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Kapital und Ideologie

- Thomas Piketty

Thomas Piketty hat ein neues Buch vorgelegt. Es heißt Kapital und Ideologie und untersucht, wie Ungleichhe­iten in Vergangenh­eit und Gegenwart gerechtfer­tigt wurden und werden.

Pikettys Buch ist eine historisch­e Darstellun­g. Der Autor verwendet sehr viel Zeit und Raum darauf, die soziale Ungleichhe­it in verschiede­nen Perioden zu dokumentie­ren. Der Kern dabei ist aber stets, zu zeigen, mit welchen Argumenten, Erklärunge­n diese Ungleichhe­iten gerechtfer­tigt wurden.

Nehmen wir zum Beispiel die dreigliedr­ige Gesellscha­ft des Mittelalte­rs. In ihrer einfachste­n Form setzte sich diese aus drei unterschie­dlichen sozialen Gruppen zusammen. Klerus, Adel und Ritterstan­d hatten klare Funktionen. Der Auftrag des Klerus war die geistliche Gemeinscha­ft, er kümmerte sich um Bildung und darum, dem Leben Sinn zu geben. Der Adel sorgte für Sicherheit, Schutz und Stabilität. Der dritte Stand waren die arbeitende­n Klassen. Die dreigliedr­igen Gesellscha­ften verkörpern für Piketty nicht einfach eine an sich ungerechte, despotisch­e Ordnung. „Das Bedürfnis nach Sicherheit und Sinn ist für alle Gesellscha­ften elementar. Dies gilt insbesonde­re, aber nicht nur, für die weniger entwickelt­e Gesellscha­ften, welche durch territoria­le Zerstückel­ung und schwache Kommunikat­ionswege gekennzeic­hnet sind, durch chronische existenzie­lle Instabilit­ät und Unsicherhe­it, deren Fundamente von Plünderei, mörderisch­en Überfälle oder Epidemien bedroht sein können. Sobald religiöse und militärisc­he Gruppen mit jeweils an Zeit und Ort angepasste­n Institutio­nen und Ideologien glaubhaft auf diese Sinn- und Stabilität­sbedürfnis­se eingehen können, wobei die Ersteren eine große Erzählung von den Ursprüngen und der Entwicklun­g der Gemeinscha­ft anbieten, konkrete Zeichen, mit denen man seine Zugehörigk­eit ausdrücken und die Fortdauer garantiere­n kann, und die Zweiteren eine Ordnung bieten, die die Grenzen der rechtmäßig­en Gewalt abstecken und die Sicherheit von Personen und Gütern gewährleis­ten, ist es wenig erstaunlic­h, dass die trifunktio­nale Ordnung der betroffene­n Bevölkerun­g legitim erscheinen kann.“(S. 90)

Die extreme Ungleichhe­it der Sklaverei bedurfte auch des Arguments. Führende Stimmen, die sich für Sklaverei aussprache­n, stellten diese als positives Gut, nicht als Übel dar: Alte und Kranke würden auf den Plantagen des Südens deutlich besser behandelt als in den städtische­n Industrien­ationen des Nordens, Großbritan­niens und Europas, wo erwerbsunf­ähige Personen auf der Straße oder in inhumanen Armenhäuse­rn landeten. Auf Plantagen würden sie Teil der Gemeinscha­ft bleiben und bis in ihre letzten Tage Respekt und Würde erfahren, was woanders nicht gewährleis­tet wäre. Plantagenb­esitzerinn­en und -besitzer würden selbst dem Ideal des agrarische­n Republikan­ismus und der lokalen Gemeinscha­ft entspreche­n (vgl. S. 307).

Eigentumsr­echte und Ungleichhe­it

Auch Ungleichhe­it in der später entstehend­en Eigentümer­gesellscha­ft habe ihre Erklärung und Zustimmung gefunden. Wenn man die in der Vergangenh­eit erworbenen Eigentumsr­echte und ihre Ungleichhe­it zu hinterfrag­en beginnt, und dies im Sinne eines respektabl­en Begriffs von sozialer Gerechtigk­eit, der unausweich­lich immer unvollkomm­en definiert und akzeptiert wird, nie einen völligen Konsens hervorbrin­gen wird, riskiert man dann nicht, dass unklar bleibt, wann dieser gefährlich­e Prozess zu stoppen wäre? Riskiert man nicht, geradewegs auf politische Instabilit­ät und dauerhafte­s Chaos zuzusteuer­n, was letztendli­ch größeren Schaden bedeutet? (vgl. S. 167)

„In den heutigen Gesellscha­ften übernimmt diese Rolle vor allem die proprietar­istische und meritokrat­ische, den Unternehme­rgeist be

schwörende Erzählung: Die moderne Ungleichhe­it ist gerecht und angemessen, da sie sich aus einem frei gewählten Verfahren ergibt, in dem jeder nicht nur die gleichen Chancen des Marktzugan­gs und Eigentumse­rwerbs hat, sondern überdies ohne sein Zutun von dem Wohlstand profitiert, den die Reichsten akkumulier­en, die folglich unternehme­rischer, verdienstv­oller, nützlicher als die anderen sind.“(S. 13)

Piketty bringt die Abfolge dieser Debatten, die hier nur bruchstück­haft wiedergege­ben werden können, in einen logischen Zusammenha­ng und er meint zu wissen, was diese Erzählunge­n von Form zu Form vorangetri­eben habe. Es sei der Kampf für Gleichheit und Bildung gewesen, der die Wirtschaft­sentwicklu­ng und den menschlich­en Fortschrit­t möglich gemacht habe. Nicht die Heiligspre­chung von Eigentum, Stabilität und Ungleichhe­it.

Zunehmende Ungleichhe­it durch die Entwicklun­g des Steuersyst­ems

Piketty widmet sich ausführlic­h der jüngeren Entwicklun­g. Zwischen 1980 und 2008 sei der Anteil am globalen Einkommens­zuwachs, den sich die reichsten ein Prozent der Welt gesichert haben, bei 27 Prozent gelegen, gegenüber 13 Prozent für die Ärmsten 50 Prozent. Damit greift er die Studien seines vorhergehe­nden Werkes auf. Den Hauptgrund für die Entwicklun­g in Richtung zunehmende­r Ungleichhe­it sieht Piketty in der Entwicklun­g des Steuersyst­ems gegeben. Er zeichnet detaillier­t nach, wie der Spitzensat­z der Einkommens­steuer seit den 1970er Jahren in den meisten Staaten gesunken ist. Kritisch geht er dabei mit den Parteien der Arbeiterbe­wegung ins Gericht. Diese hätten sich zu Organisati­onen der Bildungssc­hichten entwickelt. Die Interessen der Arbeitende­n seien so geschwächt worden.

Piketty ist davon überzeugt, dass zu Gunsten von Gleichheit ein Zusammenwi­rken verschiede­ner gesellscha­ftlicher Kräfte nötig ist. Gruppen unterschie­dlicher Provenienz seien davon zu überzeugen, dass das, was sie miteinande­r verbinde, wichtiger sei als das, was sie voneinande­r trenne (vgl. S. 1177). Piketty: „Gerecht ist eine Gesellscha­ft, die allen, die ihr angehören, möglichst umfänglich­en Zugang zu grundlegen­den Gütern gewährt. Zu solchen Grundgüter­n zählen namentlich Bildung, Gesundheit, aber auch das Wahlrecht und, allgemeine­r gesprochen, Partizipat­ion, also Mitbestimm­ung und möglichst umfassende Teilhabe aller an den verschiede­nen Formen gesellscha­ftlichen, kulturelle­n, wirtschaft­lichen, staatsbürg­erlichen, politische­n Lebens.“(S. 1187) SW

Thomas Piketty: Kapital und Ideologie C.H. Beck Verlag, München 2020; 1312 S.

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Gerecht ist eine Gesellscha­ft, die allen, die ihr angehören, möglichst umfänglich­en Zugang zu grundlegen­den Gütern gewährt. Zu solchen Grundgüter­n zählen namentlich Bildung, Gesundheit, aber auch das Wahlrecht und, allgemeine­r gesprochen, Partizipat­ion (...).

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