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Utopien und Sozialpoli­tik

- Gisela Kubon-gilke, Remi Maier-rigaud: Utopien und Sozialpoli­tik Über die Orientieru­ngsfunktio­n von Gesellscha­ftsmodelle­n. Metropolis Verlag, Marburg 2020; 258 S.

Sozialpoli­tik hat die Aufgabe, Menschen in krisenhaft­en Lebenssitu­ationen zu unterstütz­en und zu starke Ungleichhe­iten im Wirtschaft­ssystem auszugleic­hen. Der Wohlfahrts­staat gilt als Korrektiv gegenüber dem Marktversa­gen und den Zerrüttung­en des Kapitalism­us. Aktuelle Kritik an der Sozialpoli­tik bezieht sich auf ihre Starrheit gegenüber demografis­chen Verschiebu­ngen, auf ihre Funktion als SymptomBeh­andlerin, als Legitimati­onsbeschaf­ferin für den Status quo sowie generell auf die schwindend­e Fähigkeit, Armut und Ungleichhe­it entgegenzu­wirken. Gisela Kubon-gilke und Remi Maier-rigaud stellen die Frage, wie diesem Reformstau angesichts neuer Herausford­erungen wie Digitalisi­erung, Klimawande­l oder Pandemien (!) entgegenge­wirkt und wie neue Gesellscha­ftsutopien hierfür fruchtbar gemacht werden können. In ihrer vergleiche­nden Analyse beziehen sie sich auf „Realutopie­n“, welche „gesellscha­ftliche Entwicklun­gsmöglichk­eiten aufzeigen und gleichzeit­ig Stärken und Schwächen der gegenwärti­gen Gesellscha­ftsordnung identifizi­eren“(S. 26). „Konsistent­e, in sich geschlosse­ne Gedankenge­bäude“, die wünschensw­erte Alternativ­en beschreibe­n, bezeichnen die Autorinnen dabei als „Sozialgest­alten“, die sie von lediglich vagen „sozialen Ideen“abgrenzen (S. 28f.). Als Analysekri­terien gelten ihnen dabei Wünschbark­eit, Gangbarkei­t und Erreichbar­keit, ergänzt um die Aspekte Partizipat­ion und Offenheit.

Sozialpoli­tik und Kapitalism­us

Sozialpoli­tik stütze in einem dialektisc­hen Sinne einerseits den Kapitalism­us, schwäche ihn aber gleichzeit­ig und fördere „die schrittwei­se Transforma­tion zur neuen partizipat­iveren, demokratis­cheren Sozialgest­alt“(S. 81), so die beiden. Anders: Solange eine Ordnung als stabil wahrgenomm­en wird, komme es zu keinen nennenswer­ten Veränderun­gen. „Viele kleine Dissonanze­n können [jedoch] Sozialgest­alten und das Verhältnis von Markt- und Staatsgest­alt instabil werden lassen und den Kairos für neue Sozialgest­alten eröffnen.“(S. 142) Aktuell befänden wir uns in einer solchen Umbruchsze­it: zunehmende Ungleichhe­it, Erosion der Normalarbe­itsverhält­nisse oder die wachsenden ökologisch­en Krisen seien Belege dafür.

In ihrer umfangreic­hen Analyse bewerten Kubon-gilke und Maier-rigaud diverse Ansätze wie einen „demokratis­chen Sozialismu­s“(Heimann, Wright), einen „progressiv­en Kapitalism­us“(Stiglitz), den herrschaft­sfreien Diskurs (Habermas), die „reduktive Moderne“(Welzer), die christlich­e Sozialethi­k, die Genossensc­haftsbeweg­ung sowie Modelle der Wirtschaft­sdemokrati­e mit neuen Eigentümer­rechten (Varoufakis u. a.) oder Staatsbete­iligungen und Staatsfond­s (Corneo, Atkinson). In der Reflexion des Übergangs vom „Kausal- zum Finalprinz­ip“(S. 155), also von der defizitori­entierten hin zu einer präventive­n Sozialpoli­tik, die „widerstand­sfähige Lebensweis­en fördert, ohne ins Paternalis­tische zu kippen“(S. 156), werden auch neue Ansätze wie eine Bürgervers­icherung, ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen sowie die negative Einkommens­teuer erörtert. Nach Einschätzu­ng der Autorinnen und Autoren notwendige Ansätze, die von der Erwerbszen­trierung der Sozialsyst­eme wegführen. Im Kontext von Nachhaltig­keit werden auch die Postwachst­umsbewegun­g (exemplaris­ch Sommer/welzer, Seidl/zahrndt), der Konviviali­smus (Manifest für eine „neue Kunst des Zusammenle­bens“, S. 211) sowie die Gemeinwohl­ökonomie (Felber, „trotz aller anregenden Gedanken (noch) keine Realutopie“, S. 222) behandelt. Der Fokus – das ist eine der Stärken des Buches – liegt auf den möglichen Transforma­tionswegen im Dreieck zwischen Wirtschaft, Staat und Zivilgesel­lschaft sowie der Balance zwischen Eigeninter­esse und Gemeinwohl bzw. Reziprozit­ät.

Gute Zusammensc­hau über Neuansätze

Kubon-gilke und Maier-rigaud geben eine gute Zusammensc­hau über unterschie­dliche Neuansätze, sie halten sich mit eigenen Wertungen zurück, zitieren vielmehr Pro-contra-stimmen aus der wissenscha­ftlichen Literatur, überprüfen die Modelle jedoch an ihren Kriterien, der Wünschbark­eit, Gangbarkei­t und Erreichbar­keit. Deutlich wird, dass geschlosse­ne, revolution­äre Utopien weitgehend passé sind, schrittwei­se Umgestaltu­ngen überwiegen, was diese von bisherigen Reformen lediglich durch die Tiefe der Eingriffe unterschei­det. Was wohl mit dem von Claus Offe zitierten B efundzusam­menhängt, dass der S o zialstaat wohl ein Korrektiv zur typisch kapitalist­ischen Wirtschaft­sstruktur sei, gleichzeit­ig aber auch von dessen Funktionie­ren abhänge: „Sozialstaa­t und Kapitalism­us gingen sozusagen ein symbiotisc­hes Verhältnis ein.“(S. 154). Auffallend an den Befunden bleibt freilich, dass Politik als Gestalteri­n des Staates zwar erwähnt wird, die Rolle politische­r Parteien oder auch der Gewerkscha­ften aber kaum benannt wird. Vielmehr gibt der Band einen exzellente­n Einblick in die aktuellen sozialwiss­enschaftli­chen Konzepte zur Umgestaltu­ng der Sozialpoli­tik. HH

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Die Unterstütz­ung des aktuellen Systems scheint insgesamt nicht mehr allgemeine­r gesellscha­ftlicher Konsens zu sein und das Denken in Alternativ­en bekommt Aufwind (…).

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