Future Histories
Lizzie O’shea ist Bürgerrechtsanwältin in Australien. Aus dieser Tätigkeit schöpft sie Erfahrungen, wie sich die Digitalisierung auf unsere Leben auswirkt und welche Konflikte entstehen. Sie hat darüber hinaus umfangreiches Wissen über die Geschichte der Emanzipationsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte. Und sie interessiert sich, wie eine gute, digitale Zukunft aussehen könnte. Diese drei Wissensbereiche führt sie in ihrem Buch Future Histories zusammen. „This is not a book about technology per se, nor is it about history or theory. Rather, it is an attempt to read these things together in fresh and revealing ways.“(S. 6)
Zur Anwendung digitaler Technologien
O’shea nimmt zur Kenntnis, über welches Potential die digitalen Technologien bereits verfügen. Die Möglichkeit, die vielen Daten über uns, die im Netz anfallen, zu nutzen, um uns zu kategorisieren, zu beschreiben und sogar unser Verhalten vorauszusagen, beschreibt die Autorin eindrücklich. Nun ist es O’sheas Ansatz, stets auch das positive Potential der Digitalisierung zu sehen. Könnte diese Datenflut nicht auch dazu dienen, uns einander näher zu bringen, einander besser zu verstehen? Oder könnten Rückmeldungen zum eigenen Verhalten nicht auch nützlich sein? Das Problem sei nicht die Verfügbarkeit, sondern die Anwendung der Technologien. Denn heute werden sie nicht genutzt, um Verbindungen zwischen Privaten herzustellen, geschweige denn öffentlichen Raum zu schaffen, wo man frei kommunizieren könne, sondern ganz im Gegenteil: Einige wenige Unternehmen eignen sich die Daten an und nutzen diese hinter Mauern, Firewalls. Dort bestimmen sie allein die Regeln und legen fest, wie die Daten genutzt werden. So gestaltet greift die Digitalisierung immer tiefer in unser Leben ein. Mit der Einbindung der vielen alltäglichen Geräte des Haushalts, des Arbeitsplatzes und im öffentlichen Raum wird die Datenmenge über jeden einzelnen immer weiter anschwellen.
Die Autorin bezweifelt auch, dass die Digitalisierung in der aktuellen Form uns mehr Sicherheit schenken wird. Denn die digitalen Anwendungen haben oft die Praktiken der Polizeiarbeit eingebaut. Gerade anhand des Racial Profiling wurde vielfach nachgewiesen, dass die Kriminalitätsrate ganz entscheidend von der Überwachungsintensität abhängt. So wurden in der Polizeiarbeit Vorurteile bestätigt und Probleme verschärft anstatt gelöst. „These biased data sets and algorithms, when used in a law enforcement context, have significant consequences. They generate a feedback loop shaped by racism and institutionalize certain understandings of risk.“(S. 53) O’shea fordert, dass die Algorithmen der Polizeiarbeit offengelegt werden.
Auch die Ideologie des Transhumanismus, die Vorstellung, dass wir dabei seien, etwas Besseres als den Menschen zu schaffen, wird von der Autorin massiv in Frage gestellt, indem sie in diesem Zusammenhang auf die technologischen Utopien der Vergangenheit verweist. Zweierlei stößt O‘shea bitter auf: Erstens lassen die Technologie-utopien stets offen, wie es denn gelungen sei, zu der jeweils imaginierten, technisch besseren Welt zu kommen, scheinbar wäre es der Technologie immanent, auch ihre Anwendung zum Guten zu garantieren; das sei ein verhängnisvoller Irrtum. Zweitens spiele Demokratie in den technologischen Utopien eine untergeordnete Rolle, als wäre es möglich, gesellschaftliche Entscheidungen „rational“zu berechnen. (S. 102)
Über das Potenzial einer konstruktiven Zukunft
Die Digitalisierung habe eine konstruktive Zukunft, wo sie einlade, zusammenzuarbeiten. O’shea erinnert an das Jahr 1953, als der erste elektrische Computer von IBM gebaut wurde. Bis 1970 dominierte darauf die „Mainframe“Software. Diese entstand in Kooperation zwischen verschiedenen Firmen und Privaten. O’shea zitiert Professor Eben Moglen: „Mainframe software was cooperatively developed by the dominant hardware manufacturer and its technically sophisticated users, employing the manufacturer’s distribution resources to propagate the resulting improvements through the user community.“(S. 130) Kooperation sei von Beginn an ein wichtiger Aspekt der digitalen Entwicklung und habe immer wieder sein Potential bewiesen: „Innovation is not epitomized by some tortured genius working alone or a billionaire who once came up with a clever idea. Some of our most radical new technological developments were a result of teamwork, drawing on multiple people’s varied skill sets.“(S. 134) Man müsse die Open-source-bewegung stärken, denn nicht zuletzt sei Software eines der Produkte, das man verschenken kann, ohne deswegen selbst weniger davon zu haben.
