Die Dopinglüge im Radsport
Farce. Warum sollte man nicht die Freigabe von Dopingmitteln im Profiradsport ins Auge fassen?
RICHARD OBERNDORFER Eine Szene bei der Tour de France 2008 blieb bei den Radsportfans besonders im Gedächtnis haften: Österreichs damaliges Radidol Bernhard Kohl kann nach einer Bergetappe nur unterstützt von zwei Helfern vom Rad absteigen. Am Tag darauf ist derWiener bei der nächsten Bergetappe einer der bestimmenden Akteure. Am Ende dieses Jahres wurde Kohl nach Anhörung der Nationalen Anti-Doping-Behörde (NADA) für zwei Jahre gesperrt. Der gefallene Radheld hatte zum unerlaubten EPO und nicht zum Spaghettiteller gegriffen. Eine Karriere war nach der Einnahme von unerlaubten Mitteln zu Ende. Seitdem ist viel passiert. Viele Dopinggeständnisse – auch um Superstar Lance Armstrong – haben den Radsport in seinen Grundfesten erschüttert. Gerade rund um die Tour de France, die heute, Samstag, zum 100. Mal gestartet wird (siehe auch Seite 24), ranken sich schon lang nicht mehr nur Gerüchte um Dopingsünder. Der geständige Doper Armstrong brachte es am Freitag in einem Interview mit der französischen Tageszeitung „LeMonde“auf den Punkt: „Ein Tour-Sieg ohne Doping ist unmöglich.“Wie wahr.
Im Grunde sind die Geständnisse der letzten Jahre nichts Neues: Erschütternd ist nur, mit welcher Scheinheiligkeit der Radsport in den letzten Jahren weiterbetrieben wurde. Glaubt denn irgendwer, dass beispielsweise der 153. und Letzte der vorjährigen Tour de France, der Franzose Jimmy Engoulvent, der nach 20 Etappen und 3494 Kilometern nur einen Rückstand von nicht einmal vier Stunden aufwies, ohne zusätzliche und unerlaubte Mittel die „Tour der Leiden“überhaupt überstehen hätte können? Hand aufs Herz: Wer hätte schon Lance Armstrong Doping zugetraut? Vor der 100. Tour meinte der siebenfache Sieger: „Ein Tour-Sieg ohne Doping ist unmöglich.“
Wohl kaum. Es ist das System im Profiradsport, das zu überdenken sein wird. Solange es immer ein Streben nach noch mehr Bergetappen (2013 wird der qualvolle Anstieg zum L’Alpe d’Huez sogar bei der 18. Etappe zwei Mal gefahren), noch längeren Abschnitten, noch intensiveren Belastungen gibt, wird der „Tag danach“– und um den geht es ja bei Doping – unüberwindbar sein. Sportmediziner bestätigen, dass das Radsportdopingmittel Nummer eins, EPO (Erythropoetin), das auch für die Nachbehandlung bei Krebs entwickelt wurde, seit Jahren in falsche Kanäle gerät. So sollen drei Viertel der von der Pharmaindustrie weltweit produzierten EPO-Mittel nicht in die Spitäler gelangen.
Wieso geben wir im Profiradsport nicht das Doping frei? Was würde passieren? Würde sich überhaupt etwas ändern? Jedes Profiteam in derWeltklasse wird ohnehin von mehreren Sportärzten betreut. Der Dopingmissbrauch würde eingedämmt werden, dunkle Geschäfte fragwürdiger Sportärzte wie des Spaniers Eufemiano Fuentes auch. Das Argument, damit würde man der Jugend vorgaukeln, dass illegale Drogen erlaubt seien, geht teilweise ins Leere. Denn die Jugend weiß heute in Zeiten von frühem Führerschein und neuem Wahlrecht sehr wohl mit Verantwortung umzugehen. Auch jene Jugend, die zum Hochleistungssport drängt, verfällt nicht automatisch dem Dopingwahn. Ein Irrglaube.
Den Hunderttausenden Radfans, die alljährlich die Etappen der Tour de France säumen, sind die Dopinglügen rund um den Radsport egal. Sie wollen ihre Helden hautnah erleben, sie anfeuern. Auch für viele TV-Stationen sind die stundenlangen Übertragungen das Highlight des Jahres. Der Verlust der Glaubwürdigkeit hat zwar stutzig gemacht, die Faszination Radsport bleibt für sie aber unangetastet.
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