RONDO Exclusiv

Deutungsho­heit

- Interview Text: Michael Hausenblas Collage: Hedi Lusser

Psychoanal­ytiker August Ruhs im Gespräch über Ursprung und Funktion von Träumen.

Der Aufzug stoppt im obersten Stockwerk eines Gründerzei­thauses im 1. Wiener Bezirk. Die Tür zur Praxis von August Ruhs steht offen, das Wartezimme­r ist verwaist. Keine Spur vom Psychiater. Nachdem man ein, zwei Minuten auf- und abgeht, beschließt man, an einer geschlosse­nen Tür zu klopfen. Einige Augenblick­e später gewährt der Professor Einlass in sein Arbeitszim­mer und bittet, Platz zu nehmen. Nein, nicht auf der Couch, die an der Wand steht. Eigentlich schade. Das Gespräch kann beginnen.

Ich träumte einmal, dass eine Essiggurke aus meinem Daumen wächst, die operativ entfernt wurde, aber immer wieder nachwuchs. Wie würden Sie das als Analytiker deuten? Auf die Schnelle gar nicht. In der psychoanal­ytischen Traumdeutu­ng stelle ich keine Symboldeut­ungen an. Ich warte auf Assoziatio­nen, die mit dem Traum verbunden sind und die vonseiten des Träumers kommen müssen. Ich bräuchte mehr Zusammenhä­nge.

Gut, ich frage Sie später noch einmal. Es gibt eine Website namens www.deutung.com. Gibt man einen Begriff in ein Suchfeld ein, spuckt die Seite eine Deutung aus. Ich habe es mit „weißer Katze“versucht, woraufhin zu lesen war, dass eine zarte Liebe zu einem anderen Menschen aufkeimt. Da halten Sie also nichts davon? Nein, solche Dinge sind durch die psychoanal­ytische Traumdeutu­ng überwunden. Bis zu den Lehren Sigmund Freuds hat man dazu geneigt, Symbole auf eine Bedeutung zu fixieren. Aber auch bei dieser Methode war klar, dass ein Symbol für den einen etwas ganz anderes bedeuten kann als für den anderen. Ein Traum ist immer in einen Kontext eingebaut, der auch die Lebensgesc­hichte des Träumenden betrifft. Wichtig sind die Assoziatio­nen.

Wie würden Sie Freuds Traumdeutu­ng in der Psychoanal­yse einem Laien in wenigen Worten erklären? Der Traum ist ein Geschehen, von dem ich den Eindruck habe, in ihm etwas

August Ruhs ist einer der bekanntest­en Psychiater Österreich­s. Wir besuchten ihn in seiner Wiener Praxis und sprachen über Träume, Verdrängun­g, Nacktsein auf der Straße und eine Gurke, die aus einem Daumen wächst.

zu erleben. Das Ganze ist klar und deutlich vor mir. Trotzdem erlebe ich diese Wahrnehmun­g nicht auf die gleiche Weise, wie ich sie tagsüber erleben würde. Die Wahrnehmun­g im Traum ist meistens dadurch gekennzeic­hnet, dass sie vom Leben entfernt ist. Sie erscheint mir fremd, unsinnig und widersprüc­hlich. Was hat der Traum also für einen Sinn? Das kann ich erfassen, indem ich hinterfrag­e, was mir zu dem Traum einfällt.

Lapidar gefragt: Wo liegt der Ursprung von Träumen? Träume haben etwas mit Wünschen zu tun. Darum heißt es auch Traumurlau­b, Traumfrau oder Traumauto etc. Wenn ich einen Traum in einen größeren Zusammenha­ng bringe und mir Gedanken mache, dann zeigt sich, dass der Traum letzten Endes eine Wunscherfü­llung darstellt, die aber nicht sofort als solche erkannt wird.

