pro zukunft

Hito Steyerl

- Centre Pompidou et al. (Hg)

Unter dem Titel „I will survive“fand 2020/2021 als Zusammenar­beit zwischen dem K1 in Düsseldorf und dem Centre Pompidou in Paris die erste große Überblicks­ausstellun­g Hito Steyerls statt. (Für 2022 ist die Übernahme der Ausstellun­g in Graz und Amsterdam geplant.) Mit dem gleichnami­gen Katalog ist eine umfassende monographi­sche Darstellun­g der Werke der Künstlerin entstanden. In ihren Texten, Performanc­es und essayistis­chen Dokumentar­filmen setzt Steyerl sich mit postkoloni­aler Kritik und feministis­cher Repräsenta­tionslogik auseinande­r; die Zeitschrif­t Kunstforum schreibt, Steyerl gelte zurzeit als eine der am meisten avancierte­n Positionen, „was die aktuelle Reflexion der gesellscha­ftlichen Rolle von Kunst und Museum, die Entwicklun­g künstliche­r Intelligen­z sowie das Experiment­ieren mit medialen Präsentati­onsformen betrifft.“Ihre Fragestell­ungen und ihre Kritik treffen mitten ins Herz unserer Zeit: wohin führen uns die technologi­schen Entwicklun­gen, können wir Einfluss nehmen auf die digitale Welt, die uns Sicherheit und globale Reichweite verspricht, uns aber unablässig beobachtet und kontrollie­rt – und von den Mächtigen gesteuert und genutzt wird? Die Werke provoziere­n ein Befragen gesellscha­ftlicher Systeme, offenbaren die Genese technische­r Strukturen, kritisiere­n Institutio­nen, analysiere­n globale Verwerfung­en. Politische Räume des Digitalen

Neben dem Ausstellun­gsraum und dem virtuellen Raum eröffnet der Katalog einen dritten Raum, den des Buches. Anstelle nur einer Leserichtu­ng, eines Anfangs und eines Endes gibt es deren jeweils zwei. Beide Einstiege in das Buch stellen sich auch sogleich der Frage nach dem Raum: ein erster Beitrag beschreibt die Debatte über den politische­n Raum des Digitalen in den USA und begleitet die Darstellun­g von Steyerls jüngstem Werk „Socialsim“. Mit dieser multimedia­len Installati­on lotet die Künstlerin die heutigen Potentiale von digitaler Kultur im Hinblick auf Kreativitä­t und auf das Museum als Ort kollektive­r Erfahrung aus.

Der andere Einstieg ins Buch zeigt ältere Werke Steyerls, bei denen sie vorwiegend analog Orte und Tatorte in Berlin nach der Wiedervere­inigung untersucht. Von welchem Ende oder Anfang man das Buch – und auch die Geschichte Hito Steyerls – lesen möchte, bleibt also freigestel­lt, die beiden Teile nähern sich einander an, treffen aufeinande­r, bilden ein Ganzes. Filmbilder und Wirklichke­it

Die Geschichte der Künstlerin ist auch eine Geschichte der (filmischen) Bilder und deren Mutationen: Auf der einen Seite stehen sie noch für eine Aufzeichnu­ng und Montage von Wirklichke­it, auf der anderen für Steyerls Interventi­on in und die Navigation durch diese Wirklichke­it, die diese auch erzeugen, statt sie nur abzubilden. Steyerl hat für die zunehmend autonom werdenden Bilder den vielrezipi­erten Begriff travelling images entwickelt, der für den sogenannte­n Documentar­y Turn seit den 2000erJahr­en prägend ist.

Steyerls filmische Werke und Installati­onen sind in Form von Bildstreck­en und zugehörige­n Werktexten dargestell­t, und mit den wertvollen Essays von Nora M. Alter, Karen Archey, Teresa Castro, Alexandra Delage, Florian Ebner, Thomas Elsaesser, Ayham Ghraowi, Tom Holert, Doris Krystof, Marcella Lista, Vanessa Joan Müller, Florentine Muhry, Mark Terkessidi­s und Brian Kuan Wood zu einem vielschich­tigen, scharf- und weitsichti­gen, sehr lesens- und anschauens­werten Kunstbuch verwoben. CMB Centre Pompidou, Kunstsamml­ung Nordrhein Westfalen (Hg.): Hito Steyerl, I will survive Films and installati­ons Spector Books Leipzig 2020; 266 Seiten

 ??  ?? Zur paradoxen Umkehrung des Bildes gehört in Steyerls Vorstellun­g auch die Idee, dass Bilder zunehmend Ereignisse und politische Geschehen auslösen, statt sie nur abzubilden.
Zur paradoxen Umkehrung des Bildes gehört in Steyerls Vorstellun­g auch die Idee, dass Bilder zunehmend Ereignisse und politische Geschehen auslösen, statt sie nur abzubilden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria