Europa muss seine Risse wieder kitten
Der Goldpreis fällt derzeit in einem atemberaubenden Tempo. Ist also Europas Schulden- und Währungskrise schon überwunden, weil die Menschen ihr Geld aus scheinbar sicheren Häfen wieder zurückholen?
Ganz so einfach ist die Rechnung natürlich nicht. Die USA wollen ihre lockere Geldpolitik mit der Notenpresse einbremsen. Das senkt Inflationsängste. Aber natürlich hängt der Preisverfall beim Gold auch mit dem Euro zusammen, weil vorerst niemand mehr fürchten muss, die Währungsunion könnte jeden Tag auseinanderbrechen. Die Pessimisten werden jetzt sagen, dennoch wurde zu viel nur notdürftig geflickt, ohne ein stabiles Fundament geschaffen zu haben. Die Optimisten kontern, Rom wurde auch nicht an einem Tag aufgebaut, aber Schritt für Schritt geht es in die richtige Richtung.
Tatsache ist: Im vierten Jahr des Eurokrisenmanagements gehen viele Gräben in Europa, auch längst zugeschüttete, wieder auf. Das gefährdet, was lang die tragenden Motive der Erweiterung der EU, des Starts der Währungsunion und damit einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen den Staaten waren: wachsenden Wohlstand und Stabilisierung junger Demokratien.
Genau diese Ziele haben sich vorübergehend in ihr Gegenteil verkehrt: Südeuropa erlebt eine Rekordarbeitslosigkeit. Überall erstarken nationalistische und extreme politische Kräfte, die die Krise geschickt für ihre Ziele nutzen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd geht in Europa immer stärker auf. Regierungen werden hinweggefegt, Staaten werden politisch völlig unberechenbar. Deutschland ist für viele in Europa durch konsequentes, unnachgiebiges Krisenmanagement zum Feindbild geworden.
Die Briten wiederum setzen sich zunehmend von der Union ab und sind nicht bereit, auch nur einen Finger für ein stärkeres Miteinander zu rühren. Dieses Virus steckt andere Länder an. Schweden, die Niederländer und Tsche- chien blockieren wie das Vereinigte Königreich inzwischen jeden Reformprozess.
Symptomatisch ist, dass Kroatien auf dem jüngsten EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag nicht mit großen Feiern und viel Trara als 28. Mitglied in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Nein, die Kroaten müssen vielmehr auf leisen Sohlen durch die Hintertür hereinkommen. Statt sich darüber zu freuen, dass mit der EU-Erweiterung auf dem Balkan ein blutiger Kriegsschauplatz vor der Haustür befriedet wird, dominiert die Debatte über den nächsten Sanierungsfall, der auf die Union zukommen könnte.
Sind die Verteilungskämpfe durch die Krise in Europa wirklich so hart geworden, dass man nur noch über Rettungsschirme reden kann und woher neue Milliarden dafür kommen? Oder haben sich nur unsere Perspektiven und Herzen so verengt, dass wir nicht mehr anders können?!
1,2 Billionen Euro konnten für die Rettung der Banken aufgebracht werden. Und jetzt war es eine Mammutaufgabe, sechs Mil- liarden Euro für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa im EU-Haushalt lockerzumachen. Auch wenn solche Zahlenvergleiche hinken: Da sind doch offensichtlich Maßstäbe dafür, was richtig und wichtig ist, aus dem Lot geraten.
Wer sich in fundamentale Kritik an der EU verbeißt, darf nicht vergessen: Die Krise der Eurozone wurde vom weltweiten Zusammenbruch außer Rand und Band geratener Finanzmärkte ausgelöst, denen man alle Fesseln abgenommen hatte. Die Lösung entscheidender Probleme liegt genau dort und muss auch dort weiter angepackt werden: dass Banken nicht mehr risikolos im Casino spielen können, weil sie ohnehin von Staaten aufgefangen werden, die dabei pleitegehen.
Die Europäer müssen zum alten Grundkonsens zurückfinden, dass sie nur gemeinsam die vielfach globalen Herausforderungen meistern können. Dazu gehört auch, die Ärmel aufzukrempeln und sich daranzumachen, aufgebrochene Gräben wieder zu überbrücken und Risse zu kitten. Dazu gehört, dass die EU ihre Bürger nicht mit Kleinkram wie Debatten über offenes Olivenöl in Restaurants belästigt und alles, was lokal besser entschieden werden kann, auch dort entscheiden lässt. Und dazu gehört, die Erweiterung auf dem Balkan nicht schleifen zu lassen und den Dialog mit der Türkei nicht abzubrechen.
Europa ist noch lang nicht fertig gebaut. Wo bleiben Politiker und Intellektuelle, die sich jetzt nicht wegducken, die Zentrifugalkräfte einfangen und mit guten Gründen überzeugen können, an dieses Europa zu glauben?