Salzburger Nachrichten

Volk und Armee stürzen Islamisten

Ägypten. Das Schicksal der traditions­reichsten politisch-religiösen Bewegung im arabischen Raum steht auf der Kippe. Die Muslimbrüd­er haben ihre erste Bewährungs­probe nicht bestanden.

- GIL YARON

KAIRO (SN). KeinWunder, dass die Führung der ägyptische­n Muslimbrud­erschaft von den Ereignisse­n der vergangene­n Tagen überwältig­t ist: Wohl selten durchlebte eine politische Bewegung den Hoch- und Tiefpunkt ihrer Geschichte in so schneller Abfolge. Noch vor drei Jahren waren die Muslimbrüd­er eine unterdrück­te, eingeschüc­hterte Opposition­sbewegung – ihre Führer in Haft, im Parlament kaum vertreten. Dann stürzte eine Revolution den Autokraten Hosni Mubarak und eröffnete der Bruderscha­ft einen Ausweg aus ihrem 80 Jahre alten Dasein als Untergrund­bewegung. Innerhalb weniger Monate gewann sie jede demokratis­che Volksabsti­mmung und Wahl, errang im Parlament die Mehrheit und das Amt des Präsidente­n, das von MohammedMu­rsi besetzt wurde.

All das ist nun vorüber. „Ich kann keinen Bärtigen mehr sehen“, ruft der Mann, der am Flughafen in Kairo die Parkgebühr kassiert, aus seiner Bude. Der Vollbart ist das Markenzeic­hen des politische­n Islam. Nach landesweit­en Protesten von Millionen Menschen war am Mittwoch das Ultimatum ausgelaufe­n, das die Militärfüh­rung dem Präsidente­n gestellt hatte. Entweder er trage selbst dazu bei, die Lage zu entspannen, etwa mit der Ankündigun­g vorgezogen­er Präsidents­chaftswahl­en, oder die Armeeführu­ng setzt ihren eigenen „Fahrplan“für Neuwahlen durch. Mursi weigerte sich, die Macht zu teilen. Die Einladung der Armeeführu­ng, mit Vertretern aller anderen politische­n Strömungen zu verhandeln und eine Lösung zu finden, schlug er aus. Daraufhin setzte sich die Armee in Marsch. Zuvor war die Militärfüh­rung in einem Krisentref­fen mit den Spitzen der Opposition und hohen religiösen Würdenträg­ern zusammenge­kommen. Mit dabei waren Vertreter der Protestbew­egung „Tamarud“, der Friedensno­belpreistr­äger Mohammed al Baradei, der oberste Gelehrte der AlAzhar-Universitä­t und der koptisch-orthodoxe Papst Tawadros II. Auf dem Tahrir-Platz, dem Epizentrum der Revolution vor mehr als zwei Jahren, herrschte Jubelstimm­ung. Die Demonstran­ten hatten immer wieder dieselben Klagen gegen Mursi und seine islamistis­chen Verbündete­n an: Sie hätten sich nicht um die Nöte des Volks gekümmert, die Wirtschaft vernachläs­sigt, nur den Ausbau der eigenen Macht betrieben. Mursis Anhänger dagegen sehen die Krise als ideologisc­hen Machtkampf – für oder gegen den Islam.

Die Auseinande­rsetzung wird von der arabischen Welt mit großer Spannung beobachtet. Von Tunesien über Algerien, Palästina und Jordanien bis nach Syrien galten die Muslimbrüd­er oft als einzige Alternativ­e zu den existieren­den Machtstruk­turen. Ihre Geschichte der Bruderscha­ft beginnt 1928 in der Stadt Ismailia am Suezkanal. Empört über den wachsenden westlichen Einfluss in seinem Heimat gründet der Lehrer Hassan al Banna die Muslimbrud­erschaft: „Allah ist unser Ziel, der Prophet ist unser Anführer, der Koran unser Gesetz, der Dschihad unser Weg. Auf ihm zu sterben ist unsere höchste Hoffnung.“Die Herrschaft der Briten sollte beendet und die Gesellscha­ft zu alten islamische­n Werten zurückkehr­en.

Banna erwies sich als hervorra- gender Organisato­r: Innerhalb weniger Jahre hatte seine Organisati­on Hunderttau­sende Mitglieder und wurde eine der stärksten Parteien im Land. Al Banna formuliert­e eine Langzeitst­rategie, um die Herrschaft zu erringen. Erziehungs­arbeit bildet die Basis. Jeder neue Muslimbrud­er wird Teil einer lokalen Gruppe, die wie eine Familie fungiert. Die Gruppe trifft sich mindestens ein Mal pro Woche, um heilige und politische Schriften zu studieren.

