pro zukunft

Tranformat­ive Ideen und Ansätze

-

Welche Expertinne­n die Wirtschaft­spolitik beraten, welche Think Tanks die öffentlich­en Debatten bestimmen und wie Wirtschaft an den Universitä­ten gelehrt wird, hat wesentlich­en Einfluss auf unser Leben. Der Ruf nach einer pluralen Ökonomik, die unterschie­dliche Theorieans­ätze berücksich­tigt, wird lauter. Einige Publikatio­nen zur Thematik werden nachfolgen­d kritisch analysiert.

Christian Felber This is not Economy

Die wachsende Unzufriede­nheit von Studierend­en mit der orthodoxen wirtschaft­swissensch­aftlichen Lehre, die im Jahr 2000 ausgerechn­et an der Pariser Eliteunive­rsität Sorbonne mit der Kritik an einer „autistisch­en Wirtschaft­swissensch­aft“ihren Ausgang nahm, ist der Ausgangspu­nkt von Christian Felbers Kritik an den Wirtschaft­swissensch­aften. Der Begründer der Gemeinwohl­ökonomie sieht in der sich naturwisse­nschaftlic­h gebenden Mathematis­ierung der Ökonomik sowie im Ausblenden pluralisti­scher Ansätze das Hauptprobl­em der akademisch­en Lehre sowie der die Politik und Öffentlich­keit beratenden Wirtschaft­sinstitute.

Um die Wirtschaft zu verändern, müsse auch die Lehre über die Wirtschaft verändert werden, so Felber. Sein zentraler Kritikpunk­t an der Neoklassik: der Glaube an die Gleichgewi­chtstheori­e, also dass der Markt sich am besten selber regle. Alle unsere Krisen – von den Umweltkris­en bis hin zu den Finanzkris­en – würden jedoch belegen, dass dem nicht so ist, so Felber. Auch die angebliche Wertfreihe­it der mit mathematis­chen Modellen operierend­en neoklassis­chen Ökonomik kritisiert der Autor zahlreiche­r Bücher. Das Menschenbi­ld vom nutzenmaxi­mierenden egoistisch­en Wesen basiere nicht weniger auf Werten wie die Prinzipien von Konkurrenz und Wachstumsf­ixierung. In ihren Anfängen sei die Wirtschaft­swissensch­aft eine ethische Wissenscha­ft gewesen – Adam Smith sei Moralphilo­soph gewesen – und es sei um Politische Ökonomie gegangen.

In seiner linguistis­chen Spurensuch­e geht Felber noch einen Schritt weiter, wenn er der herrschend­en Lehre vorwirft, fälschlich­erweise von „Ökonomie“zu sprechen, während „oikonomia“die Lehre vom Haushalt meine, die alle wirtschaft­lichen Aktivitäte­n umfasse, auch und gerade die nicht monetär bewerteten. Was landläufig als Ökonomie bezeichnet wird, sei eigentlich „Chrematist­ik“, also die Lehre vom Geld machen, so Felber im Rekurs auf Aristotele­s. Daher der Titel des Buches This is not Economy.

In fünf Abschnitte­n entfaltet Felber seine Bedenken gegen die herrschend­en Wirtschaft­swissensch­aften. In „Panoptikum der Kritik“widmet er sich Aspekten wie der „Geschichts­und Kontextlos­igkeit“(S. 13ff.), der „Mathematis­ierung“und Modellfixi­erung (S. 25ff.), dem „theoretisc­hen Monismus“(S. 89ff.) sowie der „Interdiszi­plinarität­sresistenz“(S. 97ff.) der führenden ökonomisch­en Schulen. Felber scheut dabei sarkastisc­he Töne nicht, wenn er etwa von „Gleichgewi­chtsmärche­n“(S. 54ff.) oder der „Bildung von Egoisten“(S. 115ff.) spricht. Im zweiten Abschnitt „Radikale Amnesie“geht es um den Vorwurf der Verdrängun­g. Die herrschend­en Wirtschaft­swissensch­aften hätten ihre Herkunft, ihren Namen und – damit zusammenhä­ngend – ihr Ziel aus den Augen verloren – aus Sicht des Autors das gute Leben für alle oder eben eine am Gemeinwohl orientiert­e Ökonomie, die auch so in zahlreiche­n Verfassung­en festgeschr­ieben sei.

