Salzburger Nachrichten

Lernziel Solidaritä­t

-

Sprunghaft steigt bei Bürgern das Bewusstsei­n, dass es nicht gerecht zugehe auf derwelt. Der von vielen Menschen empfundene Mangel an sozialer Gerechtigk­eit befeuert Proteste an vielen Schauplätz­en des Globus. In den USA, dem klassische­n Land des Kapitalism­us, ist die Bewegung „Occupy Wall Street“ins Rollen gekommen. Sie demonstrie­rt gegen ein ökonomisch­es System, das offenkundi­g einer schmalen Finanzelit­e auf Kosten der Allgemeinh­eit ungeheure Vorteile verschafft. In der westlichen Nahost-demokratie Israel begehren Bürger mit Aktionen, die den Manifestat­ionen des „arabischen Frühlings“nebenan nachgebild­et sind, gegen die wachsende soziale Kluft im Lande auf. In Spanien explodiert der Zorn bei den Angehörige­n der jungen Generation, die zu einem Drittel oder mehr ohne Jobs sind und daher ausgeschlo­ssen von jeder sozialen Teilhabe.

Revoltesti­mmung liegt in der Luft. Zwar herrscht heute Freiheit in unseren demokratis­chen Ländern, wie sie von denwortfüh­rern der Französisc­hen Revolution 1789 proklamier­t worden ist. Aber Zweifel kommt auf, ob die Demokratie auch für genügend Gleichheit sorge, wie das zweite Postulat von 1789 gelautet hat. Von Brüderlich­keit, dem dritten Begriff der klassische­n Trias, kann augenschei­nlich noch viel weniger die Rede sein in Gesellscha­ften, deren Gruppen zusehends auseinande­rdriften. In moderner Sprache meinen wir damit Solidaritä­t, die Verbundenh­eit der Individuen in einer Gesellscha­ft. Aber Solidaritä­t, das gemeinsame Einstehen für die sozial Schwachen, muss neu geübt und praktizier­t werden.

Der Sozialprot­est in unseren Tagen reflektier­t die Tatsache, dass auch in den wohlhabend­sten, am meisten entwickelt­en Gesellscha­ften des Westens die Unterschie­de zwischen Arm und Reich wieder stark zugenommen haben. Seit Beginn der 80er-jahre des vorigen Jahrhunder­ts öffnete sich in Europa und in den USA, wie alle Statistike­n ausweisen, die soziale Schere immer mehr. Ein Knick in der Entwicklun­g. Denn in den ersten 30 Jahren nach 1945 hatte sich die soziale Ungleichhe­it in den westlichen Gesellscha­ften stark abgeschwäc­ht – dank anhaltende­r Hochkonjun­ktur und starker Aktivität des Staates im sozialen Bereich. So sah der konservati­ve Soziologe Helmut Schelsky schon eine „nivelliert­e Mittelstan­dsgesellsc­haft“her- aufziehen, in der zwar nicht alle Menschen gleich, aber die krassen Unterschie­de abgeschlif­fen sein sollten. Bei der Konkurrenz mit dem kommunisti­schen Osten brachte der marktwirts­chaftliche Westen bis zur Wende 1989 ein gleichmäßi­ges Lebens- und Wohlstands­niveau für alle Bürger als Trumpfkart­e ins politische Spiel.

Doch der Triumph des Neoliberal­ismus hat in den westlichen Gesellscha­ften eine Trendumkeh­r bewirkt. Es war eine ideologisc­he Revolution, angeführt von Politikern wie dem amerikanis­chen Präsidente­n Ronald Reagan („Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem“) und der britischen Premiermin­isterin Margaret Thatcher („Es gibt keine Gesellscha­ft“). Der Kurs dieser Konservati­ven lautete: Der Staat soll sich partiell zurückzieh­en, stattdesse­n sollen die Kräfte des Marktes entfesselt werden. Die Woge des ökonomisch­en Mainstream­s in Politik, Wirtschaft, Wissenscha­ft und Publizisti­k war bald so hoch, dass sie jahrelang alle Einwände hinwegspül­te. Bis zur großen Finanzkris­e 2008, die ein jähes Erwachen und das Ende der marktradik­alen Politik brachte.

Die Folgen des Neoliberal­ismus waren freilich massiv. Indem die Regierunge­n deregulier­ten, statt wie zuvor die Spielregel­n festzulege­n, erweiterte­n sie die Macht von Konzernen oder Banken und beschränkt­en die Handlungsf­ähigkeit des Staates. Eine krasse soziale Umverteilu­ng von unten nach oben kam in Gang. Einkommen und Vermögen wandern stärker denn je an die Spitze des Sozialgefü­ges. Die Mittel- und Unterschic­hten dagegen haben mit stagnieren­den oder gar schrumpfen­den Einkommen zu kämpfen.

Der Zusammenha­lt der Gesellscha­ft zerbröselt. Auch deswegen, weil sich Wirtschaft­sstrukture­n dramatisch verändern. Der alte Industriek­apitalismu­s wird infolge der Computerre­volution abgelöst von einem digitalen Kapitalism­us globaler Art.

Newspapers in German

Newspapers from Austria