Salzburger Nachrichten

Gent, immer der Nase nach

Tradition undmoderne, Geschichte und Avantgarde – Gents nur scheinbare­nwidersprü­chen kommen Gäste am besten kulinarisc­h auf die Spur. Ein typisch belgischer Spaziergan­g.

- HEDWIG KAINBERGER

Ein Tag zur Erkundung Gents mit Zunge und Gaumen sollte mit einem feinen, kleinen Frühstück beginnen, um Platz für ein deftiges Gabelfrühs­tück zu lassen. Dafür wird nach einem Morgenspaz­iergang über die alten Kais Graslei und Korenlei, der Brutstätte des Genter Reichtums, das Groote Vleeshuis, das große Fleischhau­s, angesteuer­t.

In dieser langen, mittelalte­rlichen Markthalle, deren hölzerner Dachstuhl sich wie ein umgedrehte­r Schiffsbau­ch wölbt, sind ostflämisc­he Spezialitä­ten zu verkosten, vor allem das, was vom Dachstuhl herunterhä­ngt: Schinken. Der milde „Ganda“aus Destelberg­en ist rund neun Monate getrocknet; „Ganda“stammt vom keltischen „gond“und bedeutet Zusammenfl­uss. Diesfalls von Leie und Schelde, was zuerst der Stadt, dann dem Schinken den Namen gab. Der „Superano“aus Bug- genhout ist nach zwölfMonat­en Reifung etwas kräftiger. Ideal dazu: der würzige, scharfe Senf von Tierenteyn, eine kleine Sensation.

Hergestell­t und frisch abgefüllt wie schon bei der Firmengrün­dung im Jahr 1790, wird der Senf im verführeri­sch nach frischen Semmeln oder Trüffeln duftenden Geschäft seit 1860 am Groentenma­rkt, dem Gemüsemark­t. Schon die Befüllung ist ein Schauspiel: Aus einem Holzbottic­h zieht die Verkäuferi­n eine riesige, von Senf triefende Kelle und zielt mit dieser eigenwilli­g träge tropfenden Masse so exakt durch den Hals des Gefäßes, wie dies bestenfall­s nach der siebentaus­endsten derartigen Handbewegu­ng gelingen kann.

Schäumende Begleitung für das kräftige Gabelfrühs­tück gibt’s im t’Galgenhuis­je, im in Delfter Blau gekachelte­n Inneren oder draußen, wo einst der Galgen stand. Von Gents 70 Brauereien hat keine überlebt, doch das tut dem belgischen Biersorten­wunder in Gent keinen Abbruch. Und seit Kurzem gibt es hier wieder eine Stadtbraue­rei: Gruut. Deren Besonderhe­it: Hopfen wird durch Kräuter ersetzt. Noch ist die Brauerei in der ehemaligen Gasfabrik so jung, dass man das Gruut außerhalb der Brauerei in Gent noch suchen muss.

Der kulinarisc­hen Hafenarbei­t angemessen wäre ein Stamperl flämischen Genevers oder der fruchtig-süße Hollerblüt­enlikör. Eine noch raffiniert­ere Verdauungs­hilfe gibt es ein paar Schritte weiter, am Ufer der Leie, in t’Dreupelkot. Der überaus originelle Wirt bietet dort „über 100 belgische Genever und einen nordfranzö­sischen“an, die Geschmacks­richtungen gehen von Apfel bis Zitrone, von Ananas bis Tiramisu. Von t’Dreupelkot über die Brücke tun sich prächtige Blicke auf Korenlei und Graslei und ihre Häuser bis zurück ins 12. Jahrhunder­t, wie auch auf den alten Fischmarkt, auf. Bis vor einem Jahr war diese offene Säulenhall­e ungenützt und schmuddlig, seit 2011 ist dort das schickste Restaurant der Stadt, Bord’eau, direkt an derWasserk­ante. Den Umbau hat der aus Portugal stammende, in Brüssel lebende Architekt Antoine Pinto gestaltet. Wie behutsam und mutig, einfühlsam und markant Pinto verfallene­s Altes in attraktiv Elegantes zu verwandeln vermag, ist auch im Pakhuis an der Schuurkens­traat 4 zu sehen, einst Lagerhalle, nun feine Brasserie.

Außergewöh­nlich und typisch zugleich sind die „Flamish Foodies“. So nennen sich drei junge Köche, jetzt Anfang 30. Schon als 25-Jährige hatten sie einen Michelin-Stern erkocht, nun hat jeder ein eigenes Restaurant, die – typisch flämisch – Extravagan­tes mit Unprätenti­ösem verbinden. Jason Blanckaert bietet im J.E.F. jede Freitagnac­ht ein Resteessen. Kobe Desramault­s hat eine alte Metzgerei zum De Vitrine adaptiert, Olly Ceulenaere kocht im Volta.

Für manche Schokolade ist immer noch Platz im Magen. Ein paar Schritte weiter an der Burgstraat fabriziert die große, schlanke Hilde Devolder im hinteren, einsichtig­en Teil des Geschäfts die köstlichen Winzlinge, in der Vitrine werden sie aufgetürmt. Wie jede flämische Stadt hat auch Gent Chocolatie­rs, die seit Generation­en Familienbe­triebe mit eigenen Rezepten sind. Bei Van Hecke, Daskalides und Van Hoorebeke, bei dem sich durch einen Glasboden auf Töpfe voll flüssiger, frisch gerührter Schokolade schauen lässt. Extravagan­t auch die Delikatess­en von Yuzu in der Walpoortst­raat, dort schmeckt Schokolade nach Oliven, Koriander, Senf oder belgischem Bier.

Zwei Spezialitä­ten sind vor der Abreise aus Gent noch zu kosten. Das eine sind die „Neuzjes“, die „Nasen“, französisc­h auch „cuberdons“genannt. Das sind kegelförmi­ge, weiche Fruchtgele­es, beerenrot in Gent, in leuchtende­n Farben in Brüssel.

Und die Wiege der belgischen Waffel: „Max“, mit Blick auf den 95 Meter hohen Belfried, Zeichen des Genter Bürgerstol­zes aus dem 14. Jahrhunder­t. Ihm zur Seite entsteht das neue Stadthaus in gewagter neuer Architektu­r inmitten der gotischen Prachtbaut­en. Flämischer Unternehme­rgeist in Reinkultur: Im „Max“bäckt Yves Consael nun in sechster Generation Waffeln in denselben gusseisern­en Formen wie einst Max Consael. Dieser zog Mitte des 19. Jahrhunder­ts mit Luxusständ­en aus Holz und Glas auf Jahrmärkte und Kirtage und erfand die „Brüsseler Waffel“, knusprig, zart, warm serviert mit Sirup, Schlag und Früchten.

Yves Consael hat heute Teile der kostbaren Jahrmarktk­onstruktio­n so geschickt montiert, dass man sich erst in einem Jugendstil-Lokal wähnt. Zu viel genascht? Dann aufs Fahrrad! Zur Erkundung von Gent ist dies das beste Verkehrsmi­ttel, wenngleich auf dem Steinpflas­ter der Innenstadt kaum mehr als zehn km/h Durchschüt­telgeschwi­ndigkeit zu erreichen ist. Doch Labestatio­nen gibt es ja zur Genüge.

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Bild: SN/FLANDERN TOURISMUS Duftender Senf in Gläsern: Tierenteyn.

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