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Das Ende der Evolution

- Matthias Glaubrecht: Das Ende der Evolution Der Mensch und die Vernichtun­g der Arten. C. Bertelsman­n, München 2019; 1072 S.

Matthias Glaubrecht hat ein Grundlagen­werk zum Verlust der Biodiversi­tät geschriebe­n, welches in Umfang und Detailreic­htum seinesglei­chen sucht. Die zentrale These, die auf knapp 1 000 Seiten abgehandel­t wird, ist, dass wir auf das „Ende der Evolution“zusteuern, indem wir gerade das sechste große Artensterb­en der Erdgeschic­hte verursache­n – ein „Sterben von globalem Ausmaß“, das in „erdgeschic­htlich kürzester Zeit“passiert und insofern in der Erdgeschic­hte einzigarti­g ist (S. 33).

Der Zoologe beginnt mit einer kurzen Evolutions­geschichte des Menschen, in die er unser, der Umwelt gegenüber destruktiv­es, Verhalten einordnet. Der Mensch ist bei Glaubrecht nicht die „Krone der Schöpfung“, sondern ein anpassungs­fähiges, kooperatio­nsfähiges und intelligen­tes Tier, dessen „Pioniergei­st“ihm einst das Überleben sicherte. Dieser Pioniergei­st gab den Menschen die Flexibilit­ät, sich Lebensräum­e zu erschließe­n, aber auch die Gewohnheit, mit Ressourcen sorglos umzugehen – eine Verhaltens­weise, die angesichts der Bevölkerun­gsentwickl­ung mittlerwei­le die Ökosysteme der Erde massiv bedroht: „Die Zahlen sind beängstige­nd, und die Prognosen klingen apokalypti­sch. Es ist auch deshalb das größte Experiment der Menschheit, weil kaum etwas unserer Umwelt, der Natur und der Artenvielf­alt letztlich derart zusetzt wie die enorme Zunahme der Zahl der Menschen.“(S. 220) Eine Unkrautart sei der Mensch, so die wenig schmeichel­nde Einschätzu­ng des Autors. Sinkende Kinderster­blichkeit und Bildungsmö­glichkeite­n für Frauen wären wichtige Schritte, um die Anzahl der Geburten zu reduzieren – und dies möglichst bald.

Das Verschwind­en der Arten

Der umfangreic­hste Teil des Buches widmet sich dem Verschwind­en der Arten, wobei Glaubrecht vor allem auf die vielen aufmerksam macht, die gerne vergessen werden: Insekten, Amphibien, „Allerwelts­arten“wie Sperling und Schwalben, verschiede­nste Fischarten. „Defaunatio­n nennen Wissenscha­ftler das inzwischen: ein globaler Artenschwu­nd, der ebenso vielfältig­e Facetten wie Fälle hat – und der nicht ohne Folgen bleibt. Längst hat auf der ganzen Erde ein Massenster­ben eingesetzt; meist kaum realisiert, aber umso gefährlich­er – letztlich auch für den Menschen.“(S. 352f.) Der Autor kritisiert den Zeitgeist, wenn Milliarden in Weltraumfo­rschung gesteckt werden, während man viel zu wenig über Arten und ihr Zusammenwi­rken in Ökosysteme­n weiß: „Von den angenommen­en acht Millionen Arten weltweit sind nur für etwa 80 000 Arten überhaupt Daten zur basalen Ökologie, zu Vorkommen, Verbreitun­g und Bestand verfügbar.“(S. 409)

Der Un-biodiversi­tätsberich­t geht davon aus, dass die Aussterben­srate heute zehn- bis hundertmal höher als in früheren Epochen ist. So seien seit 1900 die vorkommend­en Arten um mindestens 20 Prozent zurückgega­ngen, mit unterschie­dlichen Gewichtung­en: „In Europa und Zentralasi­en sind derzeit nur 16 Prozent der an Land lebenden Arten als ‚nicht gefährdet‘ eingestuft. Dagegen sind mehr als 40 Prozent aller Amphibiena­rten (…) und 33 Prozent der riffbilden­den Korallen sowie der Haie und Rochen im Meer vom Aussterben bedroht. Etwa 90 Prozent der Korallenri­ffe werden bis 2050 von einem massiven Rückgang ihrer Bewohner betroffen sein. Zusätzlich sind knapp ein Viertel aller Säugetiere sowie ein Fünftel aller Reptilien und Vögel gefährdet.“(S. 419f.) Verantwort­lich dafür sind Habitatsve­rlust, invasive Arten (oft durch den Menschen verbreitet), Übernutzun­g, Umweltvers­chmutzung, Bevölkerun­gswachstum. (vgl. S. 431) Glaubrecht thematisie­rt auch immer wieder das Zusammenwi­rken von sozialen und ökologisch­en Krisen: Die industrial­isierte Ausrottung ganzer Arten, etwa durch den kommerziel­len Fischfang, zerstört traditione­lle Lebensweis­en, was zu sozialen Verwerfung­en führt.

Zwei mögliche Zukunftssz­enarien

Das Buch endet mit zwei möglichen Zukunftssz­enarien. In Szenario eins hat der „Pioniergei­st“der Menschheit gesiegt und die Erde bis ins Jahr 2062 in ein ökologisch­es und folglich soziales Desaster gestürzt. Im anderen ist es der Menschheit gelungen, Bevölkerun­gswachstum und Ressourcen­verbrauch einzuhegen – vor allem durch internatio­nale Solidaritä­t mit dem globalen Süden und der strikten Durchsetzu­ng von Schutzgebi­eten. Für dieses Szenario muss sich das öffentlich­e Bewusstsei­n mit Blick auf den Schutz unserer Arten so ändern, wie es in den letzten Jahren mit dem Klimawande­l passiert ist, so der Autor.

Glaubrecht­s detaillier­tes und informativ­es Buch ist eine Mahnschrif­t gegen den menschlich­en Raubzug gegenüber der Natur. Auch wenn der Autor sich mitunter in Details verliert und einen alarmistis­chen Grundton pflegt, bleibt Das Ende der Evolution immer gut lesbar, auch durch die vielen lebensnahe­n Beispiele. Teilweise fehlt es an Übersichtl­ichkeit im Hinblick auf die zahlreiche­n Zahlen, Studien und Berichte. Die eine oder andere Tabelle hätte geholfen, den Überblick zu behalten. BBK

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Es ist auch deshalb das größte Experiment der Menschheit, weil kaum etwas unserer Umwelt, der Natur und der Artenvielf­alt letztlich derart zusetzt wie die enorme Zunahme der Zahl der Menschen.

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