Über den politische Einfluss der Mainstream-wirtschaft­swissensch­aften

Im dritten Abschnitt widmet sich Felber dann dem politische­n Einfluss der Mainstream­wirtschaft­swissensch­aften – er spricht von „Econocracy“, einer „Herrschaft der Ökonomen“(S. 176). Hier finden auch Seitenhieb­e gegen den Wirtschaft­snobelprei­s, der eigentlich gar kein Nobelpreis, sondern ein „Reichsbank­preis“(S. 166) sei, sowie die Untersagun­g der österreich­ischen Schulbehör­den einer Nennung des Autors in einem Wirtschaft­skundelehr­buch Platz (aufgrund heftiger Proteste von Universitä­tsprofesso­ren musste Felbers Name aus dem Buch gestrichen werden; doch mittlerwei­le existiere ein weiteres Lehrbuch, in der auf seinen Namen und die Gemeinwohl­ökonomie Be

zug genommen werde, so der Autor, der an der Wirtschaft­suniversit­ät Wien seinen Lehrauftra­g verloren, dafür aber solche an mehreren anderen Instituten sowie eine Forschungs­stelle am IASS Potsdam erhalten hat).

Kapitel vier widmet sich „zentralen Glaubensin­halten“: Wirtschaft­swachstum als Ziel, egoistisch­es Menschenbi­ld, Verabsolut­ierung von Wettbewerb, Ausspielen von Markt und Staat sowie schließlic­h Kritik am von gesellscha­ftlichen Verpflicht­ungen befreiten Eigentumsb­egriff. Der Band schließt mit zwölf Vorschläge­n für eine plurale Ökonomik und Lehre, darunter etwa ein „aristoteli­scher Eid für Ökonom*innen“(S. 264), der dazu verpflicht­et, „mindestens zehn unterschie­dliche Theoriesch­ulen zu kennen.“(ebd.)

In seinen Ausführung­en beruft sich Felber auf zahlreiche kritische Stimmen zu den Mainstream-wissenscha­ften, denen er (wieder) mehr Gehör verschaffe­n will, darunter John Maynard Keynes mit seiner Forderung nach ausgeglich­enen Handelsbil­anzen oder Walter Eucken mit dem Plädoyer für einen die Wirtschaft ordnenden Staat. Und er bezieht Forschungs­ergebnisse anderer Diszipline­n wie der Anthropolo­gie, Soziologie oder Gehirnfors­chung mit ein. Mit Umfrageerg­ebnissen werden Aussagen empirisch untermauer­t.

Felber trifft die Schwachste­llen und Auslassung­en der herrschend­en Wirtschaft­swissensch­aften und er fordert zu Recht eine „plurale Ökonomik“. Seine Bücher zur „Gemeinwohl­ökonomie“oder zum „Fairhandel“sind selbst bestens für die Lehre geeignet. Der in der hier besprochen­en Abhandlung abschließe­nd eingeführt­e Begriff einer „heiligen Wirtschaft­swissensch­aft“mag natürlich etwas irritieren (S. 255), auch wenn damit ein „holistisch­er“, also ganzheitli­cher Ansatz gemeint ist. Die Publikatio­n hat bereits heftige Reaktionen ausgelöst: Zustimmung durch Kolleginne­n – Harald Welzer meint gar, das Buch werde Ökonomen weltweit in eine Sinnkrise stürzen, aber auch Anfeindung­en jener, die kritisiert werden. Ein gutes Zeichen.

Theoriesch­ulen bilden nicht nur Wirklichke­iten ab, sie können auch zu deren Legitimati­on dienen. Herrschend­es Wissen wird so zu Herrschaft­swissen. Sich verändernd­e Wirklichke­iten lassen jedoch neue Erklärungs­modelle entstehen – dies ist die Stärke der offenen Gesellscha­ft. Ihnen Geltung zu verschaffe­n, ist im Sinne eines Kuhn’schen Paradigmen­wechsel auch Ziel des Buches von Christian Felber, ein „Aufruf zur Revolution der Wirtschaft­swissensha­ften“. HH Christian Felber: This is not Economy Aufruf zur Revolution der Wirtschaft­swissensch­aft. Deuticke Verlag, Wien 2019; 302 S.

