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anders fühlen

- Benno Gammerl Benno Gammerl: anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepu­blik. Eine Emotionsge­schichte. Carl Hanser Verlag, München 2021; 416 Seiten

Mit anders fühlen legt Benno Gammerl die erste umfassende Geschichte der Homosexual­ität in der BRD vor. Ausgehend von der Prämisse, dass unser Fühlen untrennbar mit der Position, die wir in der Gesellscha­ft einnehmen, verflochte­n sei, wählt Gammerl einen besonderen Zugang zum Thema: er schreibt eine „Emotionsge­schichte“. Der Fokus seiner Arbeit liegt demnach vor allem auf dem Gefühls- und Alltagsleb­en männerlieb­ender Männer und frauenlieb­ender Frauen. Die Basis für seine Überlegung­en bilden in erster Linie Oral-history-interviews mit 32 Gesprächsp­artner:innen, die zwischen 1935 und 1970 geboren wurden.

Besonders an jenen Stellen des Buchs, an denen diese Interviewp­artner:innen ausführlic­h zu Wort kommen, zeigt sich auch die Stärke von Gammerls gefühlsges­chichtlich­em Ansatz. Denn die oft sehr eindrückli­chen biographis­chen Erzählunge­n ermögliche­n nicht nur einen Blick auf die subjektive­n Erfahrunge­n einzelner Menschen, sondern eröffnen darüber hinausreic­hende Einsichten nicht nur hinsichtli­ch geschlecht­licher oder generation­eller Aspekte. Anhand dieses jahrzehnte­übergreife­nden Einblicks in die Zeitgeschi­chte der Homosexual­ität wird deutlich, wie sich das Gefühlsleb­en gleichgesc­hlechtlich begehrende­r Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts verändert hat. Im Laufe des Buches kommen dabei die unterschie­dlichsten Gefühle zur Sprache, von Angst, Scham, Trauer und Wut bis hin zu Stolz, Lust und Liebe, wobei vor allem auch die Sichtbarma­chung von Ambivalenz­en in der Gefühlswel­t der Betroffene­n beeindruck­t.

In der Analyse der emotionsge­schichtlic­hen Darstellun­gen in anders fühlen kommt Gammerl zu bemerkensw­erten Schlüssen, schreibt er doch dem Wandel der Gefühle zu, sowohl Effekt als auch Auslöser gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen zu sein. Das „enorme transforma­tive Potential“von Gefühlen könne dementspre­chend den Lauf der Geschichte verändern. So spannend diese Thesen sind, ist es doch auch ein kleines Manko dieses Buches, dass ihre inhaltlich­e Argumentat­ion knapp ausfällt. Dies soll den Gesamteind­ruck allerdings nicht schmälern: anders fühlen ist ein lesenswert­es Buch, das spannende Einblicke in ein lange tabuisiert­es Thema ermöglicht. RO

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