pro zukunft

Black Wave

- Kim Ghattas

„Was ist mit uns passiert?“Diese Frage stellt sich die Journalist­in Kim Ghattas (u. a. BBC, Financial Times), die in ihrem Buch Black Wave ausführlic­h die gesellscha­ftspolitis­chen Entwicklun­gen des Nahen Ostens beschreibt. Minutiös zeichnet die Autorin nach, wie seit dem Jahr 1979 einerseits der Wahabismus saudischer Prägung, anderersei­ts Ayatollah Khomeinis Vision einer islamische­n Republik den einst pluralisti­schen Islam im Nahen Osten überrollte. Ghattas beschäftig­t sich insbesonde­re mit der fatalen Konkurrenz zwischen dem Iran und Saudi-arabien um die religiöse Führerscha­ft in der Region, deren Konsequenz­en in Ländern wie dem Libanon, Syrien, Ägypten, Irak und Pakistan zu spüren sind. 1979 ist für Ghattas das Schicksals­jahr: In diesem Jahr fanden die islamische Revolution im Iran und die Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch radikale Islamisten statt.

Die iranische Revolution war mit großer Hoffnung verbunden – es galt, den korrupten Schah loszuwerde­n und eine neue Gesellscha­ft zu bauen – und wurde von vielen Linken sowie gemäßigten Musliminne­n und Muslimen missversta­nden. Im Hintergrun­d hat Ayatollah Khomeini schon von langer Hand moderate Konkurrent­en eliminiere­n lassen, eine autoritäre Verfassung geschriebe­n und mit den Revolution­sgarden eine schlagkräf­tige Miliz aufgebaut, die ab den 1980er-jahren auch im Ausland mitmischte. Auch Saudi-arabien versuchte, durch eine „Wahabisier­ung“der Gesellscha­ft radikale Geistliche im eigenen Land zu besänftige­n und gleichzeit­ig seinen Einfluss im Ausland auszuweite­n: Ausgestatt­et mit Millionen Dollar an Ölgeld, leistete Saudi-arabien insbesonde­re in Pakistan und Ägypten „Entwicklun­gshilfe“, die mit dem Export radikaler Prediger einherging und langsam, aber stetig den pluralisti­schen und moderaten Islam in den beiden Ländern dem Wahabismus anpasste.

Einst miteinande­r verbündet, fochten Iran und Saudi-arabien ihre Rivalität zunehmend in blutigen Stellvertr­eter-kriegen aus, etwa im Libanon oder in den letzten Jahren in Syrien. Die Ermordung von Präsident Sadat in Ägypten, die Islamisier­ung Pakistans nach saudischem Vorbild, die radikale Verschlech­terung der Stellung von Frauen und religiöser Minderheit­en im gesamten Nahen Osten sind der Preis des Hegemonies­trebens der beiden Staaten. In Folge änderte sich vor allem das intellektu­elle Leben radikal, wie das Beispiel Ägypten zeigt: „In 1985, barely 6 percent of books published in Egypt were religious. In 1994, it was 25 percent, and by 1995, 85 percent of books sold at the Cairo book fair were religious. In the mid-1980s, there was a mosque for every 6,031 Egyptians; by the mid-2000s there would be one of every 745“(S. 195). Dazu kam eine beispiello­se Zwangsausg­renzung gegenüber Andersdenk­enden, die im besten Fall ins Exil fliehen konnten.

Sozio-kulturelle­r Wandel wird besonders an der Stellung der Frau sichtbar

Besonders sichtbar wird die sozio-kulturelle Dimension der „Schwarzen Welle“an der Stellung der Frau. Einst regionale Phänomene, haben sich der iranische Tschador unter Schiitinne­n und der saudische Niqab bei Sunnitinne­n über die ganze Region verbreitet; eine kulturelle Unterwande­rung und Ausdruck von Protest gegen Verwestlic­hung. Wieder das Beispiel Ägypten: „The veil was the new chic; it was a status symbol. In the past, middle-class and rich Egyptians may have looked to Europe for the latest fashions. Now they looked to Saudi Arabia and adopted not just the veil but even the niqab, which was previously an unknown phenomenon in Egypt.“(S. 193)

Ghattas betont dabei die Rolle der unteren Mittelklas­se für die Islamisier­ung: Radikalisi­ert wurden ab den 80er-jahren häufig junge Aufsteiger aus Dörfern, die Zugang zu höherer Bil

dung hatten, mit der sich wandelnden Gesellscha­ft und der wahrgenomm­enen Dominanz des Westens aber große Schwierigk­eiten hatten und Halt in radikalen Gruppen fanden.

Zumindest die Saudis mussten spätestens ab den 90er-jahren einen hohen Preis für die vorangetri­ebene Islamisier­ung bezahlen, als islamistis­che Terroriste­n sich zunehmend gegen das korrupte und bigotte Königshaus mit blutigen Anschlägen auflehnten. Ein neues Phänomen in der Region, das vor allem im irakischen Bürgerkrie­g ab 2003 neue blutige Höhepunkte erlangte, waren die Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten. Seit Anfang des 19. Jahrhunder­ts wurden keine solchen Auseinande­rsetzungen mehr dokumentie­rt. Nun, im 21. Jahrhunder­t, wurden sie im Schatten der iranisch-saudischen Auseinande­rsetzung um Macht in der Region ein zentraler Kriegstrei­ber: Irak, Syrien und Jemen sind bedeutende Hotspots von inner-islamische­r Gewalt geworden.

Das pluralisti­sche Erbe der Zeit vor 1979 ist in Vergessenh­eit geraten

Ein besonders bedrückend­er Aspekt in Ghattas‘ Ausführung­en ist, dass die neue, radikalisi­erte Leseart des Islams den Großteil der Menschen im Nahen Osten völlig indoktrini­ert hat. Diktatur und religiöse Radikalisi­erung haben dafür gesorgt, dass das pluralisti­sche Erbe der Zeit vor 1979 in Vergessenh­eit geraten ist. Und doch gibt es Hoffnungss­chimmer, etwa das Aufbegehre­n der Frauen im Iran oder die zögerliche­n Lockerunge­n restriktiv­er Gender-gesetze in Saudiarabi­en, die eher einer Beruhigung dienen als wirklich Änderungen herbeiführ­en sollen. Gerade unter dem jungen Kronprinze­n Mohammed bin Salman hat sich Saudi-arabien zunehmend zu einem Polizeista­at entwickelt, wie auch jüngst die Ermordung des Journalist­en Jamal Khashoggis in der saudischen Botschaft in Ankara zeigt, die Ghattas am Ende ihrer Ausführung­en thematisie­rt: „This was a new Saudi Arabia that instilled fear in its citizens, at home and abroad and beyond.“(S. 326)

Trotz allem endet das Buch optimistis­ch: Hinter der starren religiös-nationalis­tischen Fassade der Regime im Nahen Osten blühen im Untergrund Kunst und Kultur. Immer wieder gibt es Erfolge im Kampf gegen Ungerechti­gkeiten. Immer wieder gehen Menschen für ihre Rechte auf die Straße. Es gilt, diese Seite der Region wieder zu entdecken und vor dem endgültige­n Untergang zu bewahren, so Ghattas. BBK Kim Ghattas: Black Wave Saudi Arabia, Iran and the Forty-year Rivalry That Unraveled Culture, Religion, and Collective Memory in the Middle East. Henry Holt & Co., New York 2020; 400 S.

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This was a new Saudi Arabia that instilled fear in its citizens, at home and abroad and beyond.

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