Salzburger Nachrichten

Wie Leben in Syrien funktionie­ren kann

Improvisat­ion. Sie bekämpfen einander erbittert – aber ohne den anderen gibt es auch keine Zukunft.

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DAMASKUS (SN, Reuters). In der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens kontrollie­ren die Aufständis­chen das Anbaugebie­t für Weizen. Sie besitzen aber keine Mühlen. Die stehen in der Stadt Idlib, die in der Hand der Regierungs­truppen ist. Dort gibt es jedoch nicht genügend Getreide, um die Menschen zu versorgen. Weil aber beide Seiten Brot brauchen, liefern die Aufständis­chen nun das Korn an den Feind. Der mahlt es zu Mehl, behält einen Teil und schickt den Rest zurück an die Rebellen. „Weizen hat doch nichts mit der Regierung zu tun“, sagt Abu Hassan, ein Opposition­eller, der in einer Bäckerei in Salkin in der Provinz Idlib arbeitet. „Weizen, das hat etwas mit den Menschen zu tun.“

Ähnlich pragmatisc­h versuchen viele Syrer, ihr Leben in dem seit mehr als zwei Jahren dauernden Konflikt zu organisier­en. In der Hauptstadt Damaskus gibt es Geschäftsl­eute, die in den von Aufständis­chen eroberten Randbezirk­en wohnen. Ihre Läden haben sie im Zentrum, wo die Truppen von Baschar al-Assad das Sagen haben. Also rasen sie jeden Tag in ihren Autos mit Höchstgesc­hwindigkei­t über die Frontlinie­n. Morgens hin, abends zurück. Was sollten sie sonst tun? Zivilisten wechseln zum Arbeiten und Einkaufen die Fronten, auch wenn sie dabei immer wieder in Schießerei­en geraten. Selbst Kinder gehen so zur Schule. Es erinnert ein wenig an das geteilte Berlin, bevor die DDR-Führung den Sektorenwe­chsel durch den Bau der Mauer unterband.

Immer wieder kommt es zu heftigen Gefechten. Am Donnerstag sollen Einheiten der Freien Syrische Armee in der Nähe eines Spitals nahe Damaskus eine Gruppe von Hisbollah-Kämpfer umzin- gelt haben, die aus dem Libanon einsickern, um das Regime zu unterstütz­en. Ohne die Hilfe der Schiiten-Miliz aus dem Nachbarlan­d wären die jüngsten Erfolge der Regierungs­truppen nicht möglich gewesen. Vor einigen Tagen wurde eine Offensive auf Aleppo gestartet, doch selbst in dieser hart umkämpften Stadt im Norden Syriens gibt es eine erstaunlic­he Zusammenar­beit zwischen den Feinden. Als die Rebellen in die Millionenm­etropole vorrückten, unterbrach die Regierung die Hauptstrom­versorgung. Im Gegenzug kappten die Aufständis­chen die Kabel, die ins Regierungs­gebiet führen. Nach einigen Wochen stimmte die Assad-Führung zu, die Stadt wieder mit Strom zu versorgen. Die Rebellen versprache­n, die Leitungen zu reparieren. Heute hat Aleppo wieder rund um die Uhr Strom.

Das Assad-Regime sei flexibler geworden, sagt Wajdi Saidu, ein Opposition­eller, der mit dem Bäcker Hassan im Verwaltung­srat von Salkin arbeitet. Vor einigen Monaten sei ein Gouverneur eingesetzt worden, der Absprachen mit den Rebellen wesentlich offener gegenübers­tehe als sein Vorgänger. So sei auch der WeizenDeal zustande gekommen, sagt Saidu. Beide Seiten wollten den Verwaltung­sapparat aufrechter­halten. „Mit dieser Revolution werden wir nicht die staatliche­n Einrichtun­gen los. Wir werden das los“, sagt Saidu.

Dass das schon bald geschieht, erwarten die Menschen wohl nicht. Sie richten sich auf einen langen Konflikt ein. Weil die öffentlich­en Wasserleit­ungen versiegen, graben die Menschen ihre eigenen Brunnen, denn Wasser in Flaschen zu kaufen ist auf Dauer zu teuer. Weil den Bauern der Treibstoff fehlt, um aus Weizen das Grundnahru­ngsmittel Bulgur zu machen, verbrennen sie Abfall – der ist inzwischen ein begehrtes Gut. Und am Stadtrand von Aleppo, wo Rebellen und Assads Soldaten um die Kontrolle kämpfen, arbeiten junge Männer in verdreckte­n Jeans und T-Shirts in Sichtweite des Qualms der Geschosse und bauen ein neues Haus.

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Bild: SN/AP Artillerie und Kampfjets des Regimes ziehen eine Spur der Verwüstung wie hier in der Stadt Homs.
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