Immer kampfbereit
Ein Mann und eine Frau, eine Liebes-, eine Hassgeschichte. Warum aber gehen die beiden auf derart zerstörerischeweise miteinander um? Das lässt sich aus der Psychologie der beiden allein nicht erklären. Der Osmane und das Roma-mädchen bilden ein Gegensatz
Ein Roman ist ein unbändigesWesen. Er leistet mehr, als sein Urheber ihm zutraut. Die türkische Autorin Gaye Boralioglu hat sich eine eindrucksvolle Geschichte ausgedacht. Sie erzählt von zwei Menschen, die der Zufall zusammenführt und die fortan voneinander nicht mehr loskommen. Was sich zwischen einem Mann und einer sehr jungen Frau ereignet, greift tief ein in die Gefühlswelt, die, einmal in Aufruhr versetzt, nicht mehr zur Ruhe kommt. Alles, was möglich ist an Leidenschaft und Abneigung, die beiden Personen spielen es durch. Sie verschlingen sich ineinander, sie vernichten sich gegenseitig, ein derartiger Überschwang an Gefühl ist nur möglich, wenn es zwischen zwei Menschen lichterloh brennt. Sie sind ratlos, weil sie nicht wissen, wie ihnen geschieht. Ist das schlimm oder großartig? Das lässt sich im Fall Güldane und Halil nicht entscheiden. Gut, sie scheitern fürchterlich, aber gäbe es dieses Scheitern nicht, würden sie sich einfinden in ein durchschnittliches Allerweltsleben. Kein Hahn würde nach ihnen krähen, keine Autorin würde sich nach ihnen umsehen. Sie würden leben wie alle anderen auch. Die beiden aber brauchen den Ausbruch, er ist ihre Bestimmung.
Boralioglu schildert uns den Ausnahmezustand, das Extrem, das in die Katastrophe führt. Es geht ihr um das, was sich im Innersten von Menschen ereignet, sodass sie auf alle Sicherheiten pfeifen und sich auf das Risiko des selbst verschuldeten Untergangs einlassen. Ein Seelendrama als Liebeshorror, so etwas schwebt ihr vor. Ihr geht es um die Innenwelt, wo sich die intensivste Ausprägung eines Individuums zeigt. Im verborgensten Ich, möglichst dort, wo niemand anderer hineinsieht, wo einer ganz und gar er selbst sein darf, schaut sich diese Autorin um und fördert zwei starke, ausgeprägte Individuen zutage. Alle anderen verblassen angesichts der Wucht dieser schieren, prallen Existenz.
Aber ein Ich entsteht nicht aus sich allein heraus. Es reagiert auf das, was um es herum geschieht. Das Ich ist ein Reaktionswunder, das Außeneinflüsse aufsaugt, um mit diesen nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Deshalb sieht ein Liebespaar, ein Kampfpaar, in Istanbul anders aus als in Wien oder Bogotá. Gefühle entstehen hier wie dort, aber wie eine Gesellschaft mit ihnen umgeht und wie Individuen mit diesen Vorgaben verfahren, wird überall nach eigenen Maßgaben entschieden. So geht also Boralioglu ansWerk, um den seltsamen Fall zweier Menschen, die nicht zusammenpassen und vielleicht gerade deshalb aufeinander so starkeWirkung zeigen, zu erzählen – und wie nebenbei entsteht das Porträt einer Gesellschaft, die die beiden erst hervorbringt.
Sie ist ein Biest, er ein Macho. Beide leben in ihrer Welt, das könnte so weiterge- hen bis ans Ende ihrer Tage. Weit gebracht haben es beide nicht, aber sie kommen aus unterschiedlichen Welten. Sie stammt aus der Roma-Siedlung, eine Zigeunerin hat keinen guten Stand unter Türken. Die Roma gehören nicht dazu. Sie leben abseits, wo sonst niemand wohnen will. Sie werden geduldet, nicht gebraucht, schon gar nicht geliebt. Aber es umgibt sie der wilde Duft der Freiheit, das macht sie attraktiv.
Er, der starke Osmane, arbeitet als Chauffeur und hält sich etwas auf seine Unnahbarkeit zugute. Seinen Umgang sucht er sich selbst, wer sich ihm nähert, ohne dass er dazu ermuntert wird, beißt auf Granit. Stolz treten sie beide auf. Sie wirken auf die Leute ihrer Umgebung und wissen das. Zwei Alphamenschen treffen aufeinander, und damit kracht es von Anfang an. Sie verkauft Blumen auf der Straße, er spielt sich mit ihr. Das mag bei anderen gutgehen, sie rastet aus. Dabei gefällt er ihr, aber ihre Würde bleibt stärker, als dass sie sich ihm je unterlegen zeigen würde.
Es ist undenkbar, dass dieser Roman von einer deutschsprachigen Autorin hätte verfasst werden können. Die Charaktere ticken unberechenbar. Der Boden der Zivilisation ist viel zu dünn, als dass er die beiden zähmen könnte. Es brodelt im Herzen der beiden, sie stehen unter Hochspannung, jederzeit ist etwas Rohes, Brutales, Ungeschlachtes zu erwarten. Und das passiert auch. Liebeshelden aus der deutschen Literatur quälen sich, Werthers Fußstapfen folgend, selbst. Bei Boralioglu attackieren sie den anderen, um nur ja nicht als Verlierer dazustehen. Wer verlassen wird, hat verspielt. Es ist Gewalt im Spiel, der andere soll verletzt werden, er muss büßen, weil er sich nicht so verhält, wie es von ihm erwartet wird. Dagegen schauen Beziehungsdramen in der deutschen Literatur lahm aus.
Überhaupt, die Gesellschaft. Die Einzelnen sind stets kampfbereit. Sie rotten sich zu Kollektiven zusammen, und dann wird es gefährlich. Zwei allein kommen kaum jemals vor. Sie werden belauert von den anderen, der Spielraum ist begrenzt. Stets wird der Einzelne darauf aufmerksam gemacht, dass er mitzumachen hat. Wer seiner eigenen Sache nachgeht, hat ausgespielt. Die Mehrheit bildet die dumpfe Masse, bereit zuzuschlagen, wenn sie sich unrecht behandelt sieht.
Die Autorin wechselt die Perspektiven. Einmal bleibt sie nahe am Erleben der Frau, dann wird sie zur Mittlerin des Mannes. So macht sie die Spannung deutlich, unter der die beiden stehen. Zwischen Anziehung und Abstoßung zerrissen werden zwei große Gefühlsmenschen zu Opfern einer Kultur, in der das Verschweigen der Konflikte opportun ist.
Gaye Boralioglu: Der hinkende Rhythmus.
Roman. Aus dem Türk. von von Recai Hallac. Brosch., 251 S., Binooki, Berlin 2013.