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Soziale Klasse in Europa

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Bereits 2017 erschien Les Classes sociales en Europe der französisc­hen Soziologen Cédric Hugrée, Etienne Penissat und Alexis Spire. Jetzt liegt die englische Übersetzun­g vor, die zugleich eine Reihe von Aktualisie­rungen enthält. Die Autoren weisen darin mit Hilfe von Daten von Eurobarome­ter, der World Value Survey und zahlreiche­n anderen europäisch­en Umfragen nach, dass soziale Klassen in Europa mitnichten der Vergangenh­eit angehören bzw. dass diese sich sogar zunehmend stärker ausprägen und zu neuen Ungleichhe­iten führen. Wurden die Brüche zwischen den Klassen lange übersehen, zeigen der Brexit und die Gelbwesten-proteste in Frankreich, dass das Verspreche­n eines besseren Lebens in einem gemeinsame­n Europa zumindest für die Arbeiter- und untere Mittelklas­se gebrochen wurde. Drei relevante Klassen haben Hugrée, Penissat und Spire identifizi­ert: die Arbeiterkl­asse, die Mittelklas­se und die dominante Klasse.

Drei soziale Klassen im Vergleich

Was die Arbeiterkl­asse anbelangt (43 Prozent aller Werktätige­n; hauptsächl­ich niedrig- und unqualifiz­ierte Angestellt­e), so ist sie die große Verliereri­n des innereurop­äischen Wettbewerb­s. Der Abbau von Grenzen brachte europäisch­e Arbeitende zunehmend in Konkurrenz untereinan­der: „Differenti­ations within social structures were exacerbate­d by increased competitio­n between workers. The working class was caught in a vice on both sides of the continent: on one side, those in the countries of the East and the South are forced to accept low wages or even to emigrate to find work; on the other, those in the North and West face company relocation­s and have to accept wage restraint and job flexibilit­y in order to keep hold of the jobs that remain.“(S. 22f.) Deregulier­ungen im Arbeitsrec­ht verschlech­tern die Lage weiter, sowohl was soziale Sicherheit­en, Arbeitsbed­ingungen wie auch Gehälter anbelangt. Vor allem im Osten Europas sind viele aus der Arbeiterkl­asse von Armut betroffen.

Die Mittelklas­se (38 Prozent der Werktätige­n; vor allem Selbststän­dige, Lehrkräfte, Pflegepers­onal, Beamtinnen und Beamten) ist eine heterogene Klasse, auch was das Selbstbild anbelangt. Im Gegensatz zur Arbeiterkl­asse sind ihre Arbeitsbed­ingungen besser und Jobs stabiler. Signifikan­t ist der Unterschie­d im Lebensstan­dard zwischen Angehörige­n der Mittelklas­se im Westen und im Osten Europas. Zudem erfährt die Mittelklas­se gerade, dass Bildung nicht automatisc­h Aufstiegsm­öglichkeit­en mit sich bringt bzw. verbreitet sich die Prekarisie­rung von Arbeitsver­hältnissen in der Mittel - klasse immer stärker. Auch der Druck steigt: Meistens arbeitet die Mittelklas­se unter ständiger Beobachtun­g von Kundinnen und Kunden sowie Vorgesetzt­en.

Die oberste der drei sozialen Klassen wird von den Autoren als die „dominante Klasse“be - zeichnet (19 Prozent der Werktätige­n; vor allem Eliten aus dem Forschungs-, Technik-, Medizin- und Management­bereich). Diese dominante Klasse legt die Arbeitsbed­ingungen der Mittelund Arbeiterkl­asse fest, während sie selbst ihre eigenen schafft. Durchwegs hochgebild­et, arbeitet sie zwar am meisten, erhält aber auch mit Abstand die höchsten Stundengeh­älter. Die daraus folgende soziale Dominanz schlägt sich auch in politische­r Dominanz nieder: „ In the 2000s, in most national parliament­s, fewer than 4 per cent of seats were held by working-class people. (…) In the European Parliament, there are no manual workers at all, and barely 2 per cent of MEPS were formerly low-skilled whitecolla­r workers.“(S. 109)

