Der Sozialstaat braucht einen gemeinsamen Feind
Zusammenhalt. Als Geldverschlinger verschrien, erweist sich der Sozialstaat in Zeiten der Krise als wichtiger Standortfaktor.
WIEN (SN-hwk). Der Sozialstaat ist in Krisenzeiten nicht nur besonders wichtig – zur Versorgung der steigenden Zahl der Arbeitslosen. Er ist auch besonders gefordert, weil krisengeschüttelte Länder – auf Druck der internationalen Geldgeber – zugleich ihre Ausgaben drastisch zurückfahren müssen. Dieses Dilemma beschäftigte am Mittwoch Experten bei den Wirtschaftspolitischen Gesprächen, veranstaltet von der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) und dem Institut für Höhere Studien (IHS).
Für IHS-Chef Christian Keuschnigg steht der Sozialstaat an sich außer Frage, es gehe aber um dessen Ausmaß. Idealerweise sollte der Sozialstaat mit Präventionsmaßnahmen dafür sorgen, dass seine Leistungen gar nicht in Anspruch genommen werden müssten. So sollten Bildungsangebote helfen, die Arbeitslosigkeit möglichst gering zu halten.
Als Garant für Stabilität, Berechenbarkeit und den sozialen Frieden sei der Sozialstaat durchaus auch ein wesentlicher Standortfaktor, waren sich WKÖ-Generalsekretärin Anna Maria Hochhauser und Finanzstaatssekretär Schieder einig.
A. de Geus, Bertelsmann-Stiftung
Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, der frühere Wirtschafts- und Sozialminister Aart de Geus, empfiehlt das niederländische „Poldermodell“. Der Name bezieht sich auf die in den Niederlanden seit dem Mittelalter praktizierte Methode, mithilfe von Deichen und Dämmen neues Land – sogenannte Polder – aus dem Meer zu gewinnen. Diese unter dem Meeresspiegel gelegenen Poldergebiete wurden mithilfe von Windmühlen entwässert. Dieses Modell ist für Niederländer bis heute identitätsstiftend. „Gott schuf Himmel und Erde, die Holländer haben die Niederlande hinzugefügt“, lautet ein beliebtes Sprichwort. Voraussetzung für diese seit dem Mittelalter praktizierte Form der Landgewinnung war eine verlässliche Zusammenarbeit aller sozialen Gruppen der Niederlande. Seit sich 1982 im Ab- kommen von Wassenaar Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf kürzere Arbeitszeiten bei gleichzeitigem Verzicht auf Lohnforderungen einigten, wird auch die niederländische Spielart der Sozialpartnerschaft als „Poldermodell“bezeichnet.
Mit seiner Hilfe konnte das niederländische Pensionssystem entlastet werden. Dort sind heute 50 Prozent der Menschen zwischen 60 und 64 Jahren berufstätig, in Österreich sind es 21 Prozent. Bei der Arbeitsvermittlung steht „Fordern und Fördern“im Vordergrund, zuständig dafür sind vor allem die Kommunen.
Charakteristisch für dieses Modell ist, dass alle Beteiligten an einem Tisch sitzen, jeder in die Entscheidungsfindung einbezogen ist, keiner gezwungen wird und jeder den Tisch verlassen kann, wenn er sich überfordert fühlt. Ganz wichtig ist ein gemeinsamer Feind. „Man muss den Teufel an die Wand malen“, sagt de Geus. Gerade auf Österreich lasse sich dieses Modell gut übertragen. Voraussetzung sei eine gemeinsame Bedrohung – sei es durch dasMeer oder durch den drohenden Zusammenbruch des Pensionssystems oder der Gesundheitsversorgung.