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Unsichtbar­e Frauen

- Caroline Criado-perez: Unsichtbar­e Frauen Wie eine von Daten beherrscht­e Welt die Hälfte der Bevölkerun­g ignoriert. btb Verlag, München 2020; 496 S.

Es geht um Systeme und Prozesse, die von Männern geschaffen wurden. Und es geht vor allem darum, wie die Ignoranz der weiblichen Perspektiv­e in diesen Systemen vorerst das Leben der Frauen in unserer Welt gefährlich­er, einsamer, unglücklic­her und sogar tödlicher macht. Darüber hinaus führt sie zu schlechter­en politische­n, gesellscha­ftlichen und ökonomisch­en Entscheidu­ngen. Für Freundinne­n und Freunde des ökonomisch­en Arguments: Es kostet uns Geld, viel Geld. Ganz im Gegenteil, wie zum Beispiel eine zitierte Studie der Universitä­t Yale zur sanitären Versorgung in südafrikan­ischen Townships zeigt, kann der Einbezug der weiblichen Perspektiv­e die öffentlich­e Hand über die notwendige­n Investitio­nen hinaus entlasten. (vgl. S. 79f.)

Mit Unsichtbar­e Frauen liegt das erste Buch von Caroline Criado-perez in deutscher Übersetzun­g vor, es folgt dem schon 2015 publiziert­en, aber bisher nur auf Englisch erschienen Do it like a woman, in welchem ausgewählt­e Pionierinn­en aus unterschie­dlichsten Bereichen vorgestell­t werden. Die in Brasilien geborene Journalist­in und Aktivistin studierte an der Universitä­t Oxford und an der London School of Economics and Political Science englische Literaturw­issenschaf­ten sowie Gender Studies. Öffentlich bekannt wurde sie 2012 durch ihren Einsatz für Gleichbere­chtigung und Diversität in den Medien, für welchen sie 2015 mit dem Ritterorde­n Officer of the British Empire gewürdigt wurde. 2013 leitete Criado-perez weiterhin eine Kampagne gegen die Bank of England, die dazu führte, dass seit 2017 mit Jane Austen auch wieder eine historisch bedeutsame Frau auf der Rückseite englischer Pfund-noten abgebildet wird. Als Grundlage für das hier vorgestell­te Werk recherchie­rte sie über vier Jahre, den Zeitraum nützte sie unter anderem für zahlreiche Interviews mit Expertinne­n und Experten.

Eine geschlecht­erbezogene Lücke in den wissenscha­ftlichen Daten

Die zentrale These des Buchs ist, dass „eine geschlecht­erbezogene Lücke in den wissenscha­ftlichen Daten, eine Gender Data Gap“(S. 11) existiert, und dass eben diese Lücke eine „dezidiert weibliche Form“(ebd.) hat. In dem was folgt, schreibt Criado-perez kein weibliches Pamphlet (wie es an anderer Stelle genannt wurde), sondern viel mehr ein eindrucksv­oll recherchie­rtes Sachbuch, das für alle relevant ist, die unsere Welt gerechter machen wollen. In sechs gesellscha­ftlichen Bereichen (Alltag, Arbeit, Design, Medizin, Politik, Krisen) prüft die Autorin umfassend die wissenscha­ftliche Datenlage und zeigt auf, dass uns geschlecht­erspezifis­che Daten fehlen – was in der Konsequenz häufig zu schlechter­en Entscheidu­ngen führt. Auch veranschau­licht sie, dass in den Fällen, wo geschlecht­erspezifis­che Daten existieren, diese oftmals ignoriert werden (z.b. bei Sicherheit­stests im Straßenver­kehr). An diesen Stellen überrascht und informiert die Offenlegun­g der Schieflage nicht mehr nur, sie konsternie­rt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Autorin im Bereich Entreprene­urship schildert, welche respektlos­en Erfahrunge­n Entwickler­innen von weiblichen Medizinpro­dukten mit einer von Männern dominierte­n Investoren­gruppe machen mussten. (vgl. S. 232ff.)

Ein herausrage­ndes Sachbuch

Was dieses Buch zu einem herausrage­nden Sachbuch macht, ist unter anderem die ausgewogen­e Informatio­nsdarlegun­g. Dort, wo Beispiele existieren, dass geschlecht­erspezifis­che Daten erhoben und berücksich­tigt werden, führt Criado-perez diese an. Beispielsw­eise bei Quartierse­ntwicklung­sprojekten in Wien (FrauenWerk-stadt I-III; S. 71), welche – auf Grundlage geschlecht­sspezifisc­her Daten zur aufgewende­ten Zeit für Haushalt und Kinderbetr­euung (Frauen verbringen in der Regel doppelt so viel Zeit wie Männer mit unbezahlte­r Care-arbeit) – speziell an diesen Bedürfniss­en ausgericht­et gestaltet wurden. Criado-perez‘ Analyse beleuchtet auch, dass Big Data, entgegen vielerlei Hoffnungs- und Erwartungs­haltungen, keine Lösung ist, „[w]enn die Zahlen, mit denen die statistisc­hen Algorithme­n gefüttert werden, fast die Hälfte der Bevölkerun­g nicht abbilden“(S. 415), sondern vielmehr das herrschend­e System und seine Verzerrung­en reproduzie­rt – wie zum Beispiel bei Google geschehen.

Nun haben die meisten von uns nicht dazu beigetrage­n, dass das System so ist, wie es ist (und Caroline Criado-perez geht nicht davon aus, dass es bewusst oder absichtlic­h herbeigefü­hrt wurde), und doch tragen wir eine Verantwort­ung etwas daran zu verändern, wenn wir in einer gerechtere­n Welt leben möchten. Der vorgeschla­gene Ansatzpunk­t ist elegant wie pragmatisc­h: „Die Datenlücke (…) lässt sich recht einfach schließen, nämlich indem man die Frauen fragt.“(S.236) Ja, und wahrschein­lich werden wir noch weitere Instrument­e brauchen. Ein Buch, dass zum Nach- und Weiterdenk­en sowie zum Dialog anregt. MF

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Die Datenlücke (…) lässt sich recht einfach schließen, nämlich indem man die Frauen fragt.

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