Zeitbewusstheit
Marcia Bjornerud, amerikanische Geologieprofessorin, erlebt als Kind den Reiz der Zeitlosigkeit: über Nacht fällt viel Schnee, die Schule entfällt, und der Tag liegt frei von Regeln vor ihr. Abenteuer werden möglich, aber zuhause wartet die unveränderte Geborgenheit. Bei geologischen Untersuchungen für ihre Doktorarbeit auf Spitzbergen, wo keine amtliche Zeit herrscht, verändert sich ihr Verhältnis zu Zeit. Wo so wenig an den Menschen erinnert, vieles aber von einer langen Naturgeschichte zeugt, erkennt sie, dass vergangene Ereignisse immer noch gegenwärtig sind und sich eines Tages sogar erneut abspielen könnten. Nicht Zeitlosigkeit offenbart sich ihr, sondern Zeitbewusstheit, „ein jähes Bewusstsein, dass die Welt (…) aus Zeit gemacht ist“(S. 12). Es ist der Geologin ein großes Anliegen, für diese Zeitbewusstheit zu sprechen und uns vom Alter der Erde zu erzählen, damit wir ein Gespür für die Zeit entwickeln können. Mit einem „geologischen Denken“(S. 28) vollzieht sich eine Veränderung im Bewusstsein von der Entwicklung der Erde, und davon, welchen Platz wir Menschen darin einnehmen. Verstehen mehr Menschen die gemeinsame Geschichte der Erde, würden wir einander und den Planeten besser behandeln. Zudem könnte das gemeinsame geologische Erbe einen Rahmen schaffen für die Diskussion globaler Probleme, für die sich in einer gespaltenen Welt wie der heutigen keine gemeinsame Philosophie finden lässt, die alle Parteien an einen Tisch bringen könnte.
Über Zeit, Luft und Erde
Die Hauptkapitel widmen sich vor dem Hintergrund der Evolution den Schwerpunkten Zeit, Erde und Luft: Zunächst wird höchst wissenschaftlich von der entdeckungsreichen und mitunter mühsamen Kartierung der Zeit, der geologischen Zeitskala, erzählt, die von verschiedenen Forschern mit unterschiedlichen Methoden erstellt wurde und noch heute verfeinert wird. Im dritten Kapitel erfahren wir von den Rhythmen der Erde: wie erstaunlich Tektonik, Erosion, Gebirgsbildung und evolutionäre Anpassung auf unserem Planeten aufeinander abgestimmt sind. Um die Evolution der Atmosphäre geht es im vierten Kapitel. Interessant ist auch die Darstellung der großen Krisen der Erde, bei denen meist eine rasche Veränderung der Umwelt lange Phasen der Stabilität beendete, weil sich die Lebewesen nicht schnell genug anpassen konnten. So folgt im fünften Kapitel die Auseinandersetzung mit unserem Verständnis des Klimawandels. Die stabile Phase des Holozäns, die die Entwicklung des Menschen ermöglichte, endet mit dem Anthropozän. Der heutige
Kohlenstoffausstoß ist „ein extremer geologischer Ausreißer“(S. 175). Bjornerud geht auch auf diverse technische Überlegungen ein, dem Klimawandel zu trotzen, wie künstliche Bäume zur Co2-bindung, die Düngung der Meere mit Eisen, oder das Spritzen von Sulfat in die Stratosphäre. Doch stellt sie die Überheblichkeit und Kurzsichtigkeit heraus, die diese Techniken offenbaren, sowie die großen Wissenslücken, wenn es beispielsweise um das globale maritime Mikrobiom geht. Es liegt eine Ironie im Anthropozän, denn „unser übergroßer Einfluss (hat) der Natur wieder das Kommando in die Hand gegeben (…), mit einem noch unveröffentlichten Regelwerk, das wir nun schlicht erahnen müssen“(S. 187).
Wir haben eine Wahl
Das häufige Argument, wir hätten keine andere Wahl mehr, als gezieltes Klimamanagement zu betreiben, ist für Geowissenschaftler „wahnhaft und gefährlich“(S. 186). Die harte Wahrheit sei, dass zwischen der Zeit, die es braucht, um Naturdinge zu zerstören und der Zeit, diese wiederherzustellen, eine enorme Asymmetrie liegt. Im Anthropozän kehren wir nach einem abenteuerreichen Tag im Schnee nicht zurück in ein unverändertes Heim: wir müssen uns der Zerstörung stellen und uns von der Illusion lösen, wir seien vom Verstreichen der Zeit ausgenommen. Die Vergangenheit abzuschaffen und nur im Jetzt zu leben, ist obsolet. Andere Kulturen zeigen, dass Zeit nicht linear, sondern zirkulär empfunden werden kann: Der buddhistische Begriff der Achtsamkeit („sati“) meint keine Fixierung auf den Moment, sondern ein Erinnern der Gegenwart, ein Gewahrwerden des Moments von einem außerhalb liegenden Punkt.
Wir sollten uns als Erbinnen und Erblasser verstehen, und für die Zeitspanne, die uns Menschen bleibt, eine andere Geschichte als die der Zerstörung schreiben. Bjornerud schlägt ein Zukunftsministerium vor, das die nachfolgenden Generationen vertritt; ihnen seien wir zu Dank verpflichtet, da sie unserem Leben eine sinnvolle Ausrichtung auf Zukunft ermöglichen.
