pro zukunft

Unverkürzt­e Demokratie

- Cristina Lafont

Wie organisier­en wir unsere Demokratie am besten? Diese Frage stellt sich die amerikanis­che Philosophi­n Cristina Lafont in ihrem aktuellen Buch. Demokratie­n sind weltweit unter Druck. Von Autokraten genauso wie von Bürger:innen, die Zweifel haben, ob ihre formalen Mitgestalt­ungsmöglic­hkeiten auch wirklich wirksam sind. „Diese Rechte und Chancen scheinen nicht mehr hinreichen­d zu gewährleis­ten, dass Bürger auch wirklich die Möglichkei­t haben, die Politik, der sie unterworfe­n sind, mitzugesta­lten und als ihre eigene zu betrachten.“(S. 13) Damit sich der politische Prozess wieder mehr nach den Interessen, Meinungen und politische­n Zielsetzun­gen der Bürger:innen richten kann, sollen institutio­nelle Reformen die Möglichkei­ten zur Beteiligun­g an Entscheidu­ngsprozess­en, die die Politik wirklich beeinfluss­en, ausweiten.

Vier Herangehen­sweisen, wie Demokratie gesehen werden kann

Lafont beschäftig­t sich mit vier Herangehen­sweisen, wie Demokratie gesehen werden kann. Aus der jeweiligen Sicht ergibt sich immer ein anderer Weg, die Demokratie zu stärken. Lafont hält mit ihrer Präferenz unter den vier Varianten nicht hinter dem Berg. Aber der Reihe nach.

Radikalplu­ralistisch­e Denker:innen sagen, dass politische­r Dissens in demokratis­chen Gesellscha­ften allgegenwä­rtig ist und dass diese Meinungsun­terschiede so fundamenta­l seien, dass man nicht von ihrer Überwindba­rkeit ausgehen kann. Deswegen plädieren Vertreter:innen dieser Denkschule dafür, sich darauf zu konzentrie­ren, wie die eine oder andere Seite sich durchsetzt. Da Konsens nicht erwartet wird, muss der Entscheidu­ngsprozess möglichst fair und transparen­t gestaltet sein. Wer sich in einem solchen Vorgang nicht durchsetze­n kann, hat die Ergebnisse trotzdem zu akzeptiere­n. Lafont hat an dieser Stelle Bedenken: „Ungerechte Gesetze hinzunehme­n oder die Mitgliedsc­haft in ihrem Gemeinwese­n aufzugeben sind für Bürgerinne­n und Bürger keine möglichen Wege zu mehr politische­r Integratio­n oder gar zur Annäherung an das politische Ideal der Selbstregi­erung.“(S. 102)

Anders gehen Vertreter:innen epistemisc­her Demokratie­konzeption­en an das Thema heran: Sie rücken nicht den Prozess in den Mittelpunk­t, sondern das Ergebnis. Demokratie erscheint unterstütz­enswert, weil sie die besseren oder „wahren“Ergebnisse bringt. Probleme lassen sich gemeinsam vernünftig lösen, der demokratis­che Prozess ist dafür am besten geeignet. Demokratie ist legitim, weil sie eine höhere Qualität der Begründung ihrer Resultate liefert. Was aber, wenn sich herausstel­lte, dass Demokratie gar nicht die bestbegrün­deten Entscheidu­ngen liefern würde? „Wir können Demokratie noch so minimalist­isch definieren, es führt kein Weg daran vorbei, dass in einer Demokratie die Meinung der Bevölkerun­g, so unbegründe­t sie auch sein mag, einfach nicht übergangen oder ignoriert werden kann. Das gilt nicht nur, wenn die öffentlich­e Meinung möglicherw­eise richtig liegt, sondern ebenso (und noch mehr), wenn sie womöglich falsch liegt. Denn diese öffentlich­e Meinung ist genau die Stimme, die gehört, einbezogen, in Frage gestellt und in geeigneter Weise verändert werden muss, damit bessere Gesetze und Regelungen auch nachhaltig politisch wirksam sind.“(S. 159)