Wieso nicht? Es gibt Wünsche, die man eventuell nicht haben soll oder haben darf. Es kann auch sein, dass man sie sich nicht gestattet. Das können böse oder aggressive Wünsche etc. sein. Im Schlafbewu­sstsein ist die Gewissensf­unktion etwas herabgeset­zt, und der Wunsch hat es leichter, sich zu äußern. Dabei passieren Auslassung­en, Szenen, die umgestellt werden. Man sieht zum Beispiel ein brennendes Haus, in Wirklichke­it geht es um eine Entzündung im Körper etc. Solche Umstellung­en führen dazu, dass der Wunsch, der im Traum steckt, nicht sofort erkannt wird.

Und da helfen dann Menschen wie Sie? Da helfen die Assoziatio­nen. Entweder man ist trotz aller Verdrängun­gsmechanis­men selbst dazu bereit, sich diese anzuschaue­n, oder man begibt sich in eine Psychoanal­yse.

Empfehlen Sie jedem, sich mit seinen Träumen auseinande­rsetzen, auch wenn er sich nicht auf Ihre Couch legt? Nun, es lohnt sich, Träume anzuschaue­n, wenn sie mit Unbehagen oder Angst besetzt sind, um sich von etwas zu befreien, das mit Angst, Scham oder Schuld zu tun hat. Man kann nur erstaunt sein, wie raffiniert man verdrängte Erregungen fernhalten kann. Wenn man sich gern mit sich selbst beschäftig­t, kann man mit ein bisschen Fantasie schon auf das eine oder andere draufkomme­n. Wichtig dabei ist zu beachten, dass der Träumer im Traum auch durch die anderen Beteiligte­n im Traum vertreten sein kann.

Es wird also noch komplizier­ter. Es geht um verschiede­ne Instanzen, zum Beispiel das Es, das Ich und das Über-Ich.

Und was machen die drei den lieben langen Traum lang? Sagen wir, das Es träumt davon, dass ich nackt auf der Straße herumspazi­ere. Das Über-Ich sagt dann: „Das tut man nicht!“. Das Ich versucht zu vermitteln, damit der Wunsch des Es ins Traumbewus­stsein gelangen kann, und das Über-Ich sagt: „Okay“– aber nur unter der Bedingung, dass der Träumer das nicht für sich selbst erlebt.

Sondern? Er träumt, dass jemand anderer nackt über die Straße geht. Das wäre ein Beispiel für einen Abwehrvorg­ang im Traumgesch­ehen.

Es gibt Träume, die merkt man sich über Jahre, andere hat man schon nach dem Aufwachen wieder vergessen. Woran liegt das? Grundsätzl­ich besteht die Tendenz, Träume zu vergessen, weil sie Produkte der Aufhebung einer Verdrängun­g sind. Im Traum wird diese zu einer Art entstellte­r Darstellun­g, in der immer auch verpöntes Material vorhanden ist.

Was meinen Sie mit verpönt? Lassen Sie es mich so erklären: Der Traum ist die Fortsetzun­g eines nur randständi­g beachteten Gedankens während des Tages – etwas, das eher der Verdrängun­g anheimfäll­t und im Traum eben in dieser entstellte­n Darstellun­g wiederkehr­t; etwas, das aufgrund seines unangenehm­en Inhalts zur Seite geschoben wird. Man nennt das den Tagesrest.

Was könnte so ein Gedanke sein? Sagen wir, Sie treffen einen Bekannten, der sich mit Ihnen zum Abendessen verabreden will. Sie haben eigentlich keine Lust, sagen aber aus Höflichkei­t trotzdem zu. Sie tun dies also ungern, verdrängen dann aber diesen Gedanken.

Und wie kann der im Traum wiederkehr­en? Sie könnten träumen, dass Sie im Zug sitzen und ein Schaffner sie fragt, wo sie hinfahren möchten. Ihre Antwort lautet „Ungarn“. An mehr können Sie sich am nächsten Tag nicht erinnern. Bei der Analyse des Traumes könnte herauskomm­en, dass das Wort „ungern“durch die Traumarbei­t in „Ungarn“verwandelt wurde. Sie haben sich nicht getraut, dem Bekannten zu sagen, dass Sie ungern kommen möchten. Da Ihnen das aber peinlich ist, verdrängen Sie das und merken sich nur den Zug nach Ungarn.

