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Die pinke Linie

- Mark Gevisser Mark Gevisser: Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbest­immung und Geschlecht­eridentitä­t. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021; 620 Seiten

Mark Gevisser ist Journalist, Sach- und Drehbuchau­tor, regelmäßig schreibt er für internatio­nale Zeitungen und Zeitschrif­ten wie The Guardian oder The New York Times. Hier lesen wir von Erfahrunge­n, die Gevisser bei Reisen rund um die Welt gesammelt hat. Er erzählt etwa von einer verfolgten Transfrau aus Malawi, einem lesbischen Paar aus Russland und ihrem Sohn, von jungen Frauen in Indien, die nicht in traditione­lle Rollenmust­er passen. Er beschreibt auf dieser Grundlage eine „pinke Linie“.

„Ich wurde Zeuge einer besorgnise­rregenden neuen globalen Parallelen­twicklung: Während gleichgesc­hlechtlich­e Ehen und Geschlecht­sangleichu­ngen in einigen Teilen der Welt als Zeichen der fortschrei­tenden Menschlich­keit gefeiert wurden, verschärft­e man in anderen Teilen der Welt die Gesetze, um solche Handlungen zu kriminalis­ieren.“(S. 26) Und obwohl Transmensc­hen 2018 in vielen Ländern, von Argentinie­n bis Pakistan, gesetzlich anerkannt wurden und nicht länger als ‚krank‘ gelten, wurden sie in mindestens 57 Ländern immer noch kriminalis­iert und verfolgt. (S. 506) So sei eine pinke Linie gezogen worden, zwischen den Ländern, die queere Menschen zunehmend als gleichbere­chtigte Bürger:innen in ihre Gesellscha­ft integriert­en, und denen, die neue Wege fanden, um sie auszuschli­eßen, nun da sie sichtbar geworden waren.

Ein komplexer Menschenre­chtsdiskur­s

Die „pinke Linie“ist der Name eines Gebietes. Es handelt sich um einen Grenzberei­ch des Menschenre­chtsdiskur­ses. Die Linie verläuft nicht nur zwischen Staaten, sie verläuft auch innerhalb von Staaten. „In den Vereinigte­n Staaten verlief diese Linie durch Schultoile­tten, als Behörden und Eltern vor Gericht zogen, um Transmädch­en und -jungen daran zu hindern, die Toiletten zu benutzen, die ihrer Geschlecht­sidentität entsprache­n.“(S. 28) Die pinke Linie verlaufe durch Fernsehstu­dios und Parlamente, durch Nachrichte­nredaktion­en und Gerichtssä­le, durch Schlaf- und Badezimmer und sogar durch manche Körper. (S. 31) In Städten wie Dakar und Lagos, Kairo oder Kabul kann man, wenn man Satelliten­fernsehen hat, auf dem einen Kanal Us-amerikanis­che Lgbtqia*-kultserien und auf einem anderen Tiraden gegen Homosexual­ität und Transgesch­lechtlichk­eit sehen. In ihrer Sexualität diskrimini­erte Menschen würden im Zeitalter der Digitalisi­erung und der sozialen Medien Zugang zu einer internatio­nalen queeren Gemeinscha­ft finden, wodurch sie motiviert werden, sichtbarer zu werden und in der Gesellscha­ft Raum einzunehme­n.

Für Gevisser ist die Globalisie­rung ein wichtiger Faktor bei der Entwicklun­g der Debatten in den vergangene­n Jahrzehnte­n. Aufgrund „des beispiello­sen Austauschs von Gütern, Kapital, Menschen und insbesonde­re von Ideen sowie Informatio­nen […] laden Menschen auf der ganzen Welt die neuen Ideen aus dem Netz herunter und versuchen häufig, sie in ihrer jeweiligen Offlinerea­lität umzusetzen. Sie beginnen, anders über sich selbst, ihren Platz in der Gesellscha­ft, ihre Möglichkei­ten und ihre Rechte zu denken.“(S. 24) In Indien geben sich Angehörige der Mittelschi­cht den Anstrich des Weltbürger­tums, indem sie die Entkrimina­lisierung homosexuel­len Geschlecht­sverkehrs befürworte­n; in Mexiko und Argentinie­n tut man dasselbe durch die Unterstütz­ung der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe.

Täglicher Wechsel über die pinke Linie

Das bedeutet keineswegs, dass der „Westen“das Heil bringt. Gewisser erzählt von den komplexen Zusammenhä­ngen, wozu auch gehört, dass es in muslimisch geprägten Regionen Nigerias und Senegals eine lange Tradition der Akzeptanz eines „dritten Geschlecht­s“gab. Aber in vielen Regionen der Welt ist es so, dass Menschen täglich über diese pinke Line wechseln müssen. Da ist die eine Seite, die sie auf ihrem Smartphone erleben, und die andere Seite, in der sie sich wiederfind­en, wenn sie von ihrem Smartphone aufschauen.

Entlang der pinken Linie werden verschiede­ne Kämpfe ausgetrage­n. In Westeuropa werden LGBTQIA*-RECHTE auch als Argument gegen die Zuwanderun­g von Migrant:innen genutzt, so Gevisser unter Hinweis auf Aussagen aus dem rechtsradi­kalen Front National in Frankreich. In Osteuropa wird die pinke Linie als Abwehr gegen einen „dekadenten westlichen Liberalism­us“genutzt. In den neuen Kulturkrie­gen würden gendernonk­onforme Personen von der gegen Homosexuel­le gerichtete­n moralische­n Panik besonders hart getroffen. „Religiöse und politische Anführer:innen zogen eine pinke Linie zum angebliche­n Schutz der ‚kulturelle­n Souveränit­ät‘ und gegen die schädliche­n Einflüsse des Westens, indem sie sich gegen ‚Perversion­en‘ wie die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe wandten.“(S. 509)

Die Geschichte­n in dem Buch erzählen von tagtäglich erfahrenen Demütigung­en, Bedrohunge­n und Angriffen vonseiten andersdenk­ender Menschen oder des Staates. Und sie berichten vom Kampf dagegen. Gevisser will, dass es besser wird, er sieht auch, dass es an vielen Orten Fortschrit­te gibt. SW

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Bei meinen Reisen für dieses Buch sah ich überall Beispiele für diesen Kampf und den Einsatz dafür, dass es ‚besser wird‘.

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