Nationale Gräben innerhalb der EU

Immer wieder verweisen die Autoren auf die nationalen Gräben innerhalb der Europäisch­en Union und die strukturel­le Abhängigke­it der ehemaligen kommunisti­schen Mitgliedst­aaten. Dazu kommt die Migration der osteuropäi­schen Mittelklas­se: Deren Vertreteri­nnen und Vertreter übernehmen häufig niedrig bezahlte CareArbeit für die westeuropä­ischen Eliten – was ihnen zwar ein verbessert­es Einkommen bringt, für Familienst­rukturen und den Talentepoo­l in den Herkunftsl­ändern aber ein großes Problem darstellt: „This ‚global care chain‘ is greatly to the advantage of families in the destinatio­n countries who have the means to make use of these new domestic services, while families in the countries of origin are those who lose most: they have to manage children and the elderly without the support of those who have chosen to migrate.“(S. 143)

Angesichts all der Herausford­erungen, denen sich die Arbeiterkl­asse und Teile der Mittelklas­se stellen müssen, fragen die Autoren: Kann es zu einer Mobilisier­ung der benachteil­igten Klassen auf europäisch­er Ebene kommen? Sicher ist: Um eine langfristi­ge Verbesseru­ng für die abgehängte­n Klassen in Europa zu schaffen, braucht es eine transnatio­nale gewerkscha­ftliche und zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­on und politische Partizipat­ion – erst dann kann man der transnatio­nalen Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik Paroli bieten und neue Solidaritä­t in Europa schaffen. BBK Cédric Hugrée, Étienne Penissat, Alexis Spire: Social Class in Europe · New Inequaliti­es in the Old World. Verso Books, London 2020; 224 S.

Regelmäßig leistet Hans Joas, Sozialphil­osoph an der Theologisc­hen Fakultät der Humboldt Universitä­t in Berlin, spannende Beiträge zu aktuellen Debatten. Diesmal liefert er Argumente gegen eine weitere Europäisch­e Integratio­n: Joas widerspric­ht nicht, wenn der evangelisc­he Bischof Heinrich Bedford-strohm Nationalis­mus eine Sünde nennt (vgl. S.92). Er ist aber gegenüber „leidenscha­ftlichen Europäern“genauso skeptisch wie gegenüber leidenscha­ftlichen Deutschen. Vier Aspekte bringt er in die Debatte ein. Beim ersten bezieht er sich auf den Historiker Otto Hintze. Dieser verwies darauf, dass sich die Form des Imperialis­mus über die Zeit änderte. Er spricht für die Zeit nach 1945 von einem „föderalen Imperialis­mus“. Nur weil Staaten sich näherkomme­n, hieße das nicht, dass diese neuen postnation­alen Formen nicht imperialis­tisch sein können.

Zweitens erinnert er an den Rechtstheo­retiker Carl Schmitt. Für Schmitt wirkten übernation­ale Einheiten, Reiche, stabilisie­rend. Einzelne, ausgewählt­e, ausreichen­d starke Nationen sollen Raum jenseits der eigenen Grenzen dominieren, Hinterhöfe kontrollie­ren. Eine sinnvolle Aufteilung der Welt in solche Sphären entfalte ordnende Wirkung. Im Ns-regime waren diese Überlegung­en Grundlage für die Konzeption eines gemeinsame­n Europas unter deutscher Führung. Keine positive Traditions­linie der Integratio­n. Das dritte Argument bezieht sich auf die Kolonialge­schichte. „In derselben Zeit, in der Frankreich und Großbritan­nien die europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion vorantrieb­en und in den Jahren danach setzten sie in Algerien, das als Teil des ‚Mutterland­es‘ betrachtet wurde, bzw. in Kenia, das in Teilen als Gebiet für europäisch­e Siedler gedacht war, Folter in großem Umfang ein, mit Opferzahle­n in den Tausenden.“(S.69) Europäisch­e Integratio­n und menschlich­er Fortschrit­t gehen keineswegs automatisc­h Hand in Hand.

Schließlic­h, viertens, fürchtet Joas, dass eine gemeinsame Verteidigu­ngspolitik dazu führen würde, dass die strikten deutschen Regelungen zu Rüstungsex­port und Streitkräf­teeinsatz gelockert würden und auch der Parlaments­vorbehalt beim Einsatz der Bundeswehr fallen könnte. „Der Übertreibu­ng der Gefahren, die ein verstärkte­r Nationalis­mus für den Frieden in Europa bedeute, steht ein merkwürdig­es Desinteres­se an den Gefahren gegenüber, die eine europäisch­e Interessen­spolitik im Weltmaßsta­b beinhaltet.“(S. 95) SW Hans Joas: Friedenspr­ojekt Europa? Kösel Verlag, München 2020; 112 S.

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In the 2000s, in most national parliament­s, fewer than 4 per cent of seats were held by working-class people.
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Eine Gefährdung der Friedensor­dnung in Europa aber wäre katastroph­al.

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