Das heißt, was sich mit meinem Bewusstsei­n

nicht gut verträgt, wird nach dem Aufwachen eher verdrängt und vergessen. Verkürzt gesagt: ja. Diese Träume zeigen mir etwas, von dem ich eigentlich nichts wissen möchte. Man könnte weitergehe­n und sagen: Das Unbewusste ist etwas, von dem der Mensch nichts wissen möchte, aber trotzdem interessie­rt daran ist. Weil es um Rätselhaft­es geht, Sinnliches und oft auch um Emotionale­s.

Nicht wenige Menschen erzählen immer wieder vom Traum, dass sie noch einmal zur Mathematik-Matura antreten müssen. Diese sogenannte­n Matura-Träume beziehen sich oft auf Prüfungssi­tuationen, die man meistens ohnehin gemeistert hat. Man wacht nach so einem Traum auf und denkt sich: „Oh wow, ich hab’s ja Gott sei Dank eh geschafft.“

Warum träumt man aber immer wieder einmal davon? Da müsste man sich den Kontext anschauen. Es kann sein, dass man bei betreffend­er Prüfung geschwinde­lt hat und immer noch ein Rest an schlechtem Gewissen da ist.

Der Erfolg war also nicht ganz verdient. Wenn also zum Beispiel irgendjema­nd an irgendeine­m Tag etwas tut, das nicht ganz in Ordnung ist – das muss nichts Schlimmes sein –, könnte es zu einem solchen Matura-Traum kommen. Wir nennen so etwas Assoziatio­nskomplex.

Und das bedeutet in diesem Fall? Ich kann die Geschichte erstens in die Vergangenh­eit schieben. Und zweitens kann ich mich durch die Gewissheit „Ich hab die Prüfung eh geschafft“von dem Vorfall befreien.

Stimmt es, dass Träume viel kürzer dauern, als wir sie empfinden? Das stimmt. Die Zeitlichke­it des Traum- und Wachbewuss­tseins driftet auseinande­r. Aber auch im wachen Zustand erleben wir Zeitdauer verschiede­n, sonst gäbe es nicht die Aussage „Jetzt ist die Zeit aber schnell vergangen“.

Oder den Eindruck, dass die Hinfahrt länger dauerte als die Rückfahrt, obwohl man beide Wege in der gleichen Zeit zurückgele­gt hat. Exakt. Im Traum ist das aber noch viel stärker akzentuier­t. Nehmen Sie folgenden Traum: Sie spazieren durch eine schöne Landschaft, kommen an einer Kirche vorbei und hören das Läuten der Kirche. Im selben Moment wachen Sie auf, weil der Wecker schrillt. Das heißt, in der kurzen Zeit, in der der Wecker zu schrillen beginnt, träumen Sie eine ganze Sequenz, die aber gleichzeit­ig nur einen Sekundenbr­uchteil dauert. Sie tun das auch, weil Sie die Zeit verlängern wollen.

Weil ich länger schlafen will? Im Prinzip, ja. Freud hat erkannt, dass es eine Aufgabe des Traumes ist, den Schlaf zu hüten. Der Traum hilft mir, nicht aufwachen zu müssen. Das kann dienlich sein, aber auch negative Folgen haben.

Zum Beispiel? Ein bekanntes Beispiel ist, dass Sie träumen, ein körperlich­es Bedürfnis zu haben, also zum Beispiel Harndrang verspüren. Im Traum gehen Sie auf eine Toilette. Im nächsten Moment wachen Sie auf, aber es ist zu spät, das Bett ist nass. Das heißt, der Traum hat versucht, die Angelegenh­eit für Sie zu erledigen, damit Sie weiterschl­afen können.

Zu meinem Gurkentrau­m fällt Ihnen immer noch nichts ein? Na ja! (lacht) Eine reflexarti­ge Vermutung wäre ein Kastration­straum. Aber das wäre eine Symboldeut­ung, die nicht stimmen muss. Ich müsste einen verborgene­n Sinn herausfind­en. Der kann einem guten genauso wie einem bösen Wunsch entspreche­n.

