Visionen für das Kommende
Ausgewählte Neuerscheinungen aus dem Bereich der Zukunftsforschung werden auf den kommenden Seiten präsentiert. Ein regelrechtes Standardwerk liefert dabei der Historiker und ehemalige Robert-jungk-stipendiat Achim Eberspächer. Weiterhin geht es um literarische Zukunftsvisionen, Neuigkeiten aus der Zukunftsbranche und Beiträge zur sogenannten Szenario-methodik.
Achim Eberspächer Das Projekt Futurologie
Es ist ungemein lehrreich zu lesen, wie einst über die Zukunft gedacht wurde. Achim Eberspächer hat die Geschichte der Futurologie in der Bundesrepublik in den Jahren 1952 bis 1982 nachgezeichnet. Der umfangreiche Band muss als Standardwerk für das Thema Zukunftsforschung gewertet werden.
Eberspächer setzt beim Begriff „Futurologie“an, dessen Anwendung auf Ossip Flechtheim zurückgeht. Der Zweck der Futurologie sei es gewesen, als Frühwarnsystem gegenüber totalitären Entwicklungen zu wirken. Neben Flechtheim führt Eberspächer sehr früh Robert Jungk ein.
Robert Jungk verbreitet besonders früh die Themen der Futurologie
Robert Jungk sei es besonders gut gelungen, die Themen der Futurologie auch zu verbreiten. Der Titel des 1952 veröffentlichen Buches Die Zukunft hat schon begonnen wurde sogar zum geflügelten Wort. Jungk sprach darin sowohl die militärischen Gefahren der neuen Zeiten als auch die Risiken der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen an. Auf Jungk folgen Fritz Baade, mit einem Aufruf zur Bekämpfung der Unterernährung und Georg Picht, der die Entwicklung der Bildungsstandards kritisch sah. Große Bedeutung hatte Karl Steinbuch, der dafür eintrat, dass man Entscheidungen stets an wahrscheinlichen künftigen Entwicklungen orientieren müsse. Steinbuch sprach von „Zukunftsforschung“, einem Genre, das Futurologie und das Rechnen von Entwicklungslinien mit Hilfe neuer (vor allem quantitativer) Methoden kombiniere. Der Spiegel widmete den Futurologen 1966 eine Titelgeschichte, beim wichtigen Treffen deutscher Intellektueller, dem „Darmstädter Gespräch“fand man wohlwollende Aufnahme.
In den 1960er-jahren kombinierte die Futurologie so fortschrittskritische und fortschrittsoptimistische Grundhaltungen. Für Eberspächer war die Kritik dabei der stärkere Pol.
Ab den 1960er-jahren begannen die Futurologinnen und Futurologen, sich auch institutionell zu organisieren. Zuerst wurde 1967 die Gesellschaft für Zukunftsfragen (GFZ) gegründet, 1968 das Berliner Zentrum für Zukunftsforschung (ZFZ). Es erschienen die Zeitschriften Analysen und Prognosen über die Welt und das Futurum. Zusätzlich wurden von Flechtheim, Jungk und Steinbuch Lehrveranstaltungen an Universitäten angeboten. Der Preis der Popularität der Futurologie in dieser Phase sei der Verlust des fortschrittskritischen Elements gewesen, scheibt Eberspächer (S. 344). Er spricht von der „riskanten Allianz“der populären Futurologie mit den nun populären Technikvisionen. In der erwähnten Titelgeschichte war von den „Prophezeiungen der Futurologen“die Rede. Bemerkenswert war hier die Rolle von Hermann Kahn. 1968 erschein sein Buch The Year 2000 in deutscher Übersetzung, der Untertitel lautete „Ihr werdet es erleben“. Darin entfaltete Kahn kreativ alternative mögliche Zukünfte. Diese Bilder beschrieb er konkret und effektvoll, sie handelten von einer voll- bzw. postindustriellen Überflussgesellschaft. Kahns Sorge galt den Effekten des Überflusses auf die Werthaltungen in der Gesellschaft (S. 200).
Kritik an der Zukunftsforschung
Die Futurologie war bald auch Kritik ausgesetzt. Karl Popper warnte etwa davor, das prognostische Potential von Zukunftsaussagen zu überschätzen. Claus Koch kritisierte, dass Zukunftsforschung mit dem Blick auf Gefahren für die Gegenwart implizit den Status quo stützt. Aber auch unter den Futurologen kam es zum Konflikt. 1969 brachte das Zerwürfnis zwischen Steinbuch und Jungk. Die Konflikte, die folgten, waren für Eberspächer gewichtiger
für die folgenden Probleme des Genres als externe Kritik.
Die Studie zu den „Grenzen des Wachstums“des Club of Rome von 1972 überlagerte ab ihrem Erscheinen viele andere Stränge des Zukunftsdenkens. Die pessimistische Grundstimmung führte zu einem Zurückdrängen der Teile der Futurologie, die bunte Zukunftsentwürfe lieferte. Vor allem in den 1980er-jahren kam es nach einem Abebben der Begeisterung für Futurologie auch zu einer schrittweisen Reduzierung der Zahl der Institutionen.
