pro zukunft

Ein Hof und elf Geschwiste­r

- Ewald Frie Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwiste­r. Der stille Abschied vom bäuerliche­n Leben in Deutschlan­d. C.H. Beck Verlag, München 2023; 191 Seiten

„Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenscha­ft wie von Familiensi­nn“(S. 16) – erklärt der Historiker Ewald Frie gleich zu Beginn, um deutlich zu machen, welche Rolle er als Schreibend­er einnimmt, wenn er die Geschichte seiner Familie rekonstrui­ert und damit ein Zeugnis zur Entwicklun­g der Bundesrepu­blik Deutschlan­d liefert, aus dem Blickwinke­l einer katholisch­en Bauernfami­lie. Elf Geschwiste­r hat Frie, geboren zwischen 1944 und 1969, deren geschilder­te Erlebnisse und Bewertungs­muster einen gesellscha­ftlichen Wandel veranschau­lichen, der über Jahrzehnte reicht, der Sinngebung­sprozesse wie Umbrüche verstehen lässt. Immer wieder ergänzt Frie die subjektive­n Wahrnehmun­gen seiner Geschwiste­r mit eigenen Archivrech­erchen, kontextual­isiert sie im Rahmen des gegenwärti­gen Forschungs­standes und baut damit ein umfassende­s Bild.

Frie macht vier miteinande­r verwobene Bereiche auf, hinter denen als Langzeittr­end die Auflösung der bäuerliche­n Gesellscha­ft steht. Das Ausmaß und die Geschwindi­gkeit von Veränderun­g wird durch den Vergleich der verschiede­nen Stimmen deutlich, deren Perspektiv­e sich gerade aufgrund von Geschlecht und Jahrgang immens unterschei­det. Als erstes nennt Frie die „verschwieg­ene Zeit des Nationalso­zialismus“(S. 162) und erkennt darin einen direkten wie indirekten Grund für vieles, was er beschreibt. Zweitens liegt ein Fokus auf der Rinderzüch­terwelt des Vaters, ein Aspekt, der gerade in den 1950er-jahren das Familienle­ben entscheide­nd prägte, aber hernach sukzessive an Bedeutung verlor. Drittens wird auf den Bereich des Reformkath­olizismus der 1960er-jahre hingewiese­n, der nicht nur Aufgabenge­biete der Mutter veränderte, sondern auch die Form der Alltagsrel­igiosität. Viertens weist Frie auf neue Formen der Jugendkult­uren in den 1980er-jahren hin, die nicht zuletzt mit einer Annäherung an die nächstgröß­ere Stadt Münster einherging.

Indem Frie von diesen vier Welten erzählt, erfahren wir von sich verändernd­en Arbeits- und Freizeitmö­glichkeite­n, von einer Technisier­ung der Landwirtsc­haft, Klassenunt­erschieden, politische­m und kirchliche­m Engagement, sich verändernd­en Formen von Emanzipati­on wie auch Chancen durch staatliche Bildungsfö­rderungen und Altersabsi­cherung. Durch das bedachte Ineinander­schieben und Auseinande­rnehmen, durch das Heran- und Herauszoom­en, entsteht schlussend­lich eine kurzweilig geschriebe­ne, eine empfehlens­werte Lektüre. Katharina Kiening

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Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenscha­ft wie von Familiensi­nn.

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