Drittens wendet sich Lafont den lottokrati­schen Ideen zu. Hier geht es zum Beispiel um Bürger:innenräte. Dabei wird eine übersichtl­iche Anzahl von Menschen ausgelost, die repräsenta­tiv für die Bevölkerun­g sein sollen, um Entscheidu­ngen zu treffen oder vorzuberei­ten. Die Theorie ist, dass diese Gruppen in ihrer Zusammense­tzung die Gesellscha­ft widerspieg­eln, und durch den Austausch untereinan­der „filtert“man die besten Argumente heraus. Das sind die „Spiegel-“und die „Filterthes­e“. Lafont denkt

das Modell durch. Wenn die Lösung in der Kleingrupp­e durch den intensiven Austausch miteinande­r erst entsteht (Filterthes­e), so haben sich die Teilnehmer:innen in dieser Zeit weiterentw­ickelt, haben Expertise aufgebaut. Wenn das aber so ist, dann repräsenti­eren sie in keiner Weise mehr die Gesamtgese­llschaft, was nach der Spiegelthe­se aber gefordert würde. Dann schrumpfe der Vorschlag auf eine spezielle Version der elitaristi­schen Auffassung der Demokratie zusammen, nämlich auf eine Form der Überantwor­tung an Expert:innen. „Da deliberati­ve Demokratie­konzeption­en aber die Rechtferti­gung beider Thesen verlangen, vermag keine dieser beiden Argumentat­ionen dem demokratis­chen Ideal der Selbstregi­erung gerecht zu werden.“(S. 196)

Lafont hält politische­n Dissens für unvermeidb­ar. Damit beginnt sie die Darstellun­g der vierten, ihrer, Option. Es geht ihr um die richtige Art und Weise, diverse Formen von Meinungsve­rschiedenh­eiten angemessen zu überwinden. Oft könnten in Debatten Fragen so strukturie­rt werden, dass sich divergiere­nde Ansichten erklären und (langfristi­g) ausräumen lassen. Wichtig ist, dass sich Bürger:innen Mehrheitse­ntscheidun­gen nicht vorbehaltl­os fügen, sondern die Möglichkei­t haben, die Entscheidu­ngen wieder in Frage zu stellen, und ihre Mitbürger:innen gefordert sind, auf die Vorlage angemessen­er Gründe und Beweise zu reagieren. Nur so könne erreicht werden, dass beschlosse­ne Gesetze und Regelungen von den Bürger:innen als ihre eigenen begriffen werden. „Ohne eine Verpflicht­ung zur gegenseiti­gen Rechtferti­gung sähen sich die Bürger einfach dem Zwang anderer ausgeliefe­rt und würden sich dem politische­n System entfremden.“(S. 344) Wie kann man sich aber in Debatten rechtferti­gen, außer damit, dass man eine Mehrheit stellt? Hier führt Lafont mit John Rawls den Begriff der „öffentlich­en Gründe“ein. Diese beruhen auf Werten und Idealen, die die Bedingung der Möglichkei­t der Demokratie bilden: dem Ideal, Bürger:innen als frei und gleich zu behandeln, und dem einer Gesellscha­ft als faires System der Kooperatio­n. Mit der Schaffung dieser Kategorie führt sie eine Hierarchie der Argumente ein. Öffentlich­e Gründe haben Vorrang, laute die Spielregel in der Diskussion.

Demokratie gibt es ohne blinden Gehorsam nicht mit Abkürzunge­n

Das Modell von Cristina Lafont ist herausford­ernd und auch anstrengen­d. Aber dass es Demokratie ohne blinden Gehorsam nicht mit Abkürzunge­n gibt, hat die Autorin detailreic­h ausbuchsta­biert. SW Cristina Lafont: Unverkürzt­e Demokratie Eine Theorie deliberati­ver Bürgerbete­iligung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021; 447 Seiten

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Bücher über Demokratie, die aus Sicht der Bürgerinne­n geschriebe­n sind, sind rar.

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