Für Eberspächer hatte die Futurologie ihre Stärke weniger auf der theoretisch-argumentativen Ebene. Vielmehr war das institutionelle und mediale Engagement von Erfolg gekrönt.
Trendforschung und Technikfolgenabschätzung als Nachfolger
Die zeitweise sehr populäre „Trendforschung“und die inzwischen fest institutionalisierte Technikfolgenabschätzung sieht Eberspächer als Nachfolger der Futurologie. Theoretisch ordnet Eberspächer der Zeit der „Futurologie“einen Fortschritt zu. Gemeinsam mit Elke Seefried und Lucian Hölscher datiert er den Wechsel im Denken zugunsten mehrerer möglicher Zukünfte (an der Stelle der einen wahrscheinlichen Zukunft) in der untersuchten Zeitspanne. Darauf aufbauend spielen heute die Szenarioanalysen eine dominante Rolle in der Darstellung möglicher Zukünfte.
Das Buch führt nicht nur souverän durch drei Jahrzehnte der Geschichte des Zukunftsdenkens. Es ist auch eine Fundgrube für Argumente, Ideen, beispielhafte Anwendungen und Irrwege. Somit bietet es solide Wissenschaft und zugleich guten Lesestoff. SW Achim Eberspächer: Das Projekt Futurologie Über Zukunft und Fortschritt in der Bundesrepublik 1952–1982. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019; 412 S.
Roman Peperhove et al. (Hg.) Zukunft und Forschung
Es ist nicht möglich Zukunft vorherzusagen. Das bestreiten die Expertinnen und Experten der Vorausschau auch gar nicht. Sie suchen aber nach Wegen, trotzdem klug über potenzielle zukünftige Ereignisse zu reden. Eines der wichtigsten Instrumente dafür sind Szenario-analysen. In dem Band Envisioning Uncertain Futures sind Aufsätze zusammengestellt, die in Zusammenhang mit dem FESTOS-PROJEKT (Foresight of Evolving Security Threats posed by emerging technologies) entstanden sind.
Szenarien ermöglichen Forscherinnen, mit komplexen Zusammenhängen umzugehen. Entweder man untersucht einzelne Faktoren und setzt sie in Bezug zueinander oder man verwendet kreative Methoden, um Informationen über mögliche Szenarien zu sammeln.
Wie kreatives Denken über die Zukunft nützlich werden kann, steht im Mittelpunkt vieler Aufsätze. Karlheinz Steinmüller widmet sich der Frage, wie Erzählungen als künstlerische Form der Szenarioformulierung genützt werden können: „Scenario writing can be understood as a collective learning process. It is an analytical instrument in as far as it allows in-depth assessments of the scenario’s topic – its prerequisites, its implications and side-effects, its risks and opportunities – in a more informal way. Narrative Scenarios have the great advantage of including the background of a possible future world, the setting of everyday life in an imagined future – if necessary with the whole scope of social, cultural and psychological factors. In that way, narrative scenarios add to the human dimension. […] Narrative scenarios in particular help us to understand how people and whole societies may react to technological trends, to innovations, or the future security threats. Scenarios do not provide the answers on what we shall do. But they help us to pose the right questions.“(S. 33) In einem weiteren Artikel erklärt Steinmüller gemeinsam mit Robert Gaßner die verschiedenen Schritte in der Entwicklung von narrativen Szenarien. Mit Lars Gerhold diskutiert Steinmüller die Bedeutung von Bedrohungsszenarien für das Stellen fundamentaler Fragen in der Sicherheitsplanung.
Ein Band mit wichtigen Beiträgen zur Szenario-methodik, dessen Studium an vielen Stellen neue Perspektiven eröffnet. SW Roman Peperhove, Karlheinz Steinmüller, Hans-liudger Dienel (Hg.): Envisioning Uncertain Futures Scenarios as a Tool in Security, Privacy and Mobility Research. Springer Verlag, Wiesbaden 2018; 269 S.
