Schlafen bis der Hahn kräht
Nein, das wollte Petrus sich nicht sagen lassen. Dass genau er seinen Meister drei Mal werde verraten haben, noch ehe der Hahn einmal werde gekräht haben. „Und wenn alle an dir Anstoß nehmen – ich niemals!“, brüstet sich der vorlaute Fischersmann noch beim letzten Abendmahl, bei dem Jesus seine Truppe der zwölf noch einmal versammelt hat. Am nächsten Tag, am Karfreitag, hört Petrus dann den Hahn krähen. Und ihm wird bewusst, was er drei Mal gesagt hat: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“Zuletzt hatte er es sogar im Ton der Entrüstung gesagt: „Was unterstellt ihr mir dauernd?! Ich habe mit diesem Jesus nichts zu tun.“
„Und er ging hinaus und weinte bitterlich“, heißt es weiter in der Bibel. Das ist der Punkt, an dem sich Petrus existenziell von Judas unterscheidet: dass er nicht den Strick nimmt, sondern dass er in sich geht, dass er sein unsolidarisches Verhalten bereut und einen Neuanfang sucht.
Die Erzählung über Petrus ist die eine, die am dramatischen Wendepunkt des Lebens Jesu aufzeigt, wie rasch Freundschaft, Solidarität, ja Liebe an ihre Grenzen geraten können, wenn das Leben des anderen auf des Messers Schneide steht, ja wenn dessen Schicksal geradezu zur Bedrohung des eigenen Lebens werden könnte.
Die andere Grenzerfahrung ist harmloser, aber gerade deshalb so anrührend. Da zieht sich dieser Jesus im vollen Bewusstsein, dass die politischen und religiösen Autoritäten diesen Aufwiegler endlich aus dem Weg räumen wollen, an einen einsamen Winkel auf dem Ölberg zurück. Den größeren Haufen der Jünger lässt er schon bald zurück. Sie sollen sich setzen und auf ihn warten.
Nur drei, Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus, lässt Jesus in seiner Nähe sein. Nur diesen drei Topleuten aus seiner Apostelschar traut er überhaupt zu, dass sie in dieser dunkelsten Nacht seines Lebens bei ihm sind. Von den anderen wäre es ohnehin zu viel verlangt. Aber diese drei, seine engsten drei, die würden mit ihm durchhalten, hofft Jesus: „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir!“
Dann geht er einen Steinwurf weiter und fleht zum Himmel, ob es nicht einen anderen Weg geben könnte als seinen sicheren Tod. Und die drei schlafen weg. „Denn die Augen waren ihnen zugefallen.“Drei Mal sucht Jesus sie auf. Beim ersten Mal sagt er noch: „Konntet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?“Als er sie zum zweiten Mal schlafend antrifft, sagt er gar nichts mehr. Die Müdigkeit, die Erschöpfung war stärker als die Solidarität.
Vorschnell den moralischen Zeigefinger gegen Petrus & Co. erheben sollte man nicht. Das tut übrigens auch Jesu in keinem Moment dieser beiden Erzählungen von den schlafenden Jüngern im Garten Getsemani und vom Verrat des Petrus. Es ist nur allzu menschlich, dass die Solidarität an Grenzen stößt, dass wir im Mitleid überfordert sind – in einem Mitleid, das der Betroffene gar nicht als solches einfordert. Es ginge nur um das Mitsein, und das Nahesein, um das Ausharren, um die Wachheit der Augen und des Herzens.
Javier Marías, der spanische Schriftsteller, setzt sich in seinem neuen Roman „Die sterblich Verliebten“in seiner gewohnt schonungslosen und hintergründigen Art mit der Frage auseinander, wie viel uns das Schicksal anderer Menschen, auch der Nächsten, bedeuten kann. Und wie sehr es der conditio humana offenbar entspricht, dass dieses Dasein, dieses Nahesein tendenziell immer den kürzeren Atem hat. Dass wir das Schicksal eines Mitmenschen kaum einmal so an uns heranlassen können – und vor allem nicht so ausharrend lang –, wie es für den Betreffenden nötig wäre.
Javier Marías beschreibt das sehr plas- tisch am Beispiel das Rettungsautos, das mit Blaulicht und Martinshorn im Stadtgetriebe vorbeirauscht. „Ich höre ein Martinshorn, eine Polizeisirene oder die Feuerwehr und denke, wer wohl jetzt gerade stirbt oder verbrennt oder erstickt (. . .) Fast nie fragen wir uns, welches konkrete Unglück dahintersteckt, es ist ein vertrautes Geräusch in der Stadt, ein Geräusch ohne wirkliche Bedeutung, eine bloße Belästigung, nichtssagend, abstrakt (. . .) wir warten, dass sie sich entfernen und mit ihrem Kranken, Verunglückten, Verletzten Halbtoten aus dem Gehörfeld verschwinden, damit sie uns vom Leib bleiben, nicht die Nerven strapazieren.“
Es ist zutiefst menschlich, dass jeder sich einen Schutzpanzer anlegt. Wie wäre das auch sonst auszuhalten, dieses tägliche Gemetzel, das in den Schlagzeilen auf uns hereinstürzt. Die Nachrichten von Menschen in Syrien, die in Krankenhäusern gefoltert und erschossen werden, anstatt geheilt. Die Nachricht von den Kindern, die eben noch fröhlich auf der Heimfahrt waren und in der nächsten Minute im Autobuswrack im Tunnel zu Tode kommen.
Dann doch lieber eine Runde schlafen wie die drei Jünger auf dem Ölberg. Nicht, weil ihnen dieser Jesus kein Anliegen gewesen wäre, sondern im Gegenteil: Weil sie es in dieser Stunde nicht hätten aushalten können, das Wissen, diese Gewissheit, dass ihr Meister, ihr Idol, der, auf den sie ihre ganze Zukunftshoffnung gesetzt hatten, dass dieser auf sein Ende zugeht. Da schützt nur der Panzer des Schlafes.
Zumindest so lang, bis der Hahn kräht. Bis einer am Grabe des Freundes sich denkt: Was bin ich ihm nicht alles schuldig geblieben?! Bis es zu spät ist für das Dasein, das Mitleiden – aber nicht für die Tränen. Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. Er konnte damit seinen Verrat, sein Zurückweichen nicht wiedergutmachen. Aber er konnte weiterleben. Trotzdem.