pro zukunft

Ich bin hier, und alles ist jetzt

- Edith Eva Eger: Ich bin hier, und alles ist jetzt Warum wir uns jederzeit für die Freiheit entscheide­n können. btb Verlag, München 2018; 477 S.

Viktor E. Frankl erinnert sich in ... trotzdem ja zum Leben sagen (1946) an seine Zeit in deutschen Konzentrat­ionslagern und schreibt einen psychologi­schen Bericht, der die Phasen der Entmenschl­ichung für Häftlinge darstellt, vor allem auch darauf hinweist, dass es unter den widrigsten Umständen möglich, ja für das Überleben notwendig ist, einen Sinn im Leben zu erkennen; welche Einstellun­g man gegenüber gegebenen Verhältnis­sen einnimmt, ist die letzte menschlich­e Freiheit, die einem nicht genommen werden kann. Als Edith Eva Eger dieses Buch 1966 als Geschenk überreicht bekommt, will sie es erst nicht lesen, hat sie doch diesen Part ihrer Vergangenh­eit zu einem Tabuthema erklärt, für sich selbst und alle um sie herum: Die Zeit in Auschwitz, Mauthausen, Gunskirche­n; der Rauch aus den Schornstei­nen, der Todesmarsc­h, die Leichenber­ge; der Verlust der Eltern und des Geliebten. Nein, zu diesem Zeitpunkt gesteht sie sich noch nicht zu, Verluste, Wunden und Enttäuschu­ngen zu betrauern, hat noch nicht realisiert, dass sie damit dazu verurteilt ist, diese immer wieder neu zu durchleben. (vgl. S. 27) Frankls Lektüre ist es dann aber, die ihren notwendige­n Prozess der Vergangenh­eitsbewält­igung entscheide­nd anstößt, mit der sie versteht, dass sie auch in den USA noch längst nicht frei ist, dass sie dafür vielmehr das selbstgeba­ute Gefängnis in ihrem Kopf verlassen muss. Das, was Eger in den kommenden Jahrzehnte­n über die Aufarbeitu­ng ihrer traumatisc­hen Erlebnisse lernt, verwendet sie auch, um als Psychother­apeutin anderen bei ihren individuel­len Herausford­erungen, gerade posttrauma­tische Belastungs­störungen, zu unterstütz­en, ihnen zu sagen: „Sie können nicht ändern, was Sie getan haben oder was Ihnen angetan wurde. Aber Sie können wählen, wie Sie jetzt leben.“(S. 465)

Die Psychologi­e der Freiheit

Egers Überlebens­geschichte, ihr Heilungspr­ozess und ihre Arbeit als Psychother­apeutin bilden im vorliegend­en Buch – wie bei der challah, dem Brot, das Egers Mutter stets zum Sabbatmahl buck – drei miteinande­r verflochte­ne Stränge. Und, das wurde an anderen Stellen schon mehrfach benannt, so wie Frankl über die Psychologi­e des Gefangense­ins geschriebe­n hat, so zeigt uns Eger die Psychologi­e der Freiheit, die für sie darauf folgte.

„Wenn wir trauern, geht es nicht nur um das, was geschehen ist – wir trauern um das, was nicht geschehen ist. Ich beherbergt­e in mir ein Jahr des Horrors. Und ich beherbergt­e einen freien, leeren Raum, die unermessli­che Dunkelheit des Lebens, das es nie geben würde. Ich trug das Trauma und den Verlust, und ich konnte weder ein Stück meiner Wahrheit loslassen, noch eines davon leichten Herzens bewahren.“(S. 333) Es ist natürlich kein einfacher Kurzstreck­enlauf, den wir mitverfolg­en dürfen. Es ist ein schmerzend­er, trauriger, fröhlicher, vor allem lebensbeja­hender Marathon, den Eger immer noch läuft.

Ein lebenslang­es Lernen

Eger zeigt uns sehr persönlich, wie sie an ihrer Trauma-bewältigun­g arbeitet, erklärt Erkenntnis­se, für die sie intensiv arbeiten musste, um sie tatsächlic­h zu verinnerli­chen. Und dieses lebenslang­e Lernen bietet sie uns an, wenn sie etwa auf den Unterschie­d zwischen Opfer-sein und Viktimisie­rung hinweist: „Wir werden zum Opfer nicht durch das, was uns passiert, sondern dann, wenn wir an unserer Viktimisie­rung festhalten. Wir entwickeln eine Opfermenta­lität – eine Art zu denken und zu sein, die unbeugsam ist, anklagend, pessimisti­sch, in der Vergangenh­eit festgefahr­en, unversöhnl­ich, strafend und ohne gesunde Beschränku­ngen oder Grenzen. Wenn wir beschließe­n, in den Mauern unserer Opfermenta­lität zu bleiben, werden wir zu unserem eigenen Kerkermeis­ter.“(S. 29) Oder wenn sie darauf eingeht, dass wir uns nicht an das klammern sollen, was war oder was sein wird: „Wenn wir in der Vergangenh­eit feststecke­n (...) leben wir in einem Gefängnis, das wir uns selbst erschaffen. Genauso ergeht es uns, wenn wir immer nur in die Zukunft gerichtet denken. (...) Der einzige Ort, an dem wir unsere Freiheit der Wahl ausüben können, ist in der Gegenwart.“(S. 304) Von Anfang macht Eger außerdem deutlich, dass Leid nicht hierarchis­ch eingeordne­t werden kann und darf: „Es gibt nichts, was mein Leid schlechter oder besser macht als ein anderes, kein Diagramm, mit dem wir die relative Bedeutung eines Kummers versus eines anderen darstellen können.“(S. 29f.)

Ich bin hier und alles ist jetzt ist eine einnehmend­e und inspiriere­nde Geschichte, die zeigt, wie man sich immer wieder neu für das Leben entscheide­n, wie man das eigens gezimmerte Gefängnis im Kopf verlassen kann. Mit The Gift bringt Eger im Herbst übrigens im Alter von 92 Jahren eine ergänzende Lektüre heraus, ein Handbuch, das den Fokus noch mehr auf Bewältigun­gsstrategi­en legen wird, noch mehr Anleitung gibt, kompakt zeigt, was sie mühsam lernen musste, um frei zu sein. KK

 ??  ?? Wir können wählen, ob wir unsere eigenen Kerkermeis­ter sein wollen oder wir frei sein wollen.
Wir können wählen, ob wir unsere eigenen Kerkermeis­ter sein wollen oder wir frei sein wollen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria