Die Ukraine und das Fußballfieber
Wie der Fußball auch die stärksten demokratischen Überzeugungen inswanken bringen kann. 1:0 für das Regime in Kiew.
Zuerst hatte AngelaMerkel ja erklärt, sie werde der Fußball-Europameisterschaft fernbleiben, weil sich die Regierung des durchaus zweifelhaften Präsidenten Viktor Janukowitsch nicht an demokratische Spielregeln halte. Das war, bevor die deutsche Fußballmannschaft Erfolge feierte. Jetzt besteht die Möglichkeit, dass ebendiese deutsche Mannschaft ins Finale kommt – und der Vorsatz FrauMerkels scheint plötzlich nicht mehr ganz so unverrückbar.
Die ukrainische Führung wiederum hat beschlossen, einen neuerlichen Prozess gegen die Oppositionsikone Julia Timoschenko, dieses Mal wegen angeblicher Steuerhinterziehung, erst nach dem Ende der Europameisterschaft beginnen zu lassen. Dann also, wenn sämtliche Fußballfans, Fußballer und Funktionäre und natürlich auch alle Berichterstatter das Land schon längst wieder verlassen haben.
Ein Glücksfall, den sich die derzeitige Führung in Kiew natürlich nicht entgehen lässt. Überhaupt hat die Ukraine, oder besser, Präsident Janukowitsch und seine Regierung, den eher zögerlichen Protest aus Europa besser überstanden, als sie das eigentlich verdient haben. Womit wieder einmal klar und deutlich zutage tritt, dass Europas Politik eben doch nicht viel mit Demokratieentwicklung zu tun hat. Und das nicht nur, weil der Protest gegen den Umgang der ukrainischen Behörden mit Julia Timoschenko viel zu spät und halbherzig kam, sondern auch, weil er sich eben nur auf Frau Timoschenko beschränkte und beschränkt und nicht die insgesamt wenig erfreuliche Lage in der Ukraine mit einschließt.
Der Umgang Europas mit der Ukraine ist also ein Lehrbeispiel dafür, was Europa alles offenbar nicht ist. Zum Beispiel das, was es aber mehr denn je und dringender denn je sein sollte – ein Friedensprojekt nämlich.
Im Umgang mit Ländern wie der Ukraine, deren demokratische Entwicklung zweifelhaft erscheint, zeigt die Europäische Union deutlich, dass ihre Prioritäten eben nicht in der Schaffung eines friedlichen, demokratischen, humanen Europa liegen, sondern fast ausschließlich im wirtschaftlichen Zusammenarbeiten.
Und Fußball ist nun einmal auch ein gewichtiges ökonomisches Element.
Also sieht man über alle Widrigkeiten im ukrainischen Alltag hinweg – und fährt trotz aller lautstarken Versicherungen eben vielleicht doch zu Janukowitsch nach Kiew, wenn die eigene Mannschaft ins Finale kommen sollte. Susanne Scholl hat von 1991 bis 2009 für den ORF aus Moskau berichtet und lebt jetzt als freie Journalistin und Schriftstellerin in Wien. www.salzburg.com/scholl