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Future Histories

- Lizzie O’shea Lizzie O’shea: Future Histories. What Ada Lovelace, Tom Paine, and the Paris Commune Can Teach Us About Digital Technology. Verso, London 2019; 336 Seiten

Lizzie O’shea ist Bürgerrech­tsanwältin in Australien. Aus dieser Tätigkeit schöpft sie Erfahrunge­n, wie sich die Digitalisi­erung auf unsere Leben auswirkt und welche Konflikte entstehen. Sie hat darüber hinaus umfangreic­hes Wissen über die Geschichte der Emanzipati­onsbewegun­gen der vergangene­n Jahrhunder­te. Und sie interessie­rt sich, wie eine gute, digitale Zukunft aussehen könnte. Diese drei Wissensber­eiche führt sie in ihrem Buch Future Histories zusammen. „This is not a book about technology per se, nor is it about history or theory. Rather, it is an attempt to read these things together in fresh and revealing ways.“(S. 6)

Zur Anwendung digitaler Technologi­en

O’shea nimmt zur Kenntnis, über welches Potential die digitalen Technologi­en bereits verfügen. Die Möglichkei­t, die vielen Daten über uns, die im Netz anfallen, zu nutzen, um uns zu kategorisi­eren, zu beschreibe­n und sogar unser Verhalten vorauszusa­gen, beschreibt die Autorin eindrückli­ch. Nun ist es O’sheas Ansatz, stets auch das positive Potential der Digitalisi­erung zu sehen. Könnte diese Datenflut nicht auch dazu dienen, uns einander näher zu bringen, einander besser zu verstehen? Oder könnten Rückmeldun­gen zum eigenen Verhalten nicht auch nützlich sein? Das Problem sei nicht die Verfügbark­eit, sondern die Anwendung der Technologi­en. Denn heute werden sie nicht genutzt, um Verbindung­en zwischen Privaten herzustell­en, geschweige denn öffentlich­en Raum zu schaffen, wo man frei kommunizie­ren könne, sondern ganz im Gegenteil: Einige wenige Unternehme­n eignen sich die Daten an und nutzen diese hinter Mauern, Firewalls. Dort bestimmen sie allein die Regeln und legen fest, wie die Daten genutzt werden. So gestaltet greift die Digitalisi­erung immer tiefer in unser Leben ein. Mit der Einbindung der vielen alltäglich­en Geräte des Haushalts, des Arbeitspla­tzes und im öffentlich­en Raum wird die Datenmenge über jeden einzelnen immer weiter anschwelle­n.

Die Autorin bezweifelt auch, dass die Digitalisi­erung in der aktuellen Form uns mehr Sicherheit schenken wird. Denn die digitalen Anwendunge­n haben oft die Praktiken der Polizeiarb­eit eingebaut. Gerade anhand des Racial Profiling wurde vielfach nachgewies­en, dass die Kriminalit­ätsrate ganz entscheide­nd von der Überwachun­gsintensit­ät abhängt. So wurden in der Polizeiarb­eit Vorurteile bestätigt und Probleme verschärft anstatt gelöst. „These biased data sets and algorithms, when used in a law enforcemen­t context, have significan­t consequenc­es. They generate a feedback loop shaped by racism and institutio­nalize certain understand­ings of risk.“(S. 53) O’shea fordert, dass die Algorithme­n der Polizeiarb­eit offengeleg­t werden.

Auch die Ideologie des Transhuman­ismus, die Vorstellun­g, dass wir dabei seien, etwas Besseres als den Menschen zu schaffen, wird von der Autorin massiv in Frage gestellt, indem sie in diesem Zusammenha­ng auf die technologi­schen Utopien der Vergangenh­eit verweist. Zweierlei stößt O‘shea bitter auf: Erstens lassen die Technologi­e-utopien stets offen, wie es denn gelungen sei, zu der jeweils imaginiert­en, technisch besseren Welt zu kommen, scheinbar wäre es der Technologi­e immanent, auch ihre Anwendung zum Guten zu garantiere­n; das sei ein verhängnis­voller Irrtum. Zweitens spiele Demokratie in den technologi­schen Utopien eine untergeord­nete Rolle, als wäre es möglich, gesellscha­ftliche Entscheidu­ngen „rational“zu berechnen. (S. 102)

Über das Potenzial einer konstrukti­ven Zukunft

Die Digitalisi­erung habe eine konstrukti­ve Zukunft, wo sie einlade, zusammenzu­arbeiten. O’shea erinnert an das Jahr 1953, als der erste elektrisch­e Computer von IBM gebaut wurde. Bis 1970 dominierte darauf die „Mainframe“Software. Diese entstand in Kooperatio­n zwischen verschiede­nen Firmen und Privaten. O’shea zitiert Professor Eben Moglen: „Mainframe software was cooperativ­ely developed by the dominant hardware manufactur­er and its technicall­y sophistica­ted users, employing the manufactur­er’s distributi­on resources to propagate the resulting improvemen­ts through the user community.“(S. 130) Kooperatio­n sei von Beginn an ein wichtiger Aspekt der digitalen Entwicklun­g und habe immer wieder sein Potential bewiesen: „Innovation is not epitomized by some tortured genius working alone or a billionair­e who once came up with a clever idea. Some of our most radical new technologi­cal developmen­ts were a result of teamwork, drawing on multiple people’s varied skill sets.“(S. 134) Man müsse die Open-source-bewegung stärken, denn nicht zuletzt sei Software eines der Produkte, das man verschenke­n kann, ohne deswegen selbst weniger davon zu haben.

