Sarajevo: Ein leerer Stuhl für jedes Opfer
Vor 20 Jahren. Rund vier Jahre wurde Sarajevo von Serben beschossen. Die Schäden sind behoben, die ethnische Kluft ist geblieben.
SARAJEVO (SN, dpa). 11.541 leere rote Stühle für jeden einzelnen Toten: Die bosnische Hauptstadt Sarajevo hat am Freitag des Beginns ihrer Belagerung durch serbische Truppen vor 20 Jahren gedacht. Mit zahlreichen Ausstellungen wird zudem an die verheerenden Verwüstungen erinnert, die Sarajevo während der Belagerung erleiden musste.
Nach unterschiedlicher Zählweise war diese Belagerung mit dreieinhalb bis knapp vier Jahren die längste in Europa während des 20. Jahrhunderts. Die Serben hatten seit dem 6. April 1992 auf den umliegenden Bergen etwa 120 Granatwerfer und 250 Panzer in Stellung gebracht, die ununterbrochen auf die Stadt im Talkessel feuerten.
Die Kräfte waren denkbar ungleich verteilt: Die muslimischen Verteidiger der Hauptstadt von Bosnien-herzegowina hatten zunächst nur leichte Waffen und waren der serbischen Übermacht schutzlos ausgeliefert. Dennoch konnten sie die einstige Multikulti-metropole vor der Einnahme durch die Serben bewahren.
Die Großmächte, die NATO und die UNO schauten jahrelang fassungslos zu. Sie schickten Blauhelmsoldaten, die hilflos waren. Sie stellten Ultimaten, die verstrichen. Und sie bauten immer neue Drohkulissen auf, die am Ende folgenlos blieben. Im Sommer 1992 wurde eine internationale Luftbrücke organisiert, über die die Eingeschlossenen mit dem Allerwichtigsten versorgt wurden. Sie dauerte länger als die berühmte Vorgängerin, die Berliner Luftbrücke 1948/49.
Doch erst nach dem Beschuss des Marktplatzes von Markale im Februar 1994 mit 68 Toten, für den sich Serben und Muslime bis heute gegenseitig die Schuld geben, knackte die NATO mit Flugzeugen und Tomahawks, die von US- Kriegsschiffen im Mittelmeer starteten, die serbischen Stellungen. Mitte Dezember 1995 wurde in Paris der im amerikanischen Dayton ausgehandelte Friedensvertrag unterzeichnet und auch die Belagerung Sarajevos kurz danach beendet.
Während der Belagerung wurden über 11.500 Menschen getötet und schätzungsweise 50.000 verletzt. Zehntausende Gebäude im Stadtgebiet wurden ebenso zerstört wie die gesamte kommunale Infrastruktur. Diese Verwüstungen sind heute weitgehend behoben. Aber die einst bunt gemischte Bevölkerung aus Muslimen, Serben, Kroaten und Jugoslawen gibt es nicht mehr – die meisten Einwohner Sarajevos sind heute bosnisch-muslimisch, Angehörige anderer Völker haben der Stadt den Rücken gekehrt.
Einst eine Multikulti-stadt
Durch das Dayton-friedensabkommen wurde dem brutalen Krieg zwar ein Ende gesetzt, zu einem funktionierenden Staat ist Bosnien dadurch aber nicht geworden. Nicht zuletzt auch wegen der komplizierten Staatsstruktur. Die zwei Landesteile – die Bosniakisch-kroatische Föderation und die Serbische Republik – sind praktisch weiterhin zwei Staaten im Staat. Die gesamtstaatlichen Institutionen sind schwach. Einer Verfassungsreform widersetzen sich seit Jahren vor allem die bosnischen Serben.
Die von der gebeutelten Bevölkerung erhoffte neue Blüte ihrer Hauptstadt lässt auch nach zwei Jahrzehnten weiter auf sich warten. Die wirtschaftliche und soziale Misere macht allen zu schaffen. Für die zerstörten Fabriken gab es keinen Ersatz, ausländische Investitionen flossen nur spärlich. Die Folge ist eine Rekordarbeitslosigkeit. Gleichzeitig stoßen die Bürger auf Schritt und Tritt auf Korruption: Bei Polizei und Behörden, am Arbeitsplatz, bei Baugenehmigungen, in den Schulen und Universitäten, selbst bei Beerdigungen läuft ohne Schmiergeld kaum etwas.
Auf der anderen Seite ist eine kleine politische und wirtschaftliche Elite entstanden, die oft zu unvorstellbarem Reichtum gekommen ist. Der beruht meist auf undurchsichtigen Geschäften noch während der Kriegszeit.
Die Kämpfer von damals sind weniger gut weggekommen. Hunderte Kriegsveteranen protestieren seit Wochen vor dem bosnischen Parlament in Sarajevo gegen die bittere Armut, in der viele von ihnen leben müssen.