Pro & Kontra
Pro: Karin Bauer
Selbsterkenntnis, die richtige Abzweigung erwischen, zum rechten Zeitpunkt ein deutliches Ja oder eben ein bewusstes Nein sagen. Und überhaupt, wenn es Zukunft nur im Plural gibt, wo geht’s hier in welche Zukunft? Komplexe und komplizierte Fragen. Das lässt sich natürlich alles bestens ignorieren – der Job, die Family, die Pflichten lassen ja eh kaum Luft, es muss rennen. Jeden Tag.
Interessanter als bloße Ignoranz ist aber doch, die Sache von allen möglichen Seiten zu betrachten. Was sagt die Astrologie? Was sagen die Karten? Das ist Me-Time zum Überlegen. Eine schöne Chance, sich auch mal andere Augen auszuborgen. Dazu muss frau sich nicht als Hexe definieren, nicht bei Witch-Tok dabei sein oder mit dem Küchenbesen reden. Es ist nicht gleich die schiefe Bahn in den Okkultismus, aus dem Tarot eine Tageskarte zu ziehen und darüber ein bisschen nachzudenken.
Es ist keine noch nicht ausdefinierte Krankheit, jemanden zu konsultieren, der Karten legen kann. Es gibt so viele Wege ins Paradies der Erkenntnis.
Kontra: Michael Steingruber
Es ist zu einer Tradition geworden: Beim ersten Treffen des Jahres mit meinen Freunden legen wir uns die Karten und schauen, was die nächsten zwölf Monate so bringen. Es geht dabei vor allem um den Unterhaltungsfaktor. So wirklich glaubt niemand aus der Gruppe an die weissagende Macht der Tarotkarten. Doch dann kam der Turm.
Schon allein die Visualisierung dieser Karte verheißt nichts Gutes: Ein Blitz schlägt in einen Turm ein, aus dessen Fenster lodern Flammen, Menschen stürzen mit erschrockenem Gesicht in die Tiefe. Die Erklärung zu der Karte macht die Sache nicht besser: „Plötzliche Erschütterung, Zusammenbruch bisheriger Lebensstrukturen“. Das Jahr 2023 schien für mich unter keinem guten Stern zu stehen.
Meinen Freunden gegenüber tat ich die Prognose als esoterischen Humbug ab. Doch das ganze Jahr über sah ich immer wieder die Horrorkarte vor meinem inneren Auge. So wartete ich auf ein großes Unheil. Es blieb zum Glück aus. Die Sorgen hätte ich mir sparen können. Dieses Jahr verzichtete ich übrigens auf den „Spaß“mit den Karten. Glauben Sie an die Entstehung der Welt in sieben Tagen, spirituelle Erleuchtung oder Vergebung der Sünden? Nein? Vielleicht an ewige Jugend, die unsichtbare Hand der kapitalistischen Marktwirtschaft oder die Genialität eines Tech-Milliardärs? Glaube wird als „metaphysisches Grundbedürfnis“des Menschen angesehen. Womit er dieses stillt, fällt ganz unterschiedlich aus. In säkularen Gesellschaften übernehmen Luxusmarken, Technologien oder Ernährung jene Rolle, die früher Religion innehatte. Was genau es damit auf sich hat, erörtert Markus Böhm. Dass auch Filme kultisch verehrt werden, beweist „Star Wars“. Welche Parallelen es zur Religion gibt und warum das ScienceFiction-Epos Gläubige verliert, weiß Jakob Thaller. In der Wellnessbranche lautet das Schlagwort der Stunde Longevity. Ob die Langlebigkeitsmedizin mehr als Schall und Rauch ist, hat sich Sascha Aumüller im Hotel Krallerhof angeschaut. Georges Desrues stellt einen Belgier vor, der sehr viel Zeit und Geld für Pilgerreisen zu Sterneköchen auf der ganzen Welt aufwendet, und Anne Feldkamp hat im Zuge des Modeshootings mit Anja Plaschg über deren Hauptrolle im Film „Des Teufels Bad“, katholische Prägung und meditatives Tortenbacken gesprochen.
Karten legen lassen