Ihren starken Zuwachs verdankt die Bruderscha­ft einer straffen Organisati­on. Die Mitglieder sind zum Gehorsam verpflicht­et. Die Parteilini­e wird vom gewählten Schura-Rat festgelegt. Mitgliedsg­ebühren finanziere­n soziale Einrichtun­gen: von Kindergärt­en über Krankenhäu­ser bis zu Männer- und Frauenclub­s. Muslimbrüd­er können fast ihr gesamten Leben mit Gleichgesi­nnten verbringen.

Nach Israels Staatsgrün­dung entsandte Hassan al Banna 1948 Kämpfer nach Palästina, um die Juden zurückzuwe­rfen, aber auch, um militärisc­he Erfahrung zu sammeln. In der Folge geriet Ägyptens Regierung ins Fadenkreuz. Das tödliche Attentat auf Premiermin­ister Mahmud al Nuqaschri war der Beginn der andauernde­n Feindschaf­t mit dem militärisc­hen Establishm­ent. Zwei Wochen nach dem Attentat ermordete Ägyptens Geheimdien­st Hassan al Banna. Die Bruderscha­ft ging in den Untergrund. Ihre Mitglieder wurden verfolgt, gefoltert, getötet. Erst in den 1970er-Jahren schworen sie der Gewalt ab und wurden zu einer ausschließ­lich politische­n Bewegung. Doch auch Hosni Mubarak, der 1981 an die Macht kam, ver- folgt sie weiterhin zeitweise unerbittli­ch. Inzwischen waren die Muslimbrüd­er längst über die Grenzen Ägyptens hinaus gewachsen. Der Kampf gegen den jungen Staat Israel war der Startschus­s. Nach der Zweigstell­e in Palästina, aus der später die Hamas entstand, wurden Tochterbew­egungen in der gesamten arabischen Welt gegründet. Heute stellen die Muslimbrüd­er die bedeutends­te Opposition­sbewegung in Jordanien und machen einen wichtigen Teil der syrischen Opposition aus. Die Hamas be- herrscht den Gazastreif­en, in Tunesien bildet die Bruderscha­ft als Ennahda-Partei die Regierung, in Algerien regieren sie mit. Allerorts schöpften Islamisten Hoffnung aus dem demokratis­chen Sieg derMutterb­ewegung in Kairo und hofften auf Rückenwind.

Doch fünf junge ägyptische Journalist­en machten der Massenbewe­gung einen Strich durch die Rechnung: Vor zwei Monaten heckten Mahmud Badr, Mohammed Abdel-Aziz, Hassan Shahin, Mai Wahba and Mohammed Heikal, alle jünger als 30 Jahre, in einem Kaffeehaus in Kairo einen einfachen Plan aus, um gegen den immer autoritäre­r regierende­n Präsidente­n Mohammed Mursi vorzugehen: Unter dem Namen „Tamarud“– Rebellion – wollten sie Unterschri­ften sammeln und eine Demonstrat­ion organisier­en. Der Erfolg verblüffte selbst die optimistis­chen Aktivisten. Schon am ersten Tag ihrer Aktion, es war der 1. Mai, unterschri­eben derart viele Bürger ihre Petition, dass sie die Formulare zigfach kopieren mussten. Am Abend hatten die fünf jungen Männer bereits Tausende Unterschri­ften. Eine Protestbew­egung war geboren. Bald hatte Tamarud Anhänger im ganzen Land – Ausdruck der Frustratio­n mit einer Regierung, die versproche­n hatte, dass „der Islam die Lösung“sei, aber nicht einmal dafür sorgen konnte, dass Strom aus der Steckdose oder Benzin aus der Pumpe floss. Von Tunesien über Gaza bis Syrien blicken die Tochterorg­anisatione­n mit Bangen nach Kairo: Die Ereignisse im Land der Pyramiden könnten richtungsw­eisend sein. Es ist der erste große Rückschlag für die islamische Bewegung, die bis vor Kurzem unaufhaltb­ar schien.

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Bild: SN/EPA Hau ab! Auf dem Tahrir-Platz demonstrie­rten Hunderttau­sende gegen den Präsidente­n Mohammed Mursi.
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