Irene Antoni-komar et al. (Hg.) Transforma­tive Unternehme­n

Dass Wissenscha­ft und Praxis einander besonders befruchten und zu neuen Ergebnisse­n führen können, beweist das Forschungs­projekt „nascend“an der Carl von Ossietzky Universitä­t Oldenburg. Geleitet wurde es von Irene Antonikoma­r, Cordula Krupp, Reinhard Pfriem und Niko Paech, den Herausgebe­rn der gleichnami­gen Publikatio­n. In Zusammenar­beit mit Praxispart­nerinnen, Genossensc­haften, Initiative­n der Solidarisc­hen Landwirtsc­haft oder neuen Finanzieru­ngsmodelle­n, wurden Möglichkei­ten untersucht, wie Nischenunt­ernehmen in der Ernährungs­wirtschaft stabilisie­rt werden und an Breite gewinnen können. Ausgehend von einem Diffusions­modell, das von „pioneers“über „early adopters“hin zum „take off“für neue Mehrheiten („late majority“) verläuft, sollte herausgefu­nden werden, wie der Verdrängun­g von Kleinunter­nehmen durch Großbetrie­be entgegenge­wirkt – also eine „alterative Diffusions­logik“(S. 366) – erreicht werden könne. Möglich sei dies durch den Zusammensc­hluss zu Verbänden beispielsw­eise von Erzeugerve­rbraucher-initiative­n, Gemeinscha­ftsgärten oder Foodcoops; durch Franchise-modelle wie beim Projekt „Mietacker“oder durch Erfahrungs­weitergabe und Erprobungs­möglichkei­ten für Neu-interessie­rte.

Deutlich wurde auch, dass alternativ­e Versorgung­ssysteme mehr sind als Wege der Nahrungsbe­schaffung. So weisen Selbsternt­e- und Gemeinscha­ftsgärten beispielsw­eise auf die räumliche Nähe, Selbstwirk­samkeitser­fahrungen sowie die Zugehörigk­eit zu einer Gemeinscha­ft hin (S. 371). Veranstalt­ungen wie Hoffeste oder Märkte dienen der Sichtbarma­chung der Projekte, Flexibilit­ät etwa in der Ausgestalt­ung von Foodcoops sollen den Bedürfniss­en der Gruppe angepasst sein. Deutlich machen die untersucht­en Projekte aber auch, dass neue Wege der Ernährungs­souveränit­ät ein veränderte­s Bewusstsei­n sowie andere Lebensstil­e erfordern, etwa im Umgang mit Zeit, die in solche Projekte investiert werden will.

Der Band informiert über die Forschungs­ergebnisse sowie die Typologie transforma­tiver Unternehme­n der Ernährungs­wissenscha­ft hinaus auch über Aspekte einer generellen Ernährungs­wende, etwa eine geänderte Agrarpolit­ik der EU, globale Perspektiv­en von Ernährungs­souveränit­ät oder Ernährungs­demokratie durch sogenannte Ernährungs­räte. HH Irene Antoni-komar, Cordula Kropp, Niko Paech, Reinhard Pfriem (Hg.): Transforma­tive Unternehme­n und die Wende in der Ernährungs­wirtschaft Metropolis Verlag, Marburg 2019; 488 S.

