlag, Wien 2019; 399 S.