pro zukunft

Die Macht der Gewaltlosi­gkeit

Judith Butler

- CBU

Jeder beanspruch­t sie für sich – doch scheint sie vielfach nicht realisierb­ar zu sein: Gewaltlosi­gkeit. Die amerikanis­che Philosophi­n Judith Butler stellt in ihrem neuen Buch viele wichtige Fragen, die unbeachtet­e Gewalt aufdecken und Gewaltlosi­gkeit von ihrer Selbstvers­tändlichke­it befreien, die ihr innewohnen­de Macht zu dechiffrie­ren. Unklare Begriffe erschweren die Debatte: ist allein der physische Schlag als Gewalt anzusehen oder zählen auch Sprechakte und systemisch­e Strukturen dazu? Wir müssen sehr genau hinsehen, wenn eine Autorität Gewaltlosi­gkeit für sich beanspruch­t, während sie systemisch Gewalt gegen jene anwendet, die ihre Freiheit vertreten. Ein Staat beruft sich nicht selten auf Selbstvert­eidigung gegen eine Gruppe, und schreibt dieser Gewalttäti­gkeit zu, nur um die eigene zu legitimier­en. Es ist notwendig, über die moralische Frage für oder wider Gewalt hinauszuge­hen und zu untersuche­n, wie Gewalt definiert ist, wer als gewalttäti­g benannt wird und mit welcher Absicht. Um nicht in einem Meinungswi­rrwarr oder Relativism­us stecken zu bleiben, müssen wir unterschei­den können zwischen taktischer Gewaltzusc­hreibung und systemisch­er Gewalt, die sich der Wahrnehmun­g zu entziehen versucht.

Die Vorstellun­g, Gewalt ließe sich zum Zweck des Selbsterha­lts nicht vermeiden, wenn wir uns schon in ihrem Kraftfeld befinden, gilt es zu analysiere­n: ist sie unvermeidb­ar, nur weil sie schon vorher da war? Wer ist dieses Selbst, um dessen Verteidigu­ng es gehen soll? Wie grenzt es sich ab gegenüber anderen „Selbsten“– gehört der, dem Gewalt widerfahre­n soll, nicht dazu? Das Leben ist von Interdepen­denzen gezeichnet, jeder Mensch durch Abhängigke­itsbeziehu­ngen geformt und am Leben erhalten. Alles Lebendige ist Teil dieses Gefüges, ebenso die Umwelt und Leben-ermögliche­nde Infrastruk­turen. Dies impliziert soziale Gleichheit, und Gewaltlosi­gkeit wäre eine Weise, diese anzuerkenn­en. Der vorherrsch­ende Individual­ismus wird fragwürdig, da er Interdepen­denzen verschleie­rt. Mit dem Begriff der „Betrauerba­rkeit“veranschau­licht Butler, wie die Wahrnehmun­g dieser Gleichheit erschwert wird, wo wir auf vorliegend­e Einstufung­en treffen, nach denen das eine Leben schützensw­erter sei als das andere. Butler plädiert mit Freud, Einstein und Gandhi für eine aggressive Gewaltlosi­gkeit und entlässt uns damit hoffnungsv­oll in eine wandelbare Zukunft.

Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosi­gkeit Über das Ethische im Politische­n. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2020; 250 Seiten

 ??  ?? Der Gesellscha­ftsvertrag ist, wie zahlreiche feministis­che Theoretike­rinnen argumentie­ren, immer schon ein sexueller Vertrag.
Der Gesellscha­ftsvertrag ist, wie zahlreiche feministis­che Theoretike­rinnen argumentie­ren, immer schon ein sexueller Vertrag.

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