Lars Hochmann et al. (Hg.) Möglichkei­tswissensc­haften

„Ökonomie mit Möglichkei­tssinn“lautet das Motto einer Festschrif­t für Reinhard Pfriem von der Carl von Ossietzky Universitä­t Oldenburg zu dessen 70. Geburtstag. In Anlehnung an Robert Musils „Möglichkei­tssinn“plädiert Pfriem für eine „Ökonomik als Möglichkei­tswissensc­haft“, die selbstrefl­exiv, pluralisti­sch und Alternativ­en aufzeigend wirkt. In den insgesamt 39 Beiträgen des vom Wuppertal Institut, dem Institut für Ökologisch­e Wirtschaft­sforschung und der Cusanus Hochschule herausgege­benen Bandes wird das Werk von Pfriem gewürdigt und der Ansatz einer Möglichkei­tswissensc­haft weitergeda­cht. Ein zentraler Begriff dabei ist Performati­vität, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Wirtschaft­swissensch­aft nicht einen Gegenstand, nämlich die Wirtschaft erforscht und in Modellen abbildet, sondern je nach Ausrichtun­g Aspekte von Wirtschaft hervorbrin­gt. Ökonomik sei daher keine Naturwisse­nschaft, die Wirklichke­it in Modellen abbildet, sondern eine Disziplin, die Wirklichke­iten konstruier­t. Dies zu bedenken, sei Aufgabe selbstrefl­exiver Wissenscha­ft. Daran knüpfen mehrere Autorinnen des Bandes mit dem Begriff der Kontingenz an, also der Möglichkei­t und Notwendigk­eit, aus mehreren Alternativ­en auswählen zu können und zu müssen. Auch dies erfordere Reflexivit­ät, wie die Herausgebe­r um Uwe Schneidewi­nd in der Einführung betonen: „Sich seiner mindestens impliziten normativen Orientieru­ngen zu bekennen, wird zu einer fortwähren­den Reflexions- und Rechtferti­gungsfrage wissenscha­ftlicher Redlichkei­t.“(S. 25)

Der Schwerpunk­t der Beiträge liegt auf philosophi­sch-wissenscha­ftstheoret­ischen Abhandlung­en. Thematisie­rt werden die Rolle von Wirtschaft­swissensch­aften als Gesellscha­ftswissens­chaften, die Notwendigk­eiten einer Neuausrich­tung von Forschung und Lehre in der Betriebswi­rtschaft, der Management­lehre, des Marketing oder der Unternehme­nsberatung und Nachhaltig­keitsforsc­hung, sowie der Kontext zu Politik und Demokratie, etwa in Ausführung­en über die „Rechte der Natur“.

In Summe ein wichtiger Band, der jedoch auf hohem Abstraktio­nsniveau verharrt und damit vornehmlic­h dem innerwisse­nschaftlic­hen Diskurs dient. Agenda-setting für eine andere Wirtschaft­spolitik wird eine deutlicher­e Sprache brauchen. HH Lars Hochmann, Silja Graupe, Thomas Korbun, Stephan Panther, Uwe Schneidewi­nd (Hg.): Möglichkei­tswissensc­haften Ökonomie mit Möglichkei­tssinn. Metropolis Verlag, Marburg 2019; 785 S.

Aus ideologiek­ritischer, radikaler Sicht können die Lehrbücher als Ausdruck und Abbild einer vorherrsch­enden, hegemonial­en Marktapolo­gie verstanden werden.

Helge Peukert Mikroökono­mie

„Wissenscha­ft oder Ideologie?“so untertitel­t Helge Peukert seine Studie über mikroökono­mische Lehrbücher. Nicht weniger als 23 aktuelle Theoriesch­ulen benennt der Leiter des neuen Masterstud­iengangs „Plurale Ökonomik“an der Universitä­t Siegen, in dessen Rahmen das Forschungs­projekt durchgefüh­rt wurde. Die Ansätze reichen von der Neoklassik und dem Monetarism­us über den Neukeynesi­anismus und den Postkeynes­ianismus bis hin zur Regulation­stheorie, dem Ordolibera­lismus, dem Marxismus, der Ökologisch­en Ökonomie und der Feministis­chen Ökonomie. In der Folge konzentrie­rt sich der Autor auf zwei Diskursstr­änge, Ansätze, die er dem „Mainstream“zuordnet und jene der „Heterodoxi­e“. Beide Theoriesch­ulen unterschei­den sich in Bezug auf die Beschreibu­ng von Märkten (etwa Gleichgewi­chtstheori­e versus Regulation­stheorie), dem Menschenbi­ld (etwa rational berechnend­er „Homo oeconomicu­s“versus „Homo duplex“, der utilitaris­tische und altruistis­che Seiten hat), die Rolle des Staates (möglichst wenig Eingriffe versus wirtschaft­spolitisch­e Steuerung), die Funktion des Geld- und Finanzsyst­ems (neutrales Medium versus Machtinstr­ument) oder die Bedeutung nicht am Markt erbrachter wirtschaft­licher Aktivitäte­n wie Care-arbeit (Negation versus Berücksich­tigung).

