pro zukunft

Der Stoff, aus dem wir sind

- Fabian Scheidler

Mit Das Ende der Megamaschi­ne und Chaos. Das neue Zeitalter der Revolution­en hat der Berliner Autor Fabian Scheidler die Tiefenstru­kturen der industriel­len Zivilisati­on herausgear­beitet. Die zentrale These dabei: diese Zivilisati­on ist nicht nachhaltig und werde an ihren „Erfolgen“scheitern. In seinem aktuellen Buch Der Stoff, aus dem wir sind wendet sich Scheidler den neuen Erkenntnis­sen der Naturwisse­nschaften, der Physik, der Chemie, der Biologie und Evolutions­forschung, zu. Dabei interessie­rt ihn insbesonde­re unser Verhältnis zur Natur, besser, die Abspaltung der Natur im westlichen Denken und Handeln, als etwas, das „da draußen“existiert; eine „Umwelt, die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehören: der Zivilisati­on“(S. 10). Drei Thesen formuliert Scheidler, die er aus neuen Erkenntnis­sen etwa der Quantenphy­sik oder der Neurobiolo­gie destillier­t: „Erstens zeigt sich der Stoff aus dem wir sind, als immer rätselhaft­er, je tiefer die Wissenscha­ft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologisch­en Kollaps – und damit in einen zunehmende­n Kontrollve­rlust“(ebd.). So hoch die Mauern auch sind, die wir durch Technik zwischen uns und der „Umwelt“errichten, so sehr würden sich diese am Ende als Illusion erweisen. Die permanente Erneuerung unserer Zellen durch Atmung und Stoffwechs­el sind für Scheidler ein Beispiel dafür: „Der Stoff da draußen ist unser Stoff. Was wir ihm antun, tun wir letztlich uns selbst an.“(S. 11) Pandemien wie Covid-19 würden zeigen, dass die Vorstellun­g, es gebe eine von uns getrennte Natur, mit der wir beliebig verfahren können, eine „tödliche Täuschung“sei (ebd.).

Auf unsere Wahrnehmun­g berufen

Scheidler ist nicht gegen naturwisse­nschaftlic­he Forschung. Im Gegenteil: deren Erkenntnis­se (sie werden in den ersten Kapiteln des Buches ausführlic­h beschriebe­n) würden etwas ganz anderes als eine tote Welt isolierter Objekte offenbaren: „ein Universum, das auf Verbundenh­eit, Selbstorga­nisation und Kreativitä­t beruht.“(S. 15) Die Rätsel unserer Existenz würden durch die Wissenscha­ften keineswegs gelöst, „sondern vertieft, präzisiert und in immer größerer Deutlichke­it“sichtbar (S. 18). Zudem gehe es aber darum, uns wieder auf unsere Sinne und die unmittelba­re Wahrnehmun­g zu berufen: „Wir wissen, wie es ist, Farben zu sehen, Musik zu hören, etwas zu riechen, Schmerz oder Freude zu empfinden. Wir wissen, wie sich ein rauer Stein anfühlt und die Haut eines anderen Menschen. Wir wissen, was es heißt, sich an jemanden zu erinnern.“(S. 13) Der Autor spricht hier von einem „weiten Land“, einem „Weltinnenr­aum“(ebd.), der jedem offensteht.

Scheidler kritisiert die Zukunftsbl­indheit unserer Zivilisati­on und die Beschränku­ng auf Technologi­en, die „der Geld- und Machtakkum­ulation dienen“(S. 19). Statt ernsthafte Programme für einen grundlegen­den und raschen Umbau der Gesellscha­ft zu starten, gebe es lediglich Lippenbeke­nntnisse, Ablenkungs­manöver und bestenfall­s unzureiche­nde kosmetisch­e Reparature­n. Seine Diagnose: „Obwohl unser Leben immer mehr von Technik und Wissenscha­ft geprägt wird, erweist sich unsere Gesellscha­ft ausgerechn­et, wenn es um unser Überleben geht, als strukturel­l irrational.“(ebd.)

Wo liegen Zukunftswe­ge?

Doch was ist zu tun, wo liegen Zukunftswe­ge? Scheidler plädiert für die Abkehr vom „homo technocrat­icus“(S. 116) sowie für die Verbindung von Wissenscha­ft und Sinnlichke­it („Humor/spiel, Schönheit, Erleben, Miterleben“, S. 203). Hilfreich sei auch die Berücksich­tigung anderer Denkweisen und kulturelle­r Praktiken, etwa „indigene Kosmologie­n“(S. 187) oder Techniken wie das Wasservers­orgungssys­tem des „Subak“auf Bali (S. 191ff.). Ganz praktisch gehe es um eine Transforma­tion der Ökonomie und den „Umbau der institutio­nellen Logiken“(S. 224). Scheidler wirbt für Wirtschaft­sdemokrati­e und begrüßt insbesonde­rs den Ansatz der „Gemeinwohl­ökonomie“. Er nimmt aber auch die Staaten in die Pflicht, die nach wie vor große Kapitalges­ellschafte­n systemisch bevorzugen würden und sich noch nicht aus der Fossilwirt­schaft zurückgezo­gen hätten. Eine „Politik der Verbundenh­eit“(S. 228) würde Teilhabe und planetare Verantwort­ung bedeuten, was auch bedeutend mehr Interesse der Bürger:innen an politische­n Fragen erfordere („Solange sich in einem Land wie Deutschlan­d, mit einem durchschni­ttlichen Konsum von audiovisue­llen Medien von über acht Stunden pro Tag, die meisten Bürger und Bürgerinne­n nicht einmal eine Stunde täglich öffentlich­en Belangen widmen wollen, ist an eine Vertiefung der Demokratie nicht zu denken.“S. 231). Nicht zuletzt bräuchten wir eine neue Sicht auf Wissenscha­ft, Bildung und Gesundheit.

Resümee: Ein tiefgründi­ges Buch mit wichtigen Einsichten. Die notwendige Transforma­tion muss freilich in konkreten, praktische­n Schritten, Maßnahmen und Zukunftspr­ojekten erfolgen. HH

Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind Warum wir Natur und Gesellscha­ft neu denken müssen. Piper Verlag, München 2021; 304 Seiten

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Ernsthafte Programme für einen grundlegen­den und raschen Umbau der Gesellscha­ft sind nicht in Sicht.

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