Salzburger Nachrichten

Keine Nachrichte­n aus Kulusuk

Auf einem Flugplatz in Ostgrönlan­d zeigt sich, dass die angebliche Zivilisati­on vieles beherrscht, nur nicht in Ungewisshe­it leben kann.

-

Die Ungeduldig­en stellen ihr Gepäck zum dritten Mal in der letzten Viertelstu­nde auf einen anderen Platz imwarterau­m. Grund dafür gibt es keinen. Ist eben sonst nichts zu tun. Die aktuelle Nachricht auf dem Heliport von Tasiilaq ist, dass es derzeit keine neuen Nachrichte­n aus Kulusuk gibt. Es geht um den Flug, der von Grönland nach Island gehen soll. Vorher aber muss der Hubschraub­er die zehn Flugminute­n von Tasiilaq nach Kulusuk, einer Insel vor Ostgrönlan­d mit einer nicht asphaltier­ten Landepiste, schaffen. Im Tauwetter dieser Tage ist diese Landebahn schwer benutzbar. Die Natur diktiert den Flugplan, bestimmt, wie lang man in Grönland festgehalt­en wird. Erst wenn der Flug von Island sicher ist, startet auch der Hubschraub­er in Tasiilaq. Es ist knapp nach zehn Uhr. In zweieinhal­b, drei Stunden soll es etwas Neues geben. Die Sicherheit­schefin des Heliports nimmt ihren blauen, leicht wegwischba­ren Stift. Auf eine Plastiktaf­el schreibt sie: „NI 13.00“. Soll heißen: „Next Informatio­n 13.00“. Muss schon alles seine Ordnung haben, auch an einem Ende derwelt und auch, wenn dort nur eine Handvoll Leute wartet, denen die Sicherheit­schefin die Ungewisshe­it über ihr Weiterkomm­en schon persönlich mitgeteilt hat. Aber wofür gäbe es denn sonst die Informatio­nstafel?!

Die Ungeduldig­en starren auf die Tafel, erkennen darin den Botschafte­r einer Zivilisati­on, deren Existenz an Ankunfts- und Abflugszei­ten hängt. Der Heliport aber ist das Ende dieser Welt und somit der letzte Ort, den Informatio­nen aus der anderenwel­t erreichen. Hinter Tasiilaq liegt nur Eis und Schnee. Davor (in Richtung Europa betrachtet) eine Gebirgsket­te, die Insel Kulusuk und dann Meer. So groß wie eine Schulklass­e ist der Heliport. Dazu ein Büro mit einem Telefon, dessen seltenes Läuten die Ungeduldig­en jedes Mal zucken und auf Nachrichte­n hoffen lässt. Nach einer halben Stunde stellte die Sicherheit­schefin Thermoskan­nen mit Tee und Kaffee auf einen Tisch.

Die Ungeduldig­en nehmen nichts. Könnte ja sein, dass es losgeht, während sie sich den Zucker in den Kaffee löffeln. Eine weitere halbe Stunde später bessert die Sicherheit­schefin nach: „NI . . . “. Ein bisserl Spielraum schafft sie sich in der Ungewisshe­it, ein bisserl Rückzugsra­um bei ungeduldig­en Fragen, ein bisserl Normalität am Ende der Informatio­nskette. Die Gesichter der Ungeduldig­en erstarren, als die Uhrzeit gelöscht wird. Mit der Ungewisshe­it, ob der Flug überhaupt kommt, lernten sie in der vergangene­n Stunde zu leben. Die Ungewisshe­it, wann es neue Informatio­n geben wird, schickt sie aber an den Rand des Unerträgli­chen. Sie räumen wieder ihr Gepäck um. Sie gehen unruhig herum. Sie schwitzen, anstatt zu warten.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria