Apathie statt Revolte
Marienthal ist ein Teil von Gramatneusiedl, ein alter Industriestandort, Insel der Arbeiter in einer bäuerlich geprägten Gegend. Im kleinenMuseum Marienthal blickt man in die Gesichter von Paul Lazarsfeld, Marie Lahoda, Hans Zeisel und Lotte Schenk-Danziger. Es sind junge Gesichter, Lahoda war erst 25, als im Krisenwinter 1931/32 ein 17-köpfiges Team der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle mit den Erhebungen in Marienthal begann.
Das finstere Gespenst der Arbeitslosigkeit hielt damals auch Wien und Umgebung fest im Griff, und als in Marienthal die Textilfabrik stillgelegt wurde, die Hauptarbeitgeber und Wirtschaftsmotor zugleich war, gab es für die Beschäftigten keine Fluchtmöglichkeit – ein ganzer Ort war plötzlich ohne Arbeitsplatz, drei von vier Familien waren ohne Arbeit und Brot. Im benachbarten Ebergassing durften Arbeiterhände sich noch regen, dort wehte über den Fabrikschloten noch die Fahne aus Rauch und Ruß, das Wahrzeichen der Arbeit, wie Ludwig Wagner im Wiener „Kleinen Blatt“schrieb.
„In Ebergassing ist’s Werktag, in Marienthal seit sieben Monaten Feiertag“, hieß es in seiner Reportage mit dem Titel „Alle Räder, alle Spindeln stehen still“. Wagner spürte, was den Menschen so zusetzte, und er formulierte einfühlsam:
„Darum ist es an diesemWochentagmorgen in der Arbeitersiedlung so still. Nur der Auslaufbrunnen fließt und plätschert ins Leere. Und mit ihm verrinnen die Stunden, Tage undWochen in der Arbeitslosenkolonie. Leer und ereignislos.“
Wagner recherchierte gewissenhaft. Mit 110 Schilling musste eine fünfköpfige Familie in Marienthal monatlich das Auslangen finden, das schlug sich auch in sinkenden Erlösen der Nahversorger nieder. „Den größten Rummel gibt es . . ., wenn ein Schwein geschlachtet wird. Dann reißen sich die Frauen um ein Häferl Blut. Auch die Blunzensuppen (dasWasser, in dem die Blunzen gekocht werden), ist heute ein gesuchter Artikel.“Im Monat um tausend Kilogramm Fleisch weniger verkaufe der Fleischhauer im Vergleich zum Vorjahr, notierte der Berichterstatter.
Möglicherweise war es eine dieser Sozialreportagen über das Elend in der Arbeitslosenkolonie von Marienthal, die bei der Ortswahl den Ausschlag gaben. Die führenden Köpfe der jungen Sozialwissenschafter um Lazarsfeld standen der Sozialdemokratie nahe, Wagner war ein Freund von Lazarsfeld. Als der Austromarxist Otto Bauer, stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, vom Ansinnen hörte, nach der Einführung des Achtstundentags das Freizeitverhalten von Arbeitern zu untersuchen, soll er aus allen Wolken gefallen sein. „Schande! Geht’s und studiert’s die Arbeitslosigkeit!“, an diese Worte Bauers erinnerte sich Hans Zeisel kurz vor seinem Tod 1992.
Europaweit, nicht nur in den intellektuellen linken Kreisen Wiens, wurde in diesen Jahren darüber gestritten, welche Auswirkungen die allgemeineWirtschaftskrise auf die Menschen hat – ob Arbeitslosigkeit als Massenschicksal eher eine Radikalisie- rung oder eine größere Apathie und Hoffnungslosigkeit der Betroffenen zur Folge hat. Realpolitisch gedacht: Ob Arbeitslosigkeit in Menschen eine größere Offenheit gegenüber revolutionären Parolen auslöst oder eher das Gegenteil bewirkt.
Am Ende stand die Erkenntnis, dass Resignation, nicht Revolte die Folge anhaltender Arbeitslosigkeit ist. Der Grazer Soziologe und Marienthal-Experte Reinhard Müller hält die Schlussfolgerung von der „müden Gemeinschaft“für politisch besonders brisant: „Die bei einem erheblichen Teil der Arbeitslosen festgestellte Resignation, Aktivitätsunfähigkeit und Überforderung durch erzwungenes Nichtstun sowie die im Zuge der Untersuchung festgestellte Entpolitisierung großer Teile der Arbeitslosen liefen der im sozialistischen Lager damals populären Idee des Arbeitslosen als eines revolutionären Subjekts zuwider.“
Die Studie räumte nicht nur mit dieser Vorstellung linker Theoretiker auf. „Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei“, heißt es im „Zeit“-Abschnitt eingangs – am Ende aber steht die bittere Erkenntnis: „Bei näherem Zusehen erweist sich diese Freiheit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden.“
Das Nichtstun beherrscht den Tag, wenigstens für die Männer gilt das. Aufstehen. Mittagessen. Schlafengehen.
Die Forscher baten die Arbeitslosen, einen Zeitverwendungsbogen auszufüllen. In einem trug ein 33-jähriger für die Zeit zwischen zehn und elf Uhr ein: „Einstweilen wird es Mittag.“Ein Satz, der häufig zitiert wird. Aber es gibt weitere Eintragungen, die ebenfalls die Leere, das Zerfal- len der Zeitstruktur verdeutlichen: „14 bis 15 Uhr: Bin ich hinuntergegangen. 15 bis 16 Uhr: Zum Treer (Name des Kaufmannes) gegangen. 16 bis 17 Uhr: Beim Baumfällen im Park zugeschaut, schade um den Park. 17 bis 18 Uhr: nach Hause gegangen.“
Die Forscher beobachteten die Marienthaler von einem Fenster aus und maßen mit der Uhr in der Hand die Zeit. So lernten sie, dass Frauen zwar verdienstlos, aber nicht arbeitslos geworden sind: „Sie haben den Haushalt zu führen, der ihren Tag ausfüllt.“Durchschnittlich eineinhalb Mal so schnell wie Männer bewegten sich die Frauen auf der Straße, sie blieben auch nur halb so oft zu längeren Gesprächen stehen. Während Frauen ihreWege verrichteten, um einzukaufen oder die Kinder zur Schule zu bringen, taten Männer dies nur, um die Zeit totzuschlagen.
„Doppelt verläuft die Zeit in Marienthal“, heißt es in der Studie. Nicht einmal mehr das Allernötigste taten die Männer, Aufgaben, für die sie nun genügend Zeit gehabt hätten, blieben dennoch unverrichtet. Erstaunt registrieren die jungen Forscher, dass nicht mehr, sondern weniger in der Zeitung und in Büchern gelesen wird.
Dass Apathie und bittere Resignation, die andauernde Arbeitslosigkeit mit sich bringt, aus Menschen nicht Revolutionäre macht, das ist eine Erkenntnis, die man Marienthal vor 80 Jahren verdankt. Am Beispiel Griechenlands, wo in der Krise zwar alle radikalen politischen Kräfte erstarken, vor allem aber die extrem rechten, lässt sich erahnen, dass uns Marienthal noch etwas anderes zu sagen hat:
Der überwiegende Teil der ehemals sozialdemokratischen Arbeiter lief zum Nationalsozialismus über, da bestand wenig Unterschied zu den Christlichsozialen. Aus der müden Gesellschaft wurde rasch eine braune. Davon waren übrigens auch die Forscher betroffen: Bis auf zwei Mitarbeiter aus Lazarsfelds Team mussten alle vor den Nazis ins Ausland flüchten.