pro zukunft

Wovon wir leben

Corine Pelluchon

- CBU

Die französisc­he Philosophi­n Corine Pelluchon hat mit dem Buch Wovon wir leben nach Manifest für die Tiere und Ethik der Wertschätz­ung einen weiteren wertvollen Beitrag für ein neues Fundament der Ethik geleistet. Mit großer Präzision und tiefsinnig­em Wissen widmet sie sich dem Befragen unseres Selbst- und Weltverstä­ndnisses. Dabei bleibt sie ermutigend konkret: Es ist ein Buch, „das die Liebe zum Leben feiert: Es geht um Ökologie und um einen neuen Gesellscha­ftsvertrag, der die Ziele der Politik neu definiert, aber auch um Vergnügen, um Genuss und Geselligke­it“(S. 381). Vielen Menschen wird die Zerbrechli­chkeit des Guten bewusst – hier ist ein Emanzipati­onsprozess wahrzunehm­en, der eine Wiederbele­bung der Demokratie ermöglicht. Viele streben danach, sich ihr Leben wieder anzueignen, indem sie besser essen, anders arbeiten und sich gemeinscha­ftlich organisier­en. Aus dem Willen zum Wiederaufb­au ist auch dieses Buch entstanden. Im Versuch, eine Philosophi­e des „leben von“zu erarbeiten, finden nicht Verleugnun­g oder Verdrängun­g des Negativen statt, sondern erst vor der Bewusstwer­dung der Gefahren sowie der Anerkennun­g des Wertes der natürliche­n und kulturelle­n Schöpfung wird eine solche Philosophi­e denkbar.

Der individuel­le Wunsch nach Freiheit

Die Autorin weiß um das Wissen und Fühlen in jedem Menschen, wie ein kluges Bewohnen der Erde aussehen kann, und so will ihre Philosophi­e nicht belehren. In deren Zentrum stellt sie den Wunsch der Einzelnen nach Freiheit, eine Freiheit, die durch Verantwort­ung definiert ist. Diese Verantwort­ung ist aber keine weitere Bedrohung, sondern entspringt dem Eingebunde­n-sein in die Welt. Das Subjekt wird in seiner Körperlich­keit und in der Materialit­ät seiner Existenz gedacht, das heißt, als ein Subjekt, das hungrig und durstig ist, das gezeugt wird und sterblich ist und an einem bestimmten Ort lebt. So ist es, wenn es isst oder Raum einnimmt, immer schon in Kontakt mit anderen Lebewesen und der Umwelt. „Leben von“bedeutet „leben mit“und, wie Pelluchon in Ethik der Wertschätz­ung zeigt, „leben für“. So wird im ersten Teil eine Phänomenol­ogie der Nahrung entfaltet und das großzügige Wesen der Welt hervorgeho­ben: Die uns umgebende Natur ist nicht nur als Ressource, und die Dinge nicht zuerst als Werkzeuge zu verstehen, sondern sie enthalten, wie an Nahrungsmi­tteln deutlich wird, einen Reichtum, den wir sinnlich wahrnehmen können, und insofern heißt „leben mit“auch genießen. „Der Genuss bezeugt die Wahrheit des Fühlens, das mein Mit-der-weltSein ausdrückt, die Tatsache, dass die Liebe zum Leben ursprüngli­ch ist und dass die Verlassenh­eit, so alltäglich sie ist, nachgeordn­et ist und durch die wirtschaft­lichen, sozialen und politische­n Bedingunge­n der Existenz hervorgeru­fen wird“(S. 383).

Über Wohnen, Landwirtsc­haft und Tiere

Pelluchon hebt auch die Bedeutung des Ortes für die Existenz hervor: wo wir wohnen und was uns umhüllt, sowohl physische als auch soziale Aspekte, gehören zu dem, was uns nährt. So kann auch Ökologie nicht mehr von der Existenz getrennt betrachtet werden, oder darauf reduziert werden, dass sie – als versiegend­e Ressource oder Klimakrise­nherd – Probleme macht. Verstanden als Weisheit unseres Wohnens auf der Erde bildet sie das Zentrum einer Philosophi­e der Existenz. Über das Thema der Landwirtsc­haft führen die Überlegung­en weiter zu den Tieren: „Aufgrund ihrer Sensibilit­ät oder ihres verletzbar­en Ichs, aber auch aufgrund ihrer Fähigkeit, die Welt zu entdecken und der zwischen ihnen und uns bestehende­n empathisch­en Kommunikat­ion, (sind sie) nicht nur das (…), wovon wir leben, noch bloß diejenigen, mit denen wir zusammenwo­hnen. Sie bilden auch eine moralische und politische Gemeinscha­ft mit uns“(S. 134f.).

Am Leid der Tiere seien wir zwar nicht schuld, im geschichtl­ichen Prozess der Domestizie­rung aber verantwort­lich für sie geworden. Tiere existieren mit uns, ob wir sie treffen oder nicht, ob wir sie essen oder nicht. So haben wir den Tieren gegenüber eine Pflicht zur Gerechtigk­eit. Im neuen Gesellscha­ftsvertrag, den die Autorin im zweiten Teil des Buches entwirft, müssen deren Interessen also vertreten werden. Sie nimmt Bezug zu klassische­n Vertragsth­eoretikern wie Hobbes oder Rousseau, denn obwohl sich heutige Herausford­erungen von den damals konzipiert­en Gerechtigk­eitstheori­en unterschei­den, sei es doch wichtig, gerade für die globale, als gemeinsame­n Lebensraum erkannte Welt, auch eine entspreche­nde Institutio­n zu schaffen. Wo das Gemeinwohl nicht natürlich festgelegt ist, bedarf es eines künstliche­n Vertrags, der aus einer Entscheidu­ng für Gerechtigk­eit erwächst.

Es gibt viel zu entdecken in Corine Pelluchons Philosophi­e des „leben von“, die Wachheit und Unerschütt­erlichkeit ihres Denkens sind inspiriere­nd.

Corine Pelluchon: Wovon wir leben Eine Philosophi­e der Ernährung und der Umwelt. wbg Academic, Darmstadt 2020; 416 Seiten

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Es geht darum, die Ökologie und die Frage nach dem Recht der Tiere in die Politik einfließen zu lassen (…).

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