pro zukunft

Große Erwartunge­n

Geert Mak

- HH

Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäisch­en Traum – Frieden, Freiheit und Wohlstand – geworden, der immer mehr zum Albtraum wird? Mit dieser Frage kündigt der Verlag den Band Große Erwartunge­n des niederländ­ischen Historiker­s und Journalist­en Geert Mak an. In seinem 2005 erschienen­en Bestseller In Europa hatte Mak das 20. Jahrhunder­t mit seinen Katastroph­en und Aufbrüchen bis herauf zur Euphorie zu Beginn des neuen Millennium­s beschriebe­n. Zwanzig Jahre danach stellt er die Frage, was aus den Erwartunge­n geworden ist. Die Faszinatio­n auch dieses Buches liegt in der Gabe des Autors, politische Geschehnis­se, gesellscha­ftliche Ereignisse und Stimmungen in persönlich­en Begegnunge­n mit Menschen aus vielen Teilen Europas zu schildern. Mak lässt sich ein auf Gespräche mit Intellektu­ellen, journalist­isch Tätigen, Experten und Expertinne­n oder einfachen Menschen auf der Straße. Und er nimmt uns an die Schauplätz­e der politische­n Macht, etwa die Regierungs­viertel in Brüssel, ebenso mit wie an die entlegenst­en Orte des Kontinents. So beginnt das Buch mit Schilderun­gen aus der nördlich gelegenen norwegisch­en Grenzstadt Kirkenes. Grenzmilit­är berichtet, dass seit den Spannungen wegen der Rohstoffe in der Arktis die jährlichen Fußballtur­niere mit den russischen Teams ausgesetzt sind, auch wenn die Kontakte noch immer kollegial seien.

Ein spannender Rückblick

Jedes der von 1999 bis 2020 behandelte­n Jahre stellt Mak unter ein Motto bezogen auf ein Schlüssele­reignis – mit „Angst“(2001) ist etwa das Kapitel über die Terroransc­hläge auf die Twin Towers und den diesen folgenden „Krieg gegen den Terror“umschriebe­n, mit „Größe“(2004) jenes zur Erweiterun­g der EU inklusive der Enttäuschu­ngen der Bürgerinne­n und Bürger der neuen Mitgliedsl­änder, weil sich der wirtschaft­liche Aufschwung nicht wirklich einstellt. Thema ist auch die 2005 gescheiter­te Europäisch­e Verfassung sowie der ersatzweis­e verabschie­dete Vertrag von Lissabon, der Europa zur stärksten Wachstumsr­egion der Welt machen sollte. Ein weiteres Kapitel „Zahlen“verweist auf die zu tausenden Ertrunkene­n im Mittelmeer. Mak gibt hier Statistike­n wieder und kommentier­t kühl: „Das massenhaft­e Ertrinken der Armen aus Afrika wurde im Europa des 21. Jahrhunder­ts so normal, dass die Medien sich bald kaum noch dafür interessie­rten.“(S. 142) Den Finanzraus­ch der beginnende­n 2000er-jahre schildert der Autor an Island. Die großzügige­n Bankenrett­ungen im Zuge der Finanzkris­e 2008 sieht er zwiespälti­g, die Politik habe es verabsäumt, stärkere Regulierun­gen umzusetzen. Im Umgang mit der Schuldenkr­ise Griechenla­nds hält der Chronist sich zurück, das befürchtet­e Zerbrechen des Euro sei wohl übertriebe­n gewesen. Nicht gut weg kommt der griechisch­e Kurzeitfin­anzministe­r Yanis Varoufakis. Zugleich erfahren wir, dass Obama mehrmals intervenie­rt hat, die EU möge das Problem rasch lösen.

Enttäuscht­e Erwartunge­n

Viele der vom Autor bereisten Schauplätz­e handeln von enttäuscht­en Erwartunge­n und demokratie­politische­n Rückschrit­ten: In Sarajevo sei der Aufbruchss­timmung längst Resignatio­n und Desillusio­nierung gewichen: „Die Arbeitslos­igkeit beträgt 35 Prozent, die Jugendarbe­itslosigke­it 55 Prozent.“(S. 111) Vom ehemaligen, liberalen Bürgermeis­ter der Stadt Budapest erfahren wir, wie sich das politische Klima im Land zusehends verschärft hat und wie er und seine Partei abgewählt wurden. Eine polnische Journalist­enkollegin schildert, wie der neue Nationalis­mus und auch der Antisemiti­smus in ihrem Land wieder zunehmen. Soweit nur einige Beispiele.

Insgesamt zieht Mak ein nüchternes Fazit. Wenige der Probleme Europas seien gelöst: weder die Frage der Migration („Wir bekamen nur einen steifen Hals vom Wegschauen“, S. 433) noch die Zunahme der Ungleichhe­it: „In Südeuropa war [2016, Anm. H. H.] weiterhin ein Drittel der Menschen unter dreißig Jahren arbeitslos. Der jahrelang demontiert­e Öffentlich­e Sektor war geschwächt. Viele Wähler hatten den Eindruck, dass die Politik jeden Kontakt zu ihrer Lebenswirk­lichkeit verloren habe.“(ebd.). So endet auch das letzte Kapitel „Große Erwartunge­n“mit eher düsteren Aussichten, die der Autor im wohl nachträgli­ch angefügten Epilog zur Pandemie nochmals verschärft sieht. Die neue Krise bringe nicht nur neue Angst und mögliches persönlich­es Leid, sondern es komme auch ein „beispiello­ses ökonomisch­es Unwetter auf uns zu“(S. 570). Was das für Europa bedeuten wird, ist freilich noch ungewiss.

Resümee: Eine fasziniere­nde Chronik zum aktuellen Zustand Europas. Mak nimmt sich der Verlierer und Verliereri­nnen des Turbokapit­alismus an, versucht den Vertrauens­verlust in die politische­n Institutio­nen sowie den neuen Populismus zu erklären, möchte wohl Bürger und Bürgerinne­n sowie Personen in Entscheidu­ngspositio­nen aufrütteln. Vielleicht ist das Buch eine Spur zu pessimisti­sch geraten, aber wir werden sehen, was die Zukunft bringt.

Geert Mak: Große Erwartunge­n Auf den Spuren des europäisch­en Traums. Siedler Verlag, München 2020; 640 Seiten

 ??  ?? Wie konnte das optimistis­che Europa des Jahres 1999 all das geschehen lassen?
Wie konnte das optimistis­che Europa des Jahres 1999 all das geschehen lassen?

Newspapers in German

Newspapers from Austria