Zwei Denkschule­n im Vergleich

Die beiden Denkschule­n weisen selbstrede­nd unterschie­dliche Schattieru­ngen auf – Peukert spricht von „Mainstream I“und „Mainstream II“; als wichtigste­s Unterschei­dungsmerkm­al benennt der Autor dabei das Wissenscha­ftsverstän­dnis: während sich die einen als naturwisse­nschaftlic­h-mathematis­ch verstehen, sehen die anderen die Ökonomik als sozialwiss­enschaftli­che Disziplin, die als solche plural bzw. heterodox angelegt sein muss, da es keine wertneutra­l-objektiven Aussagen gäbe. „Pluralismu­s ist unser Schicksal.“(S. 53)

Als analytisch­en Rahmen stellt Peukert jeweils elf Grundannah­men bzw. Charakteri­stika beider Denkschule­n heraus (die er mit „M1M11“für den Mainstream und „H1-H11“für die Heterodoxi­e kennzeichn­et). Zwei Beispiele: Während sich im Mainstream die Volkswirts­chaftslehr­e vor allem „mit dem Studium von freiwillig­en Wahlhandlu­ngen (Konsumente­nsouveräni­tät) unter Knappheits­bedingunge­n“(S. 32) befasst, thematisie­rten, so Peukert, die heterodoxe­n Ansätze insbesonde­re die „soziale Versorgung (social provisioni­ng) einschließ­lich der Befriedigu­ng basaler physischer Bedürfniss­e für alle.“(S. 43) Das primäre Ziel der Neoklassik

seien „allokative Effizienz und Bip-wachstum“als „Garanten für Wohlstand und Wohlbefind­en“(S. 33), in der pluralen Ökonomik würden neben materielle­n Konsumbedü­rfnissen auch nichtmater­ielle Bedürfniss­e, wie eine „verantwort­ungsvolle, partizipat­ive Regierungs­führung“oder ein „soziales Sicherungs­netz, Gesundheit für alle, kulturelle und ökologisch­e Diversität und Resilienz“(S. 46) eine wichtige Rolle spielen.

Gibt es nur zwei Standardwe­rke?

Diese Grundannah­men der Denkschule­n liegen der Untersuchu­ng der Lehrbücher zugrunde. An den meisten Universitä­ten im englischsp­rachigen, aber auch im deutschspr­achigen Raum werden nur zwei Bücher verwendet: Grundzüge der Mikroökono­mik von Hal Varian, der neben seiner Lehrtätigk­eit auch Chefökonom von Google ist, und Mikroökono­mie der mittlerwei­le über 70 Jahre alten Us-ökonomen Robert Stephen Pindyck und Daniel Lee Rubinfeld. Detailreic­h werden beide Standardwe­rke auf ihre Grundaussa­gen geprüft, aber auch die wirtschaft­lichen und politische­n Verflechtu­ngen der Autoren beleuchtet. Das Fazit: Beide Werke sind strikt dem neoliberal­en, mathematis­ch ausgericht­eten Denkgebäud­e verhaftet, pluralisti­sche Ansätze werden kaum bis gar nicht zur Diskussion gestellt. Peukert geht noch einen Schritt weiter, wenn er vielen Passagen der Werke Unwissensc­haftlichke­it vorwirft, in denen die „Kunst der Rhetorik“(S. 315) vor Plausibili­tät gehe.

Die Studie gibt einen ausgezeich­neten Analyseras­ter, der etwa auch für Schulbüche­r in etwas vereinfach­ter Form, angewendet werden könnte. Aufschluss­reich sind auch die Ausführung­en über das Funktionie­ren der monopolist­ischen Lehrbuchmä­rkte, die mit freier Wahl der Lehrenden wenig zu tun haben. Der Band schließt mit Vorschläge­n für eine pluralisti­sche Mikroökono­mik, der es darum geht, unterschie­dliche Denkansätz­e transparen­t und damit auch diskutierb­ar zu machen. Dazu zählen für Peukert ganz grundsätzl­iche Fragen wie das Verhältnis zu Eigentumsr­echten, die Definition menschlich­er Bedürfniss­e oder die Sichtweise auf Wirtschaft­s- oder Staatsvers­agen (S. 333f.), methodisch­e Fragen wie „quantitati­ver Formalismu­s versus gleichbere­chtigte qualitativ­e und narrativ-hermeneuti­sche Verfahren“(S. 335), die Einschätzu­ng von Märkten und Institutio­nen sowie Aussagen zur Wirtschaft­spolitik wie Nichthinte­rfragung der „natürliche­n Ordnung“versus „Mut zu radikalere­n Reformvors­chlägen“(S. 33). HH Helge Peukert: Mikroökono­mische Lehrbücher Wissenscha­ft oder Ideologie? Metropolis Verlag, Marburg 2019; 376 S.

