Schule fördert Durchschnitt statt Talente
Durchschnitt. Der österreichische Genforscher Markus Hengstschläger hält ein Plädoyer für die Individualität des Menschen. Nivellierung rüstet die Gesellschaft nicht für die Zukunft.
WIEN (SN). Die Schule verwende viel zu viel Zeit darauf, den Kindern dort weiterzuhelfen, wo sie Schwächen hätten. „Diese Zeit wäre besser investiert, wenn man die Kinder dabei unterstützen würde, ihre Stärken und persönlichen Talente nach Kräften zu entfalten“, sagt der Genetiker Markus Hengstschläger im Sn-gespräch. Der Wiener Wissenschafter kritisiert in seinem aktuellen Buch die „Durchschnittsfalle“. Statt immer nur neue durchschnittliche Menschen heranzuziehen, brauche die Gesellschaft „mehr Peaks und Freaks“.
„Individualität ist die einzige Chance, sich auf die Zukunft vorzubereiten.“
WIEN (SN). Es sollte „cool“werden, anders zu sein. Das resümiert der Genetiker Markus Hengstschläger in seinem neuesten Buch „Die Durchschnittsfalle“. Er kritisiert, dass die heutige Gesellschaft vor allem daran interessiert sei, alle gleichzumachen.
Weder Rohstoffe noch Arbeitskräfte seien das größte Kapital der Menschheit, sagt Hengstschläger. Das Kostbarste sei die Individualität. Die Evolution zeige deutlich, dass die Individualität die einzige Antwort auf die Zukunft sei. In der Natur gebe es keinen Durchschnitt, sagt er. „Wenn in der Zukunft ein Problem auftaucht, welches das System nicht kennt oder eben noch nicht kennt, wird der Durchschnitt keine Antwort darauf bieten.“
Wenn aber ein gesellschaftliches System eine möglichst breite Streuung an Individualität zulasse, dann werde man mit vielen verschiedenen Denkmustern eine Antwort darauf geben können.
Diese Varietät ist naturgemäß gegeben. Dafür sorgen die Gene, das menschliche Erbe, das von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Hengstschläger nennt ein Beispiel für die Absurdität des ak-
Markus Hengstschläger, Genetiker
tuellen gesellschaftlichen Handelns mit fatalem Hang zum Durchschnitt: die Schule. Dieses System hält seiner Meinung nach Schüler an, für Fächer am meisten zu lernen, in denen sie schlechte Noten haben. Sie täten dies auf Kosten jener Zeit, die sie mit ihren Stärken hätten verbringen können, was letztlich dazu führe, dass sie sich dann auch dort im Durchschnitt einreihten. Hengstschläger im Sn-gespräch: „In unserer vielbeschworenen Leistungsgesellschaft ist das Hervorbringen durchschnittlicher Allround-könner zur obersten Priorität geworden.“Aber wer bestimmt überhaupt, was oder wer normal ist? „Was mich als Genetiker so stört ist, dass unsere Gesellschaft Talente bewertet. Es gibt aber keine besseren oder schlechteren Talente. Jedes persönliche Talent kann dazu beitragen, in Zukunft Fragen zu lösen“, sagt er. Je schwieriger die zu lösende Aufgabe sei, umso individueller sollten die Mitglieder des Teams sein, das diese Aufgabe lösen müsse.
Zwar gebe es heute das Bestreben, auf sich zu achten und sich wichtig zu nehmen. „Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, besser, reicher oder schöner zu sein, sondern darum, anders zu sein“, sagt der Genetiker. Erfolg sei immer das Produkt aus genetischer Veranlagung, sozialem Umfeld und harter Arbeit. „Die Gesellschaft wird Herausforderungen in Zukunft nur dann bewältigen können, wenn wir jene einzigartigen Talente fördern, die in uns allen schlummern. Es muss unsere neue Norm werden, von der Norm einfach immer wieder abzuweichen. Man könnte auch anders sagen: Wir brauchen Peaks und Freaks“, sagt Hengstschläger.
Was aber die Gesellschaft von heute wolle, sei einfach nur zaghafter Durchschnitt. „Die Eltern raten ihren Kindern, möglichst von allem etwas zu können und nicht aufzufallen, schon gar nicht mit extremen Talenten oder Eigenarten. Nur dann bekommen sie einen Job. Genau das wollen auch die Lehrer und die Professoren auf den Unis und die Arbeitgeber. Auf diese Weise geht sehr viel Talent verloren. Begabungen und besondere Talente können auch verschüttet werden und verkümmern. Ich denke nicht, dass wir uns das leisten können.“