Matthias Horx 15 1/2 Regeln für die Zukunft
Matthias Horx gilt als der Megatrend-guru, für viele ist er der Schaumschläger in der Zukunftsbranche. Doch wer so denkt, sollte dieses Buch lesen – und einen anderen Horx kennenlernen. Horx hat Trends und Megatrends kommen und gehen sehen, hat etliche davon gehypt und dabei hin und wieder auch gehörig danebengegriffen. Aber er hat daraus seine Schlüsse gezogen und hat sich gelöst vom Trendhyping. Seine erste Zukunftsregel lautet denn auch: „Hüte dich vor Future Bullshit“, was sich durchaus selbstkritisch verstehen lässt. So verwundert es auch nicht, dass Horx sich heute auch nicht mehr für Trends, Megatrends oder Zukunftsszenarien interessiert. Sein Interesse gilt der Metaebene hinter den Zukunftstrends. Den dahinterliegenden Mustern: wie Menschen über Zukunft denken. Denn über Zukunft nachzudenken, gehört zur Conditio humana, ist zutiefst menschlich: „Menschen sind Zukunftswesen.“(S. 11)
Die Mehrzahl von Horx’ Zukunftsregeln rühren dann auch an die inneren Bilder, entlang derer Menschen Zukunft konstruieren. Dem verbreiteten Denken in linearen Entwicklungen setzt der Autor ein dialektisches und ein zyklisches Bild entgegen: „Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend“und „Das Alte kommt immer wieder – und erneuert sich dabei selbst“(S. 31ff.) lauten Zukunftsregel zwei und drei. So entsteht ein Gegenbild zum Trend als rein gradliniger Zukunftsbetrachtung – denn Trends sind ja nichts anderes als Extrapolationen gegenwärtiger Entwicklungen in die Zukunft. Die aber entstehe anders, sagt Horx: „Die Zukunft entsteht nicht in geraden Linien, sondern in Schleifen und Spiralen.“(S. 80) Und es gibt Verzögerungen im Zukunftsdenken: „Alle erwarteten Zukünfte kommen später, als man denkt.“(S. 59) Nicht zuletzt kehrt sich mitunter die Denkrichtung um: „aus der Zukunft heraus denken“, nennt das der Autor. Und meint damit, sich vorzustellen, wie ein Problem sich auflöst, wenn wir unseren Denkrahmen verändern. Stichwort Reframing. Diese neunte Regel weist dann auch schon den Weg zu Nummer 15 ½: „Zukunft ist eine Entscheidung“(S. 331ff.). Nichts kann neu werden, so der Autor ganz abgeklärt, wenn wir uns nicht selbst erneuern“(S. 335). Horx hat eine Fülle von Gedanken, Zitaten und Beispielen zum Thema Zukunft zusammengetragen. Man muss nicht alles teilen, kann manches anzweifeln, aber was dieses Buch spannend macht, das ist die Fülle an Perspektiven auf Zukunft, die es bereithält. WK Matthias Horx: 15 1/2 Regeln für die Zukunft Anleitung zum visionären Leben. Econ Verlag, Berlin 2019; 352 S.
Stefan Brandt et al. (Hg.) 2029
Eine Sammlung von Geschichten findet sich in diesem Buch, literarische Zukunftsvisionen, um genau zu sein. Drei Autorinnen und acht Schriftsteller – allesamt aus Österreich oder Deutschland – erwecken je eine Idee zum Leben und liefern so ganz unterschiedliche „Geschichten von morgen“, wie der Untertitel heißt. Dietmar Dath, Emma Braslavsky, Leif Randt oder Thomas Glavinic wagen etwa einen Blick voraus, in eine Zeit die kommen wird – in ein paar Jahren, einigen Jahrzehnten, in diesem Jahrhundert. Vor allem dystopisch geht es dabei zu. Künstliche Intelligenz spielt eine besonders große Rolle, aber auch Überwachung, soziale Ungleichheit, Reproduktion, Klimawandel, politische Umbrüche und zwischenmenschliche Beziehungen gehören zu den Themen, die offen präsentiert oder nebenbei eingewoben werden.
Der NDR und SWR, namentlich die Fernsehfilm-chefs Christian Grandenrath und Manfred Hattendorf, kooperierten für diese Zusammenstellung mit dem Haus der Zukünfte in Berlin, also dem Futurium und seinem Geschäftsführer Stefan Brandt. Auch wenn die Institute klar anders strukturiert sind, gemeinsam sollte die kreative Beschäftigung mit der Zukunft gefördert und vor allem öffentlich gemacht werden, um der in verschiedensten Bereichen vornehmlichen Beschäftigung mit dem Heute und Gestern etwas entgegenzusetzen. Grandenrath und Hattendorf schreiben dazu: „Erzählungen suchten wir, in denen sich die subtilen Veränderungen unseres Alltags durch die gegenwärtigen technologischen Entwicklungen auf sozialmolekularer Ebene widerfinden. Geschichten von morgen, die eine nahe, eine vertraute Zukunft entwerfen – keine zeitlich weit entfernten Science-fiction-spektakel, keine dystopischen Apokalypsen.“(S. 9) Und Brandt ergänzt: „Um Diskurse über Zukunftsfragen in Gang zu bringen, wäre es viel wichtiger, erst einmal Möglichkeitsräume aufzuzeigen, auch wenn sie aus heutiger Sicht unrealistisch erscheinen mögen. Und hier liegt der besondere Wert der in diesem Buch versammelten literarischen Zukunftstexte, denn sie öffnen diese Möglichkeitsräume.“(S. 13) Abgeschlossen wird der Band im Sinne der Interdisziplinarität dann übrigens von Zukunftsforscher Reinhold Popp, der die Kurzgeschichten aus wissenschaftlicher Sicht kommentiert. KK Stefan Brandt, Christian Granderath und Manfred Hattendorf (Hg.): 2029 Geschichten von morgen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019; 541 S.