„If we are to explore the possibilities of digital technology, we need greater engagement between historians and futurists, technologists and theorists, activists and creatives. Synthesizing thinking across these fields gives us the best chance of a future that is fair.“(S. 11) SW
We are facing a future in which some of the best technological developments are made in relation to warfare or commerce rather than freedom and empowerment.
„21.1.45 Befehl zum Verlassen meines Hofes.“(S. 13) Mit dieser kurzen Notiz beginnt die Fluchtgeschichte des masurischen Bauers Friedrich Biella und seiner Familie. Ihr Schicksal steht symbolisch für unzählige vertriebene und geflüchtete Menschen, welchen Andreas Kossert eine Stimme verleiht und sie so aus der Anonymität der Gruppe Flüchtling hervorholt. Mittels Fotografien, Tagebucheinträgen aber auch literarischen Aufarbeitungen dokumentiert der Historiker die Grausamkeiten kriegerischer Auseinandersetzungen und territorialer Grenzverschiebungen bis zurück ins 18. Jahrhundert. Dennoch ist Flucht – Eine Menschheitsgeschichte mehr als eine einfache Aneinanderreihung persönlicher Erzählungen. Das Mosaik aus Erfahrungen unterschiedlicher Epochen und politischen Kontexten ermöglicht es, in der Gesamtbetrachtung die grundlegenden Merkmale von Flucht und Vertreibung zu erkennen. Denn es ist unerlässlich, ob eine Vertreibung im 18. oder 21. Jahrhundert stattfindet, die (seelischen) Wunden der Geflüchteten gleichen einander. „Entwurzelung ist eine biographische Zäsur, und sie erledigt sich nicht mit der Zeit, sondern währt vielfach als kollektive Erfahrung fort.“(S. 336)
Über komplexen Zusammenhänge
Einleitend werden Leser:innen mit einer geschichtlichen Aufarbeitung des Begriffes „der Flüchtling“konfrontiert, welche für sich alleinstehend bereits aufschlussreiche Einblicke in die komplexen Zusammenhänge von Fluchtursache, Ankommen und Selbstbild der Betroffenen ermöglicht. Daran anschließend werden im Kapitel „Heimat. Von den Ambivalenzen eines Gefühls“die Phasen des Weggehens und Ankommens der Betroffenen beschrieben. In Sicherheit zu sein ist dabei nur ein Teil des Weges. Sich in der Fremde heimisch zu fühlen, verlangt oft mehr, als ein Mensch zu leisten im Stande ist: nämlich die überwältigende Sehnsucht nach der alten Heimat zu stillen, die ein emotionales Ankommen in der Fremde für viele lebenslang unmöglich macht. Hinzu kommen gesellschaftspolitische Hürden, wie die Hilfsbereitschaft von Einheimischen: „Wohin man auch schaut: Flüchtlinge gelten als Bedrohung. [...] Das ist in den Jahren nach den beiden Weltkriegen so, als die Aufnahmegesellschaften selbst mit Problemen zu kämpfen haben, und das ist immer noch so, als der allgemeine Wohlstand ein Niveau erreicht, wie niemals zuvor in der Geschichte: Anfang der 1990er Jahre.“(S. 235)
Ein tiefgehender Eindruck, eine nachhaltige Wirkung
Flucht – eine Menschheitsgeschichte bietet keine Handlungsanleitungen oder gar Patentrezepte im Umgang mit Flucht, aber es vermittelt einen tiefgehenden Eindruck der lebenslangen Belastungen von Geflüchteten oder Vertriebenen, was bei Leser:innen eine nachhaltige Wirkung erzielt. „Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist.“(S. 355) Für diese Leistung wurde das Buch zu Recht verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem als „Das politische Buch“2021 der Friedrich-ebert-stiftung und mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020. CBA