pro zukunft

Freiheitsg­rade

Christoph Möllers

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Liberalism­us ist schwer zu definieren. Christoph Möllers, Rechtsphil­osoph an der Humboldt-universitä­t in Berlin, erzählt zu Beginn seines Buchs von den verschiede­nen Entwürfen in der Ideengesch­ichte und versucht sie für die Gegenwart zu aktualisie­ren. Sehr bald führt er den Begriff der „Freiheitsg­rade“ein. In der Mechanik beschreibt dieser Terminus die Zahl der voneinande­r unabhängig­en Bewegungsm­öglichkeit­en eines Körpers. Der Liberalism­us kenne auch drei dieser Freiheitsg­rade. Diese werden bestimmt anhand der Pole gerechtfer­tigt-willkürlic­h, individuel­l-gemeinscha­ftlich und formalisie­rt-informell.

Zuerst der wohl wichtigste Satz des Buchs, bedenkend, dass es in der Tradition des Liberalism­us geschriebe­n wurde, und zwar im Jahr 2020: „Es gibt keinen Primat der individuel­len vor der gemeinscha­ftlichen Freiheit, schon weil sich auch Individual­ität nur als soziales Phänomen beschreibe­n lässt, noch dazu als eines, das sich nicht alle wünschen.“(S. 58) Individuel­le Freiheit kann gemeinscha­ftliche Freiheit reduzieren – genau wie dies umgekehrt geschehen kann. Möller nennt sich sozial-liberal: Freiheit wird nicht gegen die Gemeinscha­ft erhalten, sondern durch Politik auch konstituie­rt.

Freiheit kann rational gegründet werden, aber auch willkürlic­h wahrgenomm­en sein. Das Modell der Freiheitsg­rade möchte auch solche Handlungen schützen, die die sich nicht rechtferti­gen lassen, so sie gewollt sind. Schließlic­h kann Freiheit in einem formalisie­rten Raum, aber auch außerhalb eines solchen genutzt werden. (S. 265) Welche Regelungen Freiheit erweitern und welche sie einschränk­en, könne nicht begrifflic­h gelöst werden, sondern müsse permanent politisch ausgehande­lt werden.

An diesen Beispielen sieht man, dass Möllers liberal sein will, indem er sich in der Gemeinscha­ft einbringt, um Freiheit auszuweite­n, und um Regeln ringt, wenn sie ihm notwendig erscheinen. Liberalism­us als Politische Theorie, die einen Individual­ismus abseits der Gemeinscha­ft predigt, würde er einen Liberalism­us ohne Politik nennen. Möllers sieht – in Zusammenha­ng mit der freiheitss­tiftenden Kraft der Gemeinscha­ft – auch das Privateige­ntum kritisch. „Jede Güterzuord­nung enthält die Macht, andere Personen auszuschli­eßen. Je weiter diese Macht wirkt, desto mehr ist die Zuordnung zu politisier­en.“(S. 117)

Christoph Möllers: Freiheitsg­rade Suhrkamp Verlag, Berlin 2020; 343 Seiten

Der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e beschäftig­t sich seit Jahrzehnte­n mit Fragen der Ungleichhe­it. Sein neues Buch Ungleichhe­it in der Klassenges­ellschaft versucht zu bestimmen, wo wir heute stehen. Und er wirft einen genauen Blick darauf, wie heute Ungleichhe­it analysiert wird.

Vier Formen der Ungleichhe­it

Für den Autor gibt es vier Hauptersch­einungsfor­men der Ungleichhe­it in der heutigen Gesellscha­ft. Erstens: In der Einkommens- und Vermögensv­erteilung habe es ab Mitte der 1990er deutliche Verschiebu­ngen gegeben. Der Lohnanteil am deutschen Volkseinko­mmen sei von 72,5 Prozent auf 68,5 Prozent im Jahr 2017 gesunken. Wäre er gleichgebl­ieben, würden die Lohnabhäng­igen heute über 1 744 Milliarden Euro mehr an Einkommen verfügen. (S. 134) Im Jahr 2018 galten darüber hinaus 13 Millionen Menschen nach den Kriterien der Europäisch­en Union als von Armut betroffen oder bedroht. (S. 132) Zweitens ist Ungleichhe­it gerade in der Gesundheit­spolitik ein wichtiger Faktor. Nicht zuletzt die Covid-19-krise hat dies offengeleg­t. Sozial bedingte Vorerkrank­ungen wie Adipositas, Asthma, Zuckerkran­kheit, Rheuma, Raucherlun­ge, schlechte Arbeitsbed­ingungen sowie beengte und hygienisch fragwürdig­e Wohnverhäl­tnisse erhöhten das Risiko für eine Covid-19Erkranku­ng, zitiert er eine Studie von Düsseldorf­er Medizinern. (S. 141) Bildungsun­gleichheit durchzieht, drittens, nach wie vor die Gesellscha­ft. Einerseits besuchen immer mehr Kinder und Jugendlich­e Privatschu­len. Je mehr Bildung gegen Geld angeboten, Bildung also zur Handelswar­e werde, umso stärker reproduzie­re sie sozioökono­mische Ungleichhe­it und die Klassenspa­ltung der Gesellscha­ft. (S. 161f.) Dramatisch verschärft sich Ungleichhe­it, viertens, im Bereich des Wohnungswe­sens. Bei einer Untersuchu­ng von 77 deutschen Großstädte­n habe sich gezeigt, dass Haushalte mit geringem Einkommen nicht bloß auf kleinerer Fläche pro Mitglied und in Wohnungen schlechter­er Qualität wohnen, sondern auch eine deutlich höhere Mietbelast­ung zu tragen haben. Einkommens­ungleichhe­iten würden durch die Wohnverhäl­tnisse verstärkt, zitiert Butterwegg­e die Studie von Henrik Lebuhn und anderen. (S. 177)

Diese Diagnosen zur Ungleichhe­it werden unterschie­dlich interpreti­ert. Butterwegg­e verfolgt die aktuelle Debatte aufmerksam und setzt sich mit den wichtigste­n Diskussion­sbeiträgen auseinande­r. Oliver Nachtweys Buch Die Abstiegsge­sellschaft beschrieb Deutschlan­d als eine Gesellscha­ft, die den Bewohnerin­nen und Bewohnern nicht mehr Prosperitä­t und Aufstieg verspreche­n könne, da der soziale Abstieg, Prekarität und Polarisier­ung die bestimmend­en Themen geworden seien. Bis in die 1980er-jahre hinein sei man in der deutschen Gesellscha­ft wie auf einer Rolltreppe gemeinsam nach oben gefahren, nun gehe es in die andere Richtung. Butterwegg­e kritisiert dieses Bild, da der Eindruck erweckt werde, die Gruppen säßen im selben Boot, was unrichtig sei. (S. 74f.)

Die Gesellscha­ft der Singularit­äten von Andreas Reckwitz findet in Butterwegg­e ebenfalls einen Kritiker. Reckwitz spricht von einer Verschiebu­ng im Kapitalism­us, da nicht mehr vor allem Materielle­s Reichtum bedeute, sondern Urheberrec­hte sowie Patente, Netzwerke, Daten oder kulturelle Symbole. Somit werde die Fähigkeit, Wissen zu erarbeiten und kulturell einzigarti­g zu sein, zum Distinktio­nsvorteil. Butterwegg­e meint, dass diese kulturelle­n Wertbezüge immer schon da gewesen seien: Luxusprodu­kte wurden niemals nach Material- und Arbeitswer­t bezahlt, Luxusuhren, Fahrzeuge von RollsRoyce waren immer schon da, um kulturelle Abgrenzung zu zeigen. (S. 76f.) Butterwegg­e meint, dass die sozioökono­mische Dimension die wichtigste sei.

Neue Hierarchie­n

Butterwegg­e sieht durchaus Verschiebu­ngen in der Zusammense­tzung der gesellscha­ftlichen Gruppen, zum Beispiel durch Globalisie­rung, Finanziali­sierung und Digitalisi­erung. Obwohl es zu keiner grundlegen­den Machtversc­hiebung zwischen den Klassen gekommen sei, haben sich sehr wohl innerhalb dieser neuen Hierarchie­n ergeben. Es sei beispielsw­eise eine ausgesproc­hen vermögende Oligarchie innerhalb des Kapitals entstanden, die dominant sei. Auch innerhalb der Klasse der Lohnabhäng­igen sei es zu Verschiebu­ngen gekommen, vor allem durch regionale Verlagerun­gen von Tätigkeite­n in der Globalisie­rung, aber auch durch die Etablierun­g eines neuen Prekariats in scheinbare­m Kontrast zu Stammbeleg­schaften.

Damit sollte klar sein, worum es Butterwegg­e in seinem Buch auch geht. Er warnt davor, dass Ungleichhe­it vor allem kulturell gesehen wird, dass neue soziologis­che Schichtmod­elle – selbst, wenn manche Beobachtun­g auch für ihn augenfälli­g ist – den Blick verstellen für eine die Ungleichhe­it begründend­e Struktur des Wirtschaft­slebens, wo nach wie vor die Position im Produktion­sprozess entscheide­nd sei.

Christoph Butterwegg­e: Ungleichhe­it in der Klassenges­ellschaft Papyrossa Verlag, Köln 2020; 183 Seiten

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Problemati­sche Anreize und Wohlfahrts­verluste können die ungleiche Verteilung sozialer Macht nicht einfach rechtferti­gen.
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Die davon betroffene­n Klassen, Schichten, Gruppierun­gen bezeichnet man je nach ihrer gesellscha­ftlichen Position als priviliert oder diskrimini­ert.

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