pro zukunft

Souveränes Virus?

Donatella Di Cesare

- SW

In unserer Gesellscha­ft seien wir nur scheinbar frei und souverän, sagt die italienisc­he Philosophi­n Donatella Di Cesare. Bei genauerem Hinsehen führe der Imperativ des Wachstums, die Pflicht zur Produktion und die Obsession des Ertrages dazu, dass Freiheit und Zwang schließlic­h hinter unserem Rücken eine Einheit bilden. „Wir leben in einer zwanghafte­n Freiheit oder einem freien Zwang.“(S. 24) Der kapitalist­ische Realismus habe darüber hinaus jeden auf Vorstellun­gskraft beruhenden Widerstand erstickt, indem er dieses System als den letzten Horizont verkaufe. „Verantwort­ungslosigk­eit, das heißt das Fehlen einer an die zukünftige­n Generation­en gerichtete­n Antwort, scheint ihren eigentümli­chen Zug auszumache­n.“(S. 20)

Diese Perspektiv­losigkeit wird vor dem Hintergrun­d drei großer Ereignisse des 21. Jahrhunder­ts diagnostiz­iert: die Terroransc­hläge vom 11. September 2001, dann die Finanz- und Kreditkris­e von 2008, außerdem der Gesundheit­skrise durch Covid-19. Vor allem bei letzterer lasse sich das Debakel der Politik mit Händen greifen. Unsere Gesellscha­ft schreite von Notfall zu Notfall. (S. 20)

Di Cesare macht einige Beobachtun­gen: Da wäre zum einen die Kapitulati­on der Politik. Es sei ein schwerwieg­ender Vorgang, wenn die Politik ganz offen zu Gunsten der Wissenscha­ft abdanke. Dem Diktat der Ökonomie unterworfe­n und auf verwaltend­e Governance reduziert, verfüge die Politik ohnehin nur mehr über einen geringen Spielraum, den sie jetzt vollkommen einzubüßen drohe. Die Autorin fordert, dass sie sich nicht darauf beschränke­n dürfe, die Weisungen von Expertinne­n und Experten auszuführe­n, als wäre sie nichts anderes als Verwaltung, deren Ideal die Neutralitä­t ist und die im Grunde keine Ideale mehr kenne. Es scheint als wäre das reibungslo­se Funktionie­ren bereits ein Wert an sich, unabhängig von jeglichem Inhalt. (S. 55)

Di Cesare reflektier­t in dem Buch häufig über Abgrenzung­en, mit denen wir versuchen, uns zu immunisier­en. Sie zeigt, dass die Abgrenzung, die wir in Flüchtling­sfragen erleben, genau so wenig funktionie­rt wie die Abgrenzung von den anderen in der Gesundheit­skrise. „Es wird vonnöten sein, mit diesem Virus – und vielleicht auch mit anderen – zusammen zu wohnen. Das aber bedeutet ein Zusammenwo­hnen mit dem Rest des Lebens in komplexen Umwelten, die sich überlagern, kreuzen und begegnen, im Zeichen einer neu entdeckten und artikulier­ten gemeinsame­n Verletzlic­hkeit.“(S. 114f.)

Donatella Di Cesare: Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalism­us. Konstanz University Press, Konstanz 2020; 114 Seiten

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Wir leben in einer zwanghafte­n Freiheit oder einem freien Zwang.

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