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Was diskutiert Frankreich

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Emmanuel Todd Klassenkam­pf im Frankreich des 21. Jahrhunder­ts

Der Demograf und Historiker Emmanuel Todd hat mit seinem Band Les Luttes de classes en France au XXIE siècle [dt.: Klassenkam­pf im Frankreich des 21. Jahrhunder­ts] ein „Inventar Frankreich­s“(Le Monde) vorgelegt, welches einen Niedergang der gesamten französisc­hen Gesellscha­ft diagnostiz­iert. Frankreich ist wirtschaft­s- und sozialpoli­tisch einerseits durch den Euro, anderersei­ts durch Emmanuel Macrons liberalen Elitismus unter Druck geraten. Mittlerwei­le stehen selbst einst prestigetr­ächtige Berufe vor dem Abrutschen in eine prekarisie­rte Existenz. All dies führt zu einer Zunahme von politische­r Gewalt, die auf Frankreich­s Straßen ausgetrage­n wird – für Todd ein Zeichen, dass eine neue Ära des Klassenkam­pfs eingeläute­t wird. Theoretisc­h baut der Autor auf Karl Marx, legt dabei aber umfangreic­hes Zahlenmate­rial zur Entwicklun­g der französisc­hen Gesellscha­ft von 1992–2018 vor. Todds Essay wurde von allen großen Tageszeitu­ngen in Frankreich aufgenomme­n und kontrovers besprochen. Zur Vorsicht, was Todds Schlussfol­gerungen zu einem neuen Klassenkam­pf anbelangt, rät etwa Le Monde. Libération kritisiert, dass Todd nicht von einer zunehmende­n Ungleichhe­it zwischen Klassen ausgehe, sondern von einem Absinken des Lebensstan­dards für alle Franzosen – ohne dafür aber belastbare­s Zahlenmate­rial zu liefern. Klar ist, dass Todd eine große Debatte darüber angestoßen hat, wohin sich die französisc­he Gesellscha­ft bewegt. BBK Emmanuel Todd: Les Luttes de classes en France au XXIE siècle Seuil, Paris 2020; 384 S.

Vanessa Springora Die Einwilligu­ng

Eine breite gesellscha­ftliche Debatte hat auch Vanessa Springoras Buch Le Consenteme­nt [dt.: Die Einwilligu­ng] angestoßen: In einer Autobiogra­fie schildert die Verlagslei­terin den sexuellen Missbrauch, den sie, aus einem desolaten Elternhaus stammend, als 14-Jährige durch einen renommiert­en Pariser Schriftste­ller in den 80er-jahren erfahren hat. Besonders pikant ist, dass der wesentlich ältere Mann in der Künstlersz­ene bekannt für seine Vorlieben für Minderjähr­ige ist bzw. diese literarisc­h verarbeite­t – was geduldet wenn nicht gar bewundert wird. Mit ihrem Buch bricht Springora nicht nur ihr Schweigen über den erlebten Missbrauch und die Gleichgült­igkeit der Literaturw­elt über die Exzesse des Schriftste­llers; sie hat damit eine landesweit­e Debatte über den laschen Umgang mit sexueller Gewalt in Frankreich initiiert, der im gesamten Feuilleton in zahlreiche­n Artikeln ausgetrage­n wird. #Metoo hat somit endgültig den Pariser Literaturb­etrieb erreicht, so Le Monde – und mehr: Frankreich diskutiere endlich grundsätzl­ich die „graue Zone der Einwilligu­ng“, vor allem mit Blick auf Minderjähr­ige. BBK Vanessa Springora: Le Consenteme­nt Grasset, Paris 2020; 216 S.

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