Der Vorschriften-staat korrumpiert das Recht
Die Korruption wurde neuerdings zum großen Problem. Und wenn ein Problem bewusst wird, gibt es eine offenbar unvermeidliche Reaktion: Ein Gesetz muss her! Und so wird eifrig an einem besseren, strengeren, schärferen AntiKorruptions-gesetz gearbeitet, weil doch offensichtlich die bestehenden Vorschriften nicht genügen.
Übersehen wird in dem Eifer der Nährboden, auf dem das Problem gewachsen ist: Korruption ist zu einem selbstverständlichen Phänomen geworden, das ausnahmslos alle erfasst hat. Angesichts dieser Feststellung regt sich prompt die Empörung der rechtschaffenen Bürger: Ich doch nicht! Leider bestimmt die Korruption den Alltag derart, dass man sie nicht mehr realisiert.
Derwust an Vorschriften, der jeden Lebensbereich bis in läppische Details reguliert, bewirkt, dass jeder und jede ständig Regeln verletzen. Die Bürger des Vorschriften-staates haben dabei auch kein Unrechtsbewusstsein: Schließlich sind zahllose Bestimmungen derart weltfremd und vielfach auch nicht bekannt, sodass die Einhaltung ohnehin nicht möglich ist.
Hier sei nur an Umweltauflagen, Gewerberegeln, Steuervorschriften, Sozialversicherungsbestimmungen, Bauordnungen, Schulgesetze und tausend andere Feinheiten gedacht.
Die meisten Übertretungen werden auch nicht geahndet. Immer wieder geschieht es aber, dass aus meist unerfind- lichen Gründen plötzlich doch eine Behörde einschreitet, einige Opfer auswählt und Strafen verhängt. Die Betroffenen fühlen sich naturgemäß zu Unrecht verfolgt.
Und hier beginnt die Korruption des Rechtsbewusstseins: Wenn banale Verstöße gegen banale Vorschriften zu Straftaten werden, dann verschwimmt die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht, dann verlieren echte Vergehen und Verbrechen den Charakter des Verwerflichen, des gesellschaftlich Untragbaren.
Ein Staat funktioniert aber nur als Rechtsstaat, wenn die meisten Bürger Recht und Unrecht unterscheiden können und nur ein verschwindend kleiner Teil sich außerhalb der klar fassbaren und allgemein akzeptierten Gesetze bewegt. Das System ist überfordert, wenn für jeden Bürger ein Polizist und ein Richter abgestellt werden müssen. Dringender als neue Anti-korruptionsRegeln ist die Sanierung des Vorschriften-staates.
Die Beseitigung zahlloser Regeln und die Beschränkung auf tatsächlich wichtige Bestimmungen, deren Einhaltung von allen als selbstverständlich akzeptiert wird, müsste Vorrang haben. Die Durchsetzung dieser deutlich weniger zahlreichen Gesetze wäre auch doppelt leichter: Die Gerichte und die Behörden könnten sich auf daswesentliche konzentrieren.
Vor allem würden die meisten Bürger Verfehlungen unterlassen und bei anderen strikte ablehnen, sodass tatsächlich nur eine verschwindende Minderheit mit dem Gesetz in Konflikt käme.