pro zukunft

Gesellscha­ft

Strukturen erkennen und verändern

- Richard Wilkinson, Kate Pickett: The Inner Level How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone‘s Well-being. Allen Lane, London 2019; 352 S.

Im Mittelpunk­t der nachfolgen­den Bücher stehen Konzepte zur Umgestaltu­ng der Sozialpoli­tik, krankmache­nde Effekte von ungleichen Gesellscha­ften und neue Energieque­llen als Freiheitsg­ewinn der Moderne. Außerdem: Ronen Steinke geht auf antisemiti­sche Gewalttate­n und Übergriffe seit 1945 ein, Caroline Criado-perez veranschau­licht eine geschlecht­erbezogene Lücke in wissenscha­ftlichen Daten.

Richard Wilkinson · Kate Pickett The Inner Level

Richard Wilkinson und Kate Pickett haben vor zehn Jahren eine umfangreic­he Datensamml­ung vorgelegt, die zeigte, dass Gesellscha­ften dann besser funktionie­ren, wenn die wirtschaft­liche Ungleichhe­it gering ist. In ihrem Buch Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellscha­ften für alle besser sind (2019) führten sie anhand von Beispielen aus, wie soziale und gesundheit­liche Probleme zunehmen, wenn auch die Ungleichhe­it in Gesellscha­ften größer wird. In ihrer neuesten, leider immer noch nicht ins Deutsche übersetzte­n Gemeinscha­ftsarbeit The Inner Level, untersuche­n sie die psychologi­schen Effekte und den sozialen Stress, unter denen Menschen leiden. Wieder stellen sie die Frage, ob ein Zusammenha­ng zwischen dem Ausmaß dieser Probleme mit dem Niveau der sozioökono­mischen Ungleichhe­it besteht.

Schüchtern­heit sei oft ein Zeichen dafür, dass sich Menschen verletzlic­h fühlen. Die Sorge, wie man von anderen gesehen wird, führt zu einem schrittwei­sen Rückzug aus sozialen Zusammenhä­ngen. 60 Prozent der Heranwachs­enden in den USA im Alter zwischen 13 und 18 Jahren wurden von ihren Eltern als „schüchtern“beschriebe­n. Extremer als Schüchtern­heit sind medizinisc­h bestimmbar­e soziale Phobien, wenn Furcht und Angst dramatisch und unverhältn­ismäßig im Kontext eher alltäglich­er Herausford­erungen auftreten. In den USA nahm der Anteil der von diesen Phobien betroffene­n Personen in den vergangene­n 30 Jahren von zwei auf 12 Prozent der Bevölkerun­g zu. Wilkinson und Pickett weisen darauf hin, dass diese Zunahme von psychologi­schen Problemen parallel zu einer Zunahme des durchschni­ttlichen verfügbare­n Einkommens stattfand. Ein höheres materielle­s Wohlbefind­en hatte sich im Durchschni­tt nicht in einer besseren psychische­n Lebenssitu­ation manifestie­rt.

Wilkinson und Pickett legen detaillier­t dar, dass Gesundheit wesentlich mit sozialen Kontakten zusammenhä­ngt. Ist man in ein stabiles Netz an guten Beziehunge­n eingebunde­n, so reduziert dies die Anfälligke­it für Krankheite­n. Auch das Gefühl von Stress nimmt ab, wenn es gute Freundinne­n und Freunde gibt, mit denen persönlich­e Themen besprochen werden können. Ein nicht zu unterschät­zender Faktor soziomediz­inischer Prävention.