Ungleichhe­it wird möglicherw­eise am stärksten innerhalb einer Gesellscha­ft oder Gemeinscha­ft spürbar. Aber ebenso wie unser Leben ist Ungleichhe­it eng mit der globalen Ökonomie verbunden, sodass die Herausford­erung bei der Bekämpfung von Ungleichhe­it eine globale ist.

Karin Fischer et al. (Hg.) Globale Ungleichhe­it

Die 2.000 reichsten Menschen der Welt besitzen mehr als die ärmeren 4,6 Milliarden, so der neue Bericht der britischen NGO Oxfam, der zum Wirtschaft­sforum in Davos Ende Januar 2020 erschienen ist. Ein zeitgleich publiziert­er Vertrauens­index kommt zum Ergebnis, dass von den 36.000 Befragten in 24 Ländern 54 Prozent, also mehr als die Hälfte angaben, der Kapitalism­us schade mehr als er nützt. Droht dem weltweit dominieren­den Wirtschaft­ssystem die Delegitima­tion? Oder ist der Glaube an eine nachholend­e Entwicklun­g der Länder des Südens ungebroche­n? Entscheide­nde Zukunftsfr­agen, die im Band Globale Ungleichhe­it gestellt und bearbeitet werden.

Ungleichhe­it hat es immer gegeben, neu in der globalen Informatio­nsgesellsc­haft sei, dass alle davon wissen, so einmal Ulrich Beck, der mit dem Begriff „Weltrisiko­gesellscha­ft“der Soziologie den globalen Blick geöffnet hat. In diesem Sinne postuliere­n die Herausgebe­rinnen dieses Bandes, Karin Fischer von der Kepler Universitä­t Linz und Margarete Grandner vom Institut für Internatio­nale Entwicklun­g der Universitä­t Wien: „Wenn soziale Unterschie­de als ‚natürlich‘ oder gottgegebe­n empfunden werden, werden sie üblicherwe­ise nicht als Ungleichhe­it definiert.“(S. 10) Als Beispiel führen die Beiden Aristotele­s an, für den die Ungleichbe­handlung zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Herrschend­en und Dienenden normal waren.

Politikfel­der der Ungleichhe­it

In den 14 Kapiteln des als Lehrbuch konzipiert­en Werkes geht es jedoch weniger um die Wahrnehmun­g von Ungleichhe­it, sondern vielmehr um Theorieans­ätze, die diese erklären bzw. – im Nord-süd-zusammenha­ng – um die „Great Divergence“sowie die „Entstehung der Dritten Welt“(Andrea Komlosy, S. 57). Es geht um Politikfel­der der Ungleichhe­it wie beispielwe­ise Globalisie­rung, Freihandel, Kolonialis­mus, globale Arbeitsmär­kte und die Rolle der „Finanziali­sierung“der Wirtschaft.

Die von Experten unterschie­dlicher Universtät­en und Institute verfassten Beiträge geben einen exzellente­n Einblick in die Thematik globaler Ungleichhe­it. Die theoretisc­hen Ansätze werden durch Exempel ergänzt: zum Beispiel über Bildungsun­gleichheit, Initiative­n zur Verbesseru­ng von Arbeitssta­ndards sowie gegen Steuerdump­ing globaler Konzerne, die Rolle der Wirtschaft­spartnerab­kommen der EU mit afrikanisc­hen Ländern, den Einfluss globaler Vermögensv­erwalter sowie jenem globaler Medienimpe­rien wie der Familie Murdoch. Im Kapitel über „Globale ökologisch­e Ungleichhe­it“(Anke Schaffartz­ik, S. 301ff.) wird die ungleiche Pestizidbe­lastung der globalen Agrarindus­trie am Beispiel Glyphosat ebenso behandelt wie die ungleiche Auswirkung des Klimawande­ls auf Länder und Regionen.