Das Buch berührt, da es uns mit der Tiefe der Zeit, dem Alter der Gesteine und den Geschichten des Lebens in Beziehung zu setzen vermag. Es offenbart gleichsam ewige Wahrheiten, die in den Steinen zu unseren Füßen stecken, und zeigt uns, wie ein Berg zu denken: wie wir mit Zeitbewusstheit in einem haltlosen Jetzt Vergangenheit und Zukunft zurückgewinnen können. CBU Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020; 245 Seiten
Wie lässt es sich erklären, dass Staaten zur Bekämpfung der Corona-pandemie drastische Einschnitte in Wirtschafts- und Gesellschaftsleben veranlasst haben, während sie bei der Klimakrise, trotz jahrzehntelanger Forschung, mehr oder weniger untätig bleiben?
Der schwedische Humanökologe Andreas Malm führt dies unter anderem auf die „timeline of victimhood“(S. 20) zurück. Während die Klimakrise ihre ersten Opfer im globalen Süden fordert, waren es bei Covid-19 vor allem die reichen Länder des globalen Nordens, die zuerst getroffen wurden. Zudem schützen die getroffenen Corona-maßnahmen vor allem die eigene Bevölkerung, während Anstrengungen zur Emissionsminderung auf globaler Ebene wirken.
Doch bei näherer Betrachtung werde deutlich, dass der Anschein energischen Handelns bei der Corona-pandemie trügt. Tatsächlich würden lediglich die Symptome bekämpft.
Ursprung der Pandemie und Bekämpfung der Ursachen
Seit Jahren schon warnt die Wissenschaft vor der zunehmenden Gefahr von Zoonosen. Dabei handelt es sich um Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden können. Seit den 1980er Jahren ist die Zahl neuer Infektionskrankheiten, die von Wildtieren abstammen, stark angestiegen. Das hat damit zu tun, dass Menschen immer weiter in die Natur vordringen. Vor allem durch die Abholzung tropischer Wälder werden Wildtiere aus ihren natürlichen Lebensräumen vertrieben. So steigt die Wahrscheinlichkeit, dass tierische Erreger mit Menschen in Kontakt kommen.
Auch der Handel mit Wildtieren erhöht die Gefahr von Zoonosen. Covid-19 stammt höchstwahrscheinlich von einem sogenannten „wet market“in Wuhan, wo Tiere erst kurz vor dem Verkauf geschlachtet werden und auch Wildtiere zum Verkauf angeboten werden. Doch Malm macht deutlich, dass es sich beim Konsum von Wildtieren um kein spezifisch chinesisches Phänomen handelt. „The extinction market is part of how the one per cent lives, not the essence of any national culture.“(S. 67) So befänden sich mehr Tiger in Us-privatbesitz als in freier Wildbahn.
Zudem reicht die Übertragung eines mutierten Virus auf Menschen an einem Ort der Welt nicht aus, um eine weltweite Pandemie auszulösen. Dafür sind globale Transportnetze und Handelsströme notwendig, über die sich ein Erreger über die ganze Welt verbreiten kann.
Für Malm können Corona- und Klimakrise nicht getrennt voneinander betrachtet werden, denn sie haben gemeinsame Ursachen: Die Umweltzerstörung getrieben durch den globalen Kapitalismus, für den unberührte Natur nutzlos, ja sogar „worthless waste“(S. 77) ist. Das Kapital kann nur weiterbestehen, wenn es sich ausbreitet, Natur in Waren verwandelt und daraus Profit generiert.
Um der Gefahr wiederkehrender Pandemien und einer weiteren Erhitzung des Planeten entgegenzuwirken, wäre ein sofortiger Stopp der Abholzungen und die Wiederaufforstung tropischer Wälder notwendig. Für die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf maximal 1,5 Grad müssten die Treibhausgasemissionen jährlich um 7,6 Prozent sinken. Um diese drastischen Änderungen zu erreichen, könne man nicht auf einen spontanen Rückgang der Konsumnachfrage hoffen, oder dass die Fleisch- oder Palmöl-industrie ihr Geschäftsmodell freiwillig aufgibt. Stattdessen brauche es – zumindest vorübergehend – gezielte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. In durchaus provokanter Absicht fordert Malm einen „Öko-leninismus“. Darunter versteht er den Perspektivwechsel von Symptomen hin zu Ursachen, denn, so Malm, „this emergency is chronic, which means that crises of symptoms will ignite again and again“(S. 148). Ölkonzerne müssten verstaatlicht und deren fossile Produktion eingestellt werden. Stattdessen sollten deren Infrastrukturen und Knowhow fortan für die Abscheidung und Speicherung von CO2 aus der Atmosphäre genutzt werden. Auch der Konsum von Gütern wie Rindfleisch, Palmöl, Schokolade oder Kaffee müsse reguliert werden, schließlich treibt deren Nachfrage die Rodung von tropischen Wäldern und damit den Klimawandel weiter an.
Forderung nach einem starken Staat
Für die Koordinierung und Durchsetzung solcher Maßnahmen brauche es einen starken Staat. Somit teilt Malm jenen linken Strömungen eine Absage, die vor allem auf einen Wandel von unten setzen. Dass staatliche Einschränkungen nicht unbedingt auf Widerstand stoßen, habe die Corona-pandemie gezeigt. „Apparently, the idea that some things will have to stand aside when many lives are at stake wasn’t too difficult to sell to the public.“(S. 27) Außerdem würden die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise wohl kaum das Ausmaß von Freiheitseinschränkungen annehmen, wie es im Lockdown der Fall war. Malm zeichnet zuweilen ein düsteres Bild der Zukunft, legt aber gewohnt scharfsinnig und pointiert dar, wie ein Ausweg aus dem chronischen Notstand aussehen könnte. SG Andreas Malm: Corona, Climate, Chronic Emergency War Communism in the Twenty-first-century. Verso, London 2020; 215 Seiten