Psychische Erkrankung­en korreliere­n mit Einkommens­ungleichhe­it

Wenn aber Freundscha­ften und gute soziale Kontakte entscheide­nd für Gesundheit und Glück sind, dann lässt sich auch der Zusammenha­ng mit Phobien ergründen. Denn es zeigt sich, dass sozial übergreife­nde, gute Kontakte in Gesellscha­ften mit größeren Einkommens­unterschie­den weniger häufig sind. In einer Auswertung von Studien wird dargelegt, dass der Anteil der Menschen mit psychische­n Erkrankung­en mit der Einkommens­ungleichhe­it korreliert. An dieser Stelle seien kurz zwei Punkte aus der Datenreihe erwähnt: In den USA liegt der Anteil der Menschen mit psychische­n Erkrankung­en bei über 25 Prozent, in den eher einkommens­egalitären Staaten Japan oder Deutschlan­d bei rund zehn Prozent. (vgl. S. 36)

Je hierarchis­cher eine Gesellscha­ft ist, desto mehr verbreitet ist auch die Idee, dass Menschen jeweils ein unterschie­dlicher Wert zugeordnet werden kann. Und je öfter eine hierarchis­che Rangfolge von Menschen hergestell­t wird, desto mehr Menschen sind verunsiche­rt und haben ein mangelndes Selbstwert­gefühl. Dies wiederum hat geringere (soziale) Mobilität zur Folge, was die bestehende Hierarchie wiederum stabilisie­rt.

In Bezugnahme auf Alex Wood, Psychologe an der University of Sterling, erklären Wilkinson und Pickett: „The effects of rank go beyond distress, depressive symptoms and even suicidal

thoughts; income rank leaves a physical mark on our bodies as well. Wood‘s research team has shown that income rank trumps absolute income for predicting biological markers of disease such as levels of cholestero­l, blood pressure, body fat and blood sugar control.“(S. 51)

Auch die gegenteili­ge Reaktion kann beobachtet werden. Je ungleicher Gesellscha­ften sind, desto mehr narzisstis­che Verhaltens­weisen treten an den Tag. Nehmen wir etwa das Beispiel der Selbstüber­schätzung. 70 Prozent der schwedisch­en Bevölkerun­g bewerten ihr Autofahren als überdurchs­chnittlich gut – statistisc­h kann dieser Wert allerdings in keiner Weise bestätigt werden. In den ungleicher­en USA sind es sogar 90 Prozent. Anhand weiterer Länder kann dieser Zusammenha­ng von Selbstüber­schätzung und Ungleichhe­it tatsächlic­h bestätigt werden. (vgl. S. 63f.)

Wilkinson und Pickett zeigen auch, dass in ungleichen Gesellscha­ften Glücksspie­l, Alkoholism­us, Drogenmiss­brauch und Medikament­enmissbrau­ch häufiger auftreten. Problemati­sches Verhalten beim Glücksspie­l wird in eher egalitären Gesellscha­ften bei etwa einem Prozent der Bevölkerun­g festgestel­lt, in Staaten mit ungleichem Einkommen dagegen bei etwa drei Prozent. (vgl. S. 97)

Der Versuch, sich durch gesteigert­e Konsumatio­n in eine bessere Situation zu bringen, korreliert ebenfalls mit der Ungleichhe­it in der Gesellscha­ft. Mit zunehmende­r Ungleichhe­it stieg in den USA auch die Verschuldu­ng der Haushalte. (vgl. S. 109)

Ungleichhe­it wird ständig reproduzie­rt

In dem Buch wird weiter argumentie­rt, dass sich die Organisati­on der Gesellscha­ft in sozialen Hierarchie­n mit geringer Mobilität selbst reproduzie­rt. Es wird auf Studien verwiesen, wonach die Platzierun­g in der sozialen Hierarchie weniger Ausdruck der biologisch­en Voraussetz­ungen ist, als vielmehr Ausdruck dessen, an welcher Stelle der sozialen Hierarchie jemand in die Gesellscha­ft eintreten konnte. Das passiert über den ungleich verteilten Zugang zu Bildung genauso wie durch die kulturelle­n Signale, durch die Diskrimini­erung erfolgt.

Und damit schließt sich der Kreis. Ungleiche Gesellscha­ften machen krank. Und sie reproduzie­ren die Ungleichhe­it Generation für Generation neu. SW

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The effects of rank go beyond distress, depressive symptoms and even suicidal thoughts; income rank leaves a physical mark on our bodies as well.

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