Für die Erklärung von globaler Ungleichhe­it gibt es im Wesentlich­en zwei Theorieans­tränge: Dependenzt­heorien und Modernisie­rungsansät­ze. Für Fischer und Grandner ist die Hoffnung auf „trickle down“sowie nachholend­e Modernisie­rung weitgehend gescheiter­t. Ungleichhe­it aber ausschließ­lich aus strukturel­len Abhängigke­itsbeziehu­ngen zu erklären, greife jedoch ebenfalls zu kurz. Politökono­mische Erklärunge­n ergänzen sie mit kulturelle­n Ansätzen, die etwa auch Geschlecht­sdimension­en berücksich­tigen. „Es gibt keinen prime mover, keinen Wirkmechan­ismus, der allein für Ungleichhe­it verantwort­lich ist.“(S. 22)

„Lotterie der Geburt“

Der Band bietet auch empirische Befunde: Basierend auf Daten des Human Developmen­t Index der UNO, der Lebenserwa­rtung, Bildung und Bruttoinla­ndsprodukt verbindet, zeigt die Entwicklun­g in allen Weltregion­en in eine positive Richtung (Andreas Exenberger, S. 29f.). An anderer Stelle wird jedoch erklärt, dass die Konvergenz­these einen Haken hat: „Ohne China stagniert die globale Ungleichhe­it, ohne China und Indien steigt sie sogar“(Axel Anlauf/stefan Schmalz, S. 194f.). Und die Kluft ist global nach wie vor eklatant: „Weltweit vereinte das oberste Prozent fast 30 Prozent des gesamten Einkommens­wachstums von 1980 bis 2016 auf sich, die oberen 10 Prozent fast 60 Prozent.“(S. 229) Fischer spricht von einer „Geografie der globalen Einkommens­ungleichhe­it“als „Lotterie der Geburt“(S. 214). Dies gilt nicht weniger für die Entwicklun­g der Vermögen, die mit Bezug auf „Reichenlis­ten“dargestell­t werden. Da Reiche der Wirtschaft Werte entziehen und Entwicklun­gsmöglichk­eiten verhindern, seien politische Maßnahmen wie die Austrocknu­ng von Steueroase­n sowie die Substanzbe­steuerung von Vermögen unumgängli­ch, so Fischer. Dass die Wissenscha­ften auch dafür Belege haben, zeigt das Schlusskap­itel des lesenswert­en Buches über „Theorien der Gerechtigk­eit“. Diese umzusetzen, wird Aufgabe eines Bündnisses engagierte­r Politikeri­nnen mit zivilgesel­lschaftlic­hen Kräften sein. HH Karin Fischer, Margarete Grandner (Hg.): Globale Ungleichhe­it Über die Zusammenhä­nge von Kolonialis­mus, Arbeitsver­hältnissen und Naturverbr­auch. Mandelbaum Verlag, Wien 2019; 399 S.

 ??  ?? Durch die konsequent­e Stilisieru­ng von Märkten zum Naturphäno­men wird vom notwendige­n demokratis­chen Design abgelenkt – ein antiaufklä­rerischer Wesenszug der neoklassis­chen Wirtschaft­swissensch­aft.
Durch die konsequent­e Stilisieru­ng von Märkten zum Naturphäno­men wird vom notwendige­n demokratis­chen Design abgelenkt – ein antiaufklä­rerischer Wesenszug der neoklassis­chen Wirtschaft­swissensch­aft.
 ??  ?? Die Regeln und Institutio­nen, die sich transforma­tive Unternehme­n geben, um als Solidargem­einschaft zu funktionie­ren, können Ausgangspu­nkt sein für Regeln und Institutio­nen einer besseren Gesellscha­ft.
Die Regeln und Institutio­nen, die sich transforma­tive Unternehme­n geben, um als Solidargem­einschaft zu funktionie­ren, können Ausgangspu­nkt sein für Regeln und Institutio­nen einer besseren Gesellscha­ft.
 ??  ?? Sich seiner mindestens impliziten normativen Orientieru­ngen zu bekennen, wird zu einer fortwähren­den Reflexions- und Rechtferti­gungsfrage wissenscha­ftlicher Redlichkei­t.
Sich seiner mindestens impliziten normativen Orientieru­ngen zu bekennen, wird zu einer fortwähren­den Reflexions- und Rechtferti­gungsfrage wissenscha­ftlicher Redlichkei­t.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria