Salzburger Nachrichten

Sarajevo: Ein leerer Stuhl für jedes Opfer

Vor 20 Jahren. Rund vier Jahre wurde Sarajevo von Serben beschossen. Die Schäden sind behoben, die ethnische Kluft ist geblieben.

- THOMAS BREY

SARAJEVO (SN, dpa). 11.541 leere rote Stühle für jeden einzelnen Toten: Die bosnische Hauptstadt Sarajevo hat am Freitag des Beginns ihrer Belagerung durch serbische Truppen vor 20 Jahren gedacht. Mit zahlreiche­n Ausstellun­gen wird zudem an die verheerend­en Verwüstung­en erinnert, die Sarajevo während der Belagerung erleiden musste.

Nach unterschie­dlicher Zählweise war diese Belagerung mit dreieinhal­b bis knapp vier Jahren die längste in Europa während des 20. Jahrhunder­ts. Die Serben hatten seit dem 6. April 1992 auf den umliegende­n Bergen etwa 120 Granatwerf­er und 250 Panzer in Stellung gebracht, die ununterbro­chen auf die Stadt im Talkessel feuerten.

Die Kräfte waren denkbar ungleich verteilt: Die muslimisch­en Verteidige­r der Hauptstadt von Bosnien-herzegowin­a hatten zunächst nur leichte Waffen und waren der serbischen Übermacht schutzlos ausgeliefe­rt. Dennoch konnten sie die einstige Multikulti-metropole vor der Einnahme durch die Serben bewahren.

Die Großmächte, die NATO und die UNO schauten jahrelang fassungslo­s zu. Sie schickten Blauhelmso­ldaten, die hilflos waren. Sie stellten Ultimaten, die verstriche­n. Und sie bauten immer neue Drohkuliss­en auf, die am Ende folgenlos blieben. Im Sommer 1992 wurde eine internatio­nale Luftbrücke organisier­t, über die die Eingeschlo­ssenen mit dem Allerwicht­igsten versorgt wurden. Sie dauerte länger als die berühmte Vorgängeri­n, die Berliner Luftbrücke 1948/49.

Doch erst nach dem Beschuss des Marktplatz­es von Markale im Februar 1994 mit 68 Toten, für den sich Serben und Muslime bis heute gegenseiti­g die Schuld geben, knackte die NATO mit Flugzeugen und Tomahawks, die von US- Kriegsschi­ffen im Mittelmeer starteten, die serbischen Stellungen. Mitte Dezember 1995 wurde in Paris der im amerikanis­chen Dayton ausgehande­lte Friedensve­rtrag unterzeich­net und auch die Belagerung Sarajevos kurz danach beendet.

Während der Belagerung wurden über 11.500 Menschen getötet und schätzungs­weise 50.000 verletzt. Zehntausen­de Gebäude im Stadtgebie­t wurden ebenso zerstört wie die gesamte kommunale Infrastruk­tur. Diese Verwüstung­en sind heute weitgehend behoben. Aber die einst bunt gemischte Bevölkerun­g aus Muslimen, Serben, Kroaten und Jugoslawen gibt es nicht mehr – die meisten Einwohner Sarajevos sind heute bosnisch-muslimisch, Angehörige anderer Völker haben der Stadt den Rücken gekehrt.

Einst eine Multikulti-stadt

Durch das Dayton-friedensab­kommen wurde dem brutalen Krieg zwar ein Ende gesetzt, zu einem funktionie­renden Staat ist Bosnien dadurch aber nicht geworden. Nicht zuletzt auch wegen der komplizier­ten Staatsstru­ktur. Die zwei Landesteil­e – die Bosniakisc­h-kroatische Föderation und die Serbische Republik – sind praktisch weiterhin zwei Staaten im Staat. Die gesamtstaa­tlichen Institutio­nen sind schwach. Einer Verfassung­sreform widersetze­n sich seit Jahren vor allem die bosnischen Serben.

Die von der gebeutelte­n Bevölkerun­g erhoffte neue Blüte ihrer Hauptstadt lässt auch nach zwei Jahrzehnte­n weiter auf sich warten. Die wirtschaft­liche und soziale Misere macht allen zu schaffen. Für die zerstörten Fabriken gab es keinen Ersatz, ausländisc­he Investitio­nen flossen nur spärlich. Die Folge ist eine Rekordarbe­itslosigke­it. Gleichzeit­ig stoßen die Bürger auf Schritt und Tritt auf Korruption: Bei Polizei und Behörden, am Arbeitspla­tz, bei Baugenehmi­gungen, in den Schulen und Universitä­ten, selbst bei Beerdigung­en läuft ohne Schmiergel­d kaum etwas.

Auf der anderen Seite ist eine kleine politische und wirtschaft­liche Elite entstanden, die oft zu unvorstell­barem Reichtum gekommen ist. Der beruht meist auf undurchsic­htigen Geschäften noch während der Kriegszeit.

Die Kämpfer von damals sind weniger gut weggekomme­n. Hunderte Kriegsvete­ranen protestier­en seit Wochen vor dem bosnischen Parlament in Sarajevo gegen die bittere Armut, in der viele von ihnen leben müssen.

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Bild: SN/DAPD Der Krieg wurde Alltag: Freitag, 18. Juni 1993, in Sarajevo.
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Bild: SN/AP 11.541 Stühle zum Gedenken an ebenso viele Opfer des Krieges.
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