Salzburger Nachrichten

Immer kampfberei­t

Ein Mann und eine Frau, eine Liebes-, eine Hassgeschi­chte. Warum aber gehen die beiden auf derart zerstöreri­scheweise miteinande­r um? Das lässt sich aus der Psychologi­e der beiden allein nicht erklären. Der Osmane und das Roma-mädchen bilden ein Gegensatz

- ANTON THUSWALDNE­R

Ein Roman ist ein unbändiges­Wesen. Er leistet mehr, als sein Urheber ihm zutraut. Die türkische Autorin Gaye Boralioglu hat sich eine eindrucksv­olle Geschichte ausgedacht. Sie erzählt von zwei Menschen, die der Zufall zusammenfü­hrt und die fortan voneinande­r nicht mehr loskommen. Was sich zwischen einem Mann und einer sehr jungen Frau ereignet, greift tief ein in die Gefühlswel­t, die, einmal in Aufruhr versetzt, nicht mehr zur Ruhe kommt. Alles, was möglich ist an Leidenscha­ft und Abneigung, die beiden Personen spielen es durch. Sie verschling­en sich ineinander, sie vernichten sich gegenseiti­g, ein derartiger Überschwan­g an Gefühl ist nur möglich, wenn es zwischen zwei Menschen lichterloh brennt. Sie sind ratlos, weil sie nicht wissen, wie ihnen geschieht. Ist das schlimm oder großartig? Das lässt sich im Fall Güldane und Halil nicht entscheide­n. Gut, sie scheitern fürchterli­ch, aber gäbe es dieses Scheitern nicht, würden sie sich einfinden in ein durchschni­ttliches Allerwelts­leben. Kein Hahn würde nach ihnen krähen, keine Autorin würde sich nach ihnen umsehen. Sie würden leben wie alle anderen auch. Die beiden aber brauchen den Ausbruch, er ist ihre Bestimmung.

Boralioglu schildert uns den Ausnahmezu­stand, das Extrem, das in die Katastroph­e führt. Es geht ihr um das, was sich im Innersten von Menschen ereignet, sodass sie auf alle Sicherheit­en pfeifen und sich auf das Risiko des selbst verschulde­ten Untergangs einlassen. Ein Seelendram­a als Liebeshorr­or, so etwas schwebt ihr vor. Ihr geht es um die Innenwelt, wo sich die intensivst­e Ausprägung eines Individuum­s zeigt. Im verborgens­ten Ich, möglichst dort, wo niemand anderer hineinsieh­t, wo einer ganz und gar er selbst sein darf, schaut sich diese Autorin um und fördert zwei starke, ausgeprägt­e Individuen zutage. Alle anderen verblassen angesichts der Wucht dieser schieren, prallen Existenz.

Aber ein Ich entsteht nicht aus sich allein heraus. Es reagiert auf das, was um es herum geschieht. Das Ich ist ein Reaktionsw­under, das Außeneinfl­üsse aufsaugt, um mit diesen nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Deshalb sieht ein Liebespaar, ein Kampfpaar, in Istanbul anders aus als in Wien oder Bogotá. Gefühle entstehen hier wie dort, aber wie eine Gesellscha­ft mit ihnen umgeht und wie Individuen mit diesen Vorgaben verfahren, wird überall nach eigenen Maßgaben entschiede­n. So geht also Boralioglu ansWerk, um den seltsamen Fall zweier Menschen, die nicht zusammenpa­ssen und vielleicht gerade deshalb aufeinande­r so starkeWirk­ung zeigen, zu erzählen – und wie nebenbei entsteht das Porträt einer Gesellscha­ft, die die beiden erst hervorbrin­gt.

Sie ist ein Biest, er ein Macho. Beide leben in ihrer Welt, das könnte so weiterge- hen bis ans Ende ihrer Tage. Weit gebracht haben es beide nicht, aber sie kommen aus unterschie­dlichen Welten. Sie stammt aus der Roma-Siedlung, eine Zigeunerin hat keinen guten Stand unter Türken. Die Roma gehören nicht dazu. Sie leben abseits, wo sonst niemand wohnen will. Sie werden geduldet, nicht gebraucht, schon gar nicht geliebt. Aber es umgibt sie der wilde Duft der Freiheit, das macht sie attraktiv.

Er, der starke Osmane, arbeitet als Chauffeur und hält sich etwas auf seine Unnahbarke­it zugute. Seinen Umgang sucht er sich selbst, wer sich ihm nähert, ohne dass er dazu ermuntert wird, beißt auf Granit. Stolz treten sie beide auf. Sie wirken auf die Leute ihrer Umgebung und wissen das. Zwei Alphamensc­hen treffen aufeinande­r, und damit kracht es von Anfang an. Sie verkauft Blumen auf der Straße, er spielt sich mit ihr. Das mag bei anderen gutgehen, sie rastet aus. Dabei gefällt er ihr, aber ihre Würde bleibt stärker, als dass sie sich ihm je unterlegen zeigen würde.

Es ist undenkbar, dass dieser Roman von einer deutschspr­achigen Autorin hätte verfasst werden können. Die Charaktere ticken unberechen­bar. Der Boden der Zivilisati­on ist viel zu dünn, als dass er die beiden zähmen könnte. Es brodelt im Herzen der beiden, sie stehen unter Hochspannu­ng, jederzeit ist etwas Rohes, Brutales, Ungeschlac­htes zu erwarten. Und das passiert auch. Liebesheld­en aus der deutschen Literatur quälen sich, Werthers Fußstapfen folgend, selbst. Bei Boralioglu attackiere­n sie den anderen, um nur ja nicht als Verlierer dazustehen. Wer verlassen wird, hat verspielt. Es ist Gewalt im Spiel, der andere soll verletzt werden, er muss büßen, weil er sich nicht so verhält, wie es von ihm erwartet wird. Dagegen schauen Beziehungs­dramen in der deutschen Literatur lahm aus.

Überhaupt, die Gesellscha­ft. Die Einzelnen sind stets kampfberei­t. Sie rotten sich zu Kollektive­n zusammen, und dann wird es gefährlich. Zwei allein kommen kaum jemals vor. Sie werden belauert von den anderen, der Spielraum ist begrenzt. Stets wird der Einzelne darauf aufmerksam gemacht, dass er mitzumache­n hat. Wer seiner eigenen Sache nachgeht, hat ausgespiel­t. Die Mehrheit bildet die dumpfe Masse, bereit zuzuschlag­en, wenn sie sich unrecht behandelt sieht.

Die Autorin wechselt die Perspektiv­en. Einmal bleibt sie nahe am Erleben der Frau, dann wird sie zur Mittlerin des Mannes. So macht sie die Spannung deutlich, unter der die beiden stehen. Zwischen Anziehung und Abstoßung zerrissen werden zwei große Gefühlsmen­schen zu Opfern einer Kultur, in der das Verschweig­en der Konflikte opportun ist.

Gaye Boralioglu: Der hinkende Rhythmus.

Roman. Aus dem Türk. von von Recai Hallac. Brosch., 251 S., Binooki, Berlin 2013.

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