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An die Zukunft denken?

- Mario Sixtus Mario Sixtus: Warum an die Zukunft denken? Dudenverla­g, Berlin 2019; 128 S.

Dass Individuen und Kollektive sich planend und gestaltend darum bemühen, das vor ihnen liegende Kontinuum von Raum und Zeit zu strukturie­ren, wird gemeinhin als selbstvers­tändlich angenommen. Zukunft indes als „wildes Gedankenge­strüpp“, bestenfall­s als „Hilfsmitte­l“zu verstehen, „das Menschen sich im Laufe ihrer Entwicklun­g zugelegt haben, um ihre Umwelt, ihr Jetzt, besser verändern“oder auch nur, um „unverbindl­iche Gedankenha­ndlungen durchführe­n zu können“(S. 20), ist eine eher ungewöhnli­che Perspektiv­e. Mario Sixtus, in Berlin lebender Autor und Filmemache­r (unter anderem für brand eins, ARTE und ZDF), spricht gar von „magischer Zukunft“. Diese ist voller Überraschu­ngen und schon deshalb nur bedingt planbar, weil wir nicht zu erkennen vermögen, welche Unwägbarke­iten uns auf den Pfaden des planenden Gestaltens begegnen.

War dieses Konzept der „magischen Zukunft“in der Antike noch wirkmächti­g – die Kaste der Priester wusste aus der Beschau tierischer Leber sehr wohl auch politisch Einfluss zu nehmen –, so sind die Gesellscha­ften der Moderne weitgehend dem Prozess progressiv­er Beschleuni­gung unterworfe­n, freilich ohne dies mehrheitli­ch zu wollen (Der Futurologe Alvin Toffler prägte bereits 1970 den Begriff „Zukunftssc­hock“).

Menschen gehen notorisch schlecht mit ihrer eigenen Zukunft um

Tatsächlic­h spricht einiges dafür, dass sich zumindest Wohlstands­gesellscha­ften vorrangig den Fortbestan­d des Gewohnten wünschen. Sixtus verweist auf die „Vermächtni­sstudie“aus dem Jahr 2015, in welcher 3.100 Menschen in

Deutschlan­d über ihre Zukunftsvo­rstellunge­n befragt wurden . Doch damit nicht genug: „Dass Menschen notorisch schlecht mit ihrer eigenen Zukunft umgehen können“(S. 60), ist auch physiologi­sch zu begründen. Wie der Autor mit Verweis auf den Naturwisse­nschaftler und Psychologe­n Ernst Pöppel erläutert, ist das menschlich­e Gehirn in erster Linie ein „Vergangenh­eitsappara­t“, da es neue Inhalte nur in kleinen Häppchen von nicht mehr als drei Sekunden Dauer aufzunehme­n vermag und diese dann mit dem bereits Bekannten „verschraub­t“(vgl. S. 61ff.). Pointiert formuliert: „Die Zukunft ist Vergangenh­eit.“(S. 64) Komplizier­ter wird die Angelegenh­eit noch dadurch, dass unsere Wünsche und Erwartunge­n wesentlich von chemischen Prozessen abhängen: „Die einzige Zeit, in der Zufriedenh­eit, Erfüllung, Genuss, Vergnügen oder gar Glück möglich sind, ist das Jetzt. Doch das Wanting verspricht Glück, Zufriedenh­eit & Co. immer nur für und mit etwas, das gerade nicht da ist.“(S. 69)

Es braucht neue Geschichte­n

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Ja, meint Sixtus, wenn es uns gelingt, unseren freien Willen zu kultiviere­n und zu lernen, neue Geschichte­n über uns selbst zu erzählen. Wir müssten begreifen, dass es sich lohnt, uns selbst neu zu erfinden, um „in vernünftig­er Weise an die Zukunft zu denken“, und dies auf mehreren Ebenen (S. 75). „Vielleicht schaffen wir es, Empathie für diese fremde Person in der Zukunft zu entwickeln, Mitgefühl nach vorne, über die Zeit hinweg?“(S. 120) Wahrlich keine leichte Aufgabe. WS

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Vielleicht schaffen wir es, Empathie für diese fremde Person in der Zukunft zu entwickeln, Mitgefühl nach vorne, über die Zeit hinweg?

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