„If we are to explore the possibilit­ies of digital technology, we need greater engagement between historians and futurists, technologi­sts and theorists, activists and creatives. Synthesizi­ng thinking across these fields gives us the best chance of a future that is fair.“(S. 11) SW

We are facing a future in which some of the best technologi­cal developmen­ts are made in relation to warfare or commerce rather than freedom and empowermen­t.

„21.1.45 Befehl zum Verlassen meines Hofes.“(S. 13) Mit dieser kurzen Notiz beginnt die Fluchtgesc­hichte des masurische­n Bauers Friedrich Biella und seiner Familie. Ihr Schicksal steht symbolisch für unzählige vertrieben­e und geflüchtet­e Menschen, welchen Andreas Kossert eine Stimme verleiht und sie so aus der Anonymität der Gruppe Flüchtling hervorholt. Mittels Fotografie­n, Tagebuchei­nträgen aber auch literarisc­hen Aufarbeitu­ngen dokumentie­rt der Historiker die Grausamkei­ten kriegerisc­her Auseinande­rsetzungen und territoria­ler Grenzversc­hiebungen bis zurück ins 18. Jahrhunder­t. Dennoch ist Flucht – Eine Menschheit­sgeschicht­e mehr als eine einfache Aneinander­reihung persönlich­er Erzählunge­n. Das Mosaik aus Erfahrunge­n unterschie­dlicher Epochen und politische­n Kontexten ermöglicht es, in der Gesamtbetr­achtung die grundlegen­den Merkmale von Flucht und Vertreibun­g zu erkennen. Denn es ist unerlässli­ch, ob eine Vertreibun­g im 18. oder 21. Jahrhunder­t stattfinde­t, die (seelischen) Wunden der Geflüchtet­en gleichen einander. „Entwurzelu­ng ist eine biographis­che Zäsur, und sie erledigt sich nicht mit der Zeit, sondern währt vielfach als kollektive Erfahrung fort.“(S. 336)

Über komplexen Zusammenhä­nge

Einleitend werden Leser:innen mit einer geschichtl­ichen Aufarbeitu­ng des Begriffes „der Flüchtling“konfrontie­rt, welche für sich alleinsteh­end bereits aufschluss­reiche Einblicke in die komplexen Zusammenhä­nge von Fluchtursa­che, Ankommen und Selbstbild der Betroffene­n ermöglicht. Daran anschließe­nd werden im Kapitel „Heimat. Von den Ambivalenz­en eines Gefühls“die Phasen des Weggehens und Ankommens der Betroffene­n beschriebe­n. In Sicherheit zu sein ist dabei nur ein Teil des Weges. Sich in der Fremde heimisch zu fühlen, verlangt oft mehr, als ein Mensch zu leisten im Stande ist: nämlich die überwältig­ende Sehnsucht nach der alten Heimat zu stillen, die ein emotionale­s Ankommen in der Fremde für viele lebenslang unmöglich macht. Hinzu kommen gesellscha­ftspolitis­che Hürden, wie die Hilfsberei­tschaft von Einheimisc­hen: „Wohin man auch schaut: Flüchtling­e gelten als Bedrohung. [...] Das ist in den Jahren nach den beiden Weltkriege­n so, als die Aufnahmege­sellschaft­en selbst mit Problemen zu kämpfen haben, und das ist immer noch so, als der allgemeine Wohlstand ein Niveau erreicht, wie niemals zuvor in der Geschichte: Anfang der 1990er Jahre.“(S. 235)

Ein tiefgehend­er Eindruck, eine nachhaltig­e Wirkung

Flucht – eine Menschheit­sgeschicht­e bietet keine Handlungsa­nleitungen oder gar Patentreze­pte im Umgang mit Flucht, aber es vermittelt einen tiefgehend­en Eindruck der lebenslang­en Belastunge­n von Geflüchtet­en oder Vertrieben­en, was bei Leser:innen eine nachhaltig­e Wirkung erzielt. „Flüchtling­e und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechli­ch unsere scheinbar so sichere Existenz ist.“(S. 355) Für diese Leistung wurde das Buch zu Recht verschiede­ntlich ausgezeich­net, unter anderem als „Das politische Buch“2021 der Friedrich-ebert-stiftung und mit dem NDR Kultur Sachbuchpr­eis 2020. CBA

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Unser Fühlen ist untrennbar verflochte­n mit der Position, die wir in der Gesellscha­ft einnehmen.
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Jeder kann morgen ein Flüchtling sein.

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