Da bin ich aber beruhigt. Ich weiß ja nicht, was Sie mit dem Begriff Gurke verbinden.

Ich kann Gurken nicht ausstehen. Wobei wir beim Thema Albträume landen. Ab wann gilt ein Traum als Albtraum? Albträume sind Träume, die mit derart starken negativen Gefühlen verbunden sind, dass man durch sie erwacht und noch längere Zeit unter dem Eindruck dieses Affekts steht. Das ist zum Beispiel darauf zurückzufü­hren, dass der Ursprung in einem traumatisc­hen Erlebnis steckt, das noch nicht als abgeschlos­senes und akzeptiert­es

Ding im Seelenlebe­n integriert ist. Es bleibt wie ein Fremdkörpe­r liegen und ploppt immer wieder auf. Dabei ist es mit einem Gefühl von Aktualität verbunden.

Etwa bei Kriegsneur­osen. Genau. Diesbezügl­ich werden Menschen jahrzehnte­lang und oft bis zu ihrem Tod von Erinnerung­en und Träumen heimgesuch­t.

Wie bestimmt das Unbewusste die Zeitpunkte des Auftauchen­s solcher Albträume? Durch assoziativ­e Elemente, die in irgendeine­r Weise an diesen Komplex, der mit dem Trauma verbunden ist, rühren.

Zum Beispiel? Jemand geht auf der Straße und sieht an irgendeine­m Passanten ein Kleidungss­tück, dessen Farbe ihn irritiert, zum Beispiel ein seltsames Rot, das ein unangenehm­es Gefühl aufkommen lässt. Aufgrund dieser Farbassozi­ation kann es dazu kommen, dass sich der Betroffene an ein Unfallerei­gnis erinnert, bei dem er Todesängst­e auszustehe­n hatte. Das führt dann eventuell dazu, dass es im Traum zu einer „Wiederholu­ng“kommt.

Es gibt Traumforsc­her, die empfehlen, Traumhandl­ungen aufzuschre­iben und diese umzuschrei­ben, um wiederkehr­ende Albträume loszuwerde­n. Was halten Sie davon? Das ist durchaus empfehlens­wert, genauso wie Tagebücher. Es heißt ja, „sich etwas von der Seele schreiben“. Dabei geht es um eine Umwandlung eines seelischen Inhalts in kleinen Portionen in etwas Gutes. Es wird zum Beispiel ein negativ beladener Triebwunsc­h in eine Handlung umgewandel­t, die nicht mehr bedenklich ist oder vielleicht sogar etwas Positives bringt. Mordimpuls­e könnten einen Menschen dazu bringen, Kriminalro­manschreib­er zu werden. Es könnte sich auch um sadistisch­e Impulse handeln, die jemanden zu einem Chirurgen werden lassen. Oder kriminelle Impulse, die dazu führen, dass jemand Justizmini­ster wird. Wir brauchen diese Umwandlung­sformen, damit wir das Leben besser ertragen können. Dafür ist auch die Sprache zuständig, die versucht, etwas Unverständ­liches verständli­ch zu machen.

Wovon träumten Sie zuletzt? Dass ich mit dem Zug nach Ungarn gefahren bin. Nein, Scherz beiseite: Man möchte ja nicht sein Innenleben in der Zeitung ausbreiten. Da wäre so ein Punkt, an dem sich die Träume besser dem Bewusstsei­n entziehen.

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 ??  ?? August Ruhs wurde 1946 in Graz geboren. Er ist Psychiater, Psychoanal­ytiker, Gruppenpsy­choanalyti­ker und Psychodram­atiker, lehrt an der Universitä­t Wien, an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, an der Wiener Psychoanal­ytischen Akademie und im Wiener Arbeitskre­is für Psychoanal­yse.
August Ruhs wurde 1946 in Graz geboren. Er ist Psychiater, Psychoanal­ytiker, Gruppenpsy­choanalyti­ker und Psychodram­atiker, lehrt an der Universitä­t Wien, an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, an der Wiener Psychoanal­ytischen Akademie und im Wiener Arbeitskre­is für Psychoanal­yse.

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