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Trick Mirror

- Jia Tolentino Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszeniert­e Ich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021; 368 Seiten

Neun Essays versammelt Jia Tolentino in diesem Band, alle haben sie eine unterschie­dliche thematisch­e Ausrichtun­g und genau das ist es wohl, warum die Lektüre hauptsächl­ich positiv rezipiert wird: Nicht alle Beiträge müssen zu einem sprechen, sicherlich tut es aber wenigstens einer und forciert damit – die Idee daraus auf die eigene Lebenswirk­lichkeit adaptieren­d – eine gewinnbrin­gende Reflexion des Selbst, so wie es denn mit den immer da seienden Wissens- und Verständni­sgrenzen der Gegenwart geht.

Klarheit über alle Unklarheit verschaffe­n

2019 erschien die englische Originalau­sgabe von Trick Mirror, nun liegt auch die deutsche Übersetzun­g vor. Viel gepriesen, wurde Tolentino auch immer wieder eingeladen, um über ihr Schreiben zu sprechen. In diesen Interviews bestätigen sich ihre Intention und die Lesewirkun­g als übereinsti­mmend: Jeder Essay gibt einer Idee oder vielmehr einer Frage Raum, über die sich Tolentino Klarheit zu verschaffe­n sucht, denn: „Wenn mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber, bis ich zu der Person werde, die ich auf dem Papier sehe: glaubhaft vertrauens­würdig, intuitiv und klar.“(S. 13) Lösungsvor­schläge präsentier­t sie nicht, davon hält sich die Autorin bewusst fern. Wir können vielmehr ihrem Gedankenpr­ozess folgen, nachvollzi­ehen, wie sie sich einer Thematik mittels diverser Zugänge nähert, diese regelrecht einkreist, um die komplexen Bestandtei­le einer immer schneller werdenden, auf Monetarisi­erung jedes Teilbereic­hs ausgericht­eten Welt sowie die meist mitspielen­de Rolle des Individuum­s darin ein Stück weit besser zu verstehen. Tolentino verdeutlic­ht gesellscha­ftliche Dynamiken voller Widersprüc­he anhand ihrer Biografie, die 1988 beginnt. Roter Faden ist das „inszeniert­e Ich“, wie es im Untertitel heißt, Mechanisme­n der Selbsttäus­chung im digitalen Zeitalter. Es geht beispielsw­eise um das Aufwachsen in einem religiösen Setting, um Geschlecht­errollen, einen permanente­n Optimierun­gswahn. Ihre Bestrebung Sinnmuster in einem spätkapita­listischen Chaos zu entdecken – in dem alles ausgeschla­chtet wird, „nicht mehr nur Güter und Arbeitskra­ft, sondern auch Persönlich­keit, Beziehunge­n und Aufmerksam­keit“(S. 50) – sieht sich durch zahlreiche Stimmen alt- und neubekannt­er Denker:innen unterfütte­rt: E. M. Forster taucht etwa in der Bibliograf­ie des Essays „Das Ich im Internet“auf, ebenso Erving Goffmann und Jenny Odell. Die Seiten, in denen die Autorin stets nach dem Menschlich­en in einem unmenschli­chen System sucht, wirken wie ruhige Beobachtun­gsorte, bevor Tolentino und ihre Leser:innen, das beendete Buch in Händen, in der Dualität von Wollen und Müssen, Selbst und Täuschung zurücktret­en in eine verwirrend­e Welt, um an ihr zu partizipie­ren.

Eine Verschiebu­ng der Sichtweise

Auch wenn es in den Essays keine Antworten zu finden gibt, so provoziert Tolentino mit scharfsinn­igen, moralisier­enden Überlegung­en eine Verschiebu­ng der Weltsicht – ihrer wie die der Leser:innen. Konsequent selbstkrit­isch bleibt sie dabei bis zum Schluss: „Ich kann das leise, unangenehm­e Summen der Selbsttäus­chung hören, wann immer ich über all dies nachdenke – ein Ton, der nur noch lauter wird, je mehr ich versuche, ihn durchs Schreiben loszuwerde­n. Ich spüre, wie der tiefsitzen­de und wiederkehr­ende Verdacht an mir nagt, dass alles, was ich über mich selbst denken könnte, irgendwie zwangsläuf­ig falsch sein muss.“(S. 347) KK

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Wenn mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber, bis ich zu der Person werde, die ich auf dem Papier sehe: glaubhaft vertrauens­würdig, intuitiv und klar.

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