Salzburger Nachrichten

Schule fördert Durchschni­tt statt Talente

Durchschni­tt. Der österreich­ische Genforsche­r Markus Hengstschl­äger hält ein Plädoyer für die Individual­ität des Menschen. Nivellieru­ng rüstet die Gesellscha­ft nicht für die Zukunft.

- BARBARA MORAWEC Markus Hengstschl­äger: Die Durchschni­ttsfalle. Gene – Talente – Chancen. Geb., 176 S., 21,90 €, Ecowin Verlag, ISBN: 978-3-7110-0022-4

WIEN (SN). Die Schule verwende viel zu viel Zeit darauf, den Kindern dort weiterzuhe­lfen, wo sie Schwächen hätten. „Diese Zeit wäre besser investiert, wenn man die Kinder dabei unterstütz­en würde, ihre Stärken und persönlich­en Talente nach Kräften zu entfalten“, sagt der Genetiker Markus Hengstschl­äger im Sn-gespräch. Der Wiener Wissenscha­fter kritisiert in seinem aktuellen Buch die „Durchschni­ttsfalle“. Statt immer nur neue durchschni­ttliche Menschen heranzuzie­hen, brauche die Gesellscha­ft „mehr Peaks und Freaks“.

„Individual­ität ist die einzige Chance, sich auf die Zukunft vorzuberei­ten.“

WIEN (SN). Es sollte „cool“werden, anders zu sein. Das resümiert der Genetiker Markus Hengstschl­äger in seinem neuesten Buch „Die Durchschni­ttsfalle“. Er kritisiert, dass die heutige Gesellscha­ft vor allem daran interessie­rt sei, alle gleichzuma­chen.

Weder Rohstoffe noch Arbeitskrä­fte seien das größte Kapital der Menschheit, sagt Hengstschl­äger. Das Kostbarste sei die Individual­ität. Die Evolution zeige deutlich, dass die Individual­ität die einzige Antwort auf die Zukunft sei. In der Natur gebe es keinen Durchschni­tt, sagt er. „Wenn in der Zukunft ein Problem auftaucht, welches das System nicht kennt oder eben noch nicht kennt, wird der Durchschni­tt keine Antwort darauf bieten.“

Wenn aber ein gesellscha­ftliches System eine möglichst breite Streuung an Individual­ität zulasse, dann werde man mit vielen verschiede­nen Denkmuster­n eine Antwort darauf geben können.

Diese Varietät ist naturgemäß gegeben. Dafür sorgen die Gene, das menschlich­e Erbe, das von Mensch zu Mensch unterschie­dlich ist. Hengstschl­äger nennt ein Beispiel für die Absurdität des ak-

Markus Hengstschl­äger, Genetiker

tuellen gesellscha­ftlichen Handelns mit fatalem Hang zum Durchschni­tt: die Schule. Dieses System hält seiner Meinung nach Schüler an, für Fächer am meisten zu lernen, in denen sie schlechte Noten haben. Sie täten dies auf Kosten jener Zeit, die sie mit ihren Stärken hätten verbringen können, was letztlich dazu führe, dass sie sich dann auch dort im Durchschni­tt einreihten. Hengstschl­äger im Sn-gespräch: „In unserer vielbeschw­orenen Leistungsg­esellschaf­t ist das Hervorbrin­gen durchschni­ttlicher Allround-könner zur obersten Priorität geworden.“Aber wer bestimmt überhaupt, was oder wer normal ist? „Was mich als Genetiker so stört ist, dass unsere Gesellscha­ft Talente bewertet. Es gibt aber keine besseren oder schlechter­en Talente. Jedes persönlich­e Talent kann dazu beitragen, in Zukunft Fragen zu lösen“, sagt er. Je schwierige­r die zu lösende Aufgabe sei, umso individuel­ler sollten die Mitglieder des Teams sein, das diese Aufgabe lösen müsse.

Zwar gebe es heute das Bestreben, auf sich zu achten und sich wichtig zu nehmen. „Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, besser, reicher oder schöner zu sein, sondern darum, anders zu sein“, sagt der Genetiker. Erfolg sei immer das Produkt aus genetische­r Veranlagun­g, sozialem Umfeld und harter Arbeit. „Die Gesellscha­ft wird Herausford­erungen in Zukunft nur dann bewältigen können, wenn wir jene einzigarti­gen Talente fördern, die in uns allen schlummern. Es muss unsere neue Norm werden, von der Norm einfach immer wieder abzuweiche­n. Man könnte auch anders sagen: Wir brauchen Peaks und Freaks“, sagt Hengstschl­äger.

Was aber die Gesellscha­ft von heute wolle, sei einfach nur zaghafter Durchschni­tt. „Die Eltern raten ihren Kindern, möglichst von allem etwas zu können und nicht aufzufalle­n, schon gar nicht mit extremen Talenten oder Eigenarten. Nur dann bekommen sie einen Job. Genau das wollen auch die Lehrer und die Professore­n auf den Unis und die Arbeitgebe­r. Auf diese Weise geht sehr viel Talent verloren. Begabungen und besondere Talente können auch verschütte­t werden und verkümmern. Ich denke nicht, dass wir uns das leisten können.“

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