Die Unglücksinsel
Schreiben sei „gesünder als Drogen. Wenn ich nicht regelmäßig schreiben würde, wäre ich längst tot“, sagte einmal T. Coraghessan Boyle, der in jungen Jahren gefährdet lebte. Heute gehört er zu den unermüdlichen Autoren der amerikanischen Literatur. Gerade
In seinem Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“schüttete der amerikanische Autor T. C. Boyle sein Herz aus. Er liebt die Natur, muss aber Tag für Tag beobachten, dass die Menschen mit ihr unverantwortlich umgehen. Er sieht nur Eigeninteressen am Werk, auch wenn uns diese auf längere Sicht gesehen die Luft zum Atmen nehmen. Auf den der kalifornischen Küste bei Santa Barbara vorgelagerten Inseln lässt er ein Drama zwischen Tierschützern und Umweltaktivisten ablaufen, das sich am Ende zu einem Kampf auf Leben und Tod steigert. Die einen planen, die eingeschleppten Ratten, die sich rasend schnell vermehren, als Fremdkörper dieses Ökosystems auszurotten, die anderen gehen in die Offensive, um ebendiese ungeliebten Ratten zu schützen. Zwei Gruppen, denen es um die Natur geht, stehen unversöhnlich einander gegenüber. Wer von beiden recht hat, wagt Boyle nicht zu entscheiden. Er ist der Autor brisanter Geschichten, die Schlussfolgerungen überlässt er dem Leser.
Der Roman bildet ein abgeschlossenes Ganzes, fertig mit dem Stoff ist Boyle deshalb noch lang nicht. Im Zuge seiner Recherchen hatte er Material gesammelt, das darauf drängte, die Vorgeschichte nachzutragen. Wie kommen Menschen dazu, sich auf eine gottverlassene Insel zurückzuziehen, auf der das Leben beschwerlich ist, die Zustände unwirtlich und Außenkontakte kaum möglich sind?
Am Neujahrstag 1888 kommt Will Waters mit seiner Frau Marantha auf der Insel an in der Hoffnung, dort ein ihrer Gesundheit zuträgliches Klima vorzufinden. Der erste Eindruck gleicht einer einzigen Katastrophe. Das Haus ist eine Bruchbude, der Regen findet ungehindert Zugang direkt in die Betten. Alle Anstrengungen, das Anwesen annehmbar zu gestalten, scheitern. „San Miguel war das nördlichste Glied in der Kette der Santa-Barbara-Inseln, der erste Ort, auf den die Nordoststürme stießen.“
Marantha resigniert inmitten dieser abweisenden Welt. Sie ist eine jener typischen T.-C.-Boyle-Figuren, die den Frieden mit ihrer Umwelt nicht finden. Sie hadert mit ihrem Schicksal, erweist sich als unwirsch gegenüber ihren Nächsten. Und innerlich arbeiten jene existenziellen Fragen, die bei Boyle stets den Kern seiner Figuren ausmachen. Ob Weltverbesserer oder Einsamkeitsfanatiker, sie alle bleiben Verstoßene in einer Zeit, die mit ihnen nichts anzufangen weiß. Solche Gedanken ziehen durch Maranthas Gehirn: „Die Menschen machten Pläne, investierten Geld, absolvierten eine Ausbildung, zogen Kinder groß – und wofür? Für ein Leben nach dem Tod? Zur Ehre Gottes? Um ein weiteres Glied in der Kette des Lebens zu schmieden?“Man sieht, diese Frau kommt nicht zurande mit sich und den anderen, sie ist eine zum Scheitern verurteilte Leidensikone, eine Pessimistin ohne Aussicht auf Linderung.
Boyle, der sich ganz gern bis zur Satire und Groteske verzerrte Episoden ausdenkt, verzichtet diesmal auf spektakuläre Einbrüche des Unheimlichen oder Aberwitzigen in eine Durchschnittswelt. Als wahrhaft zermürbend erweist sich der schleichend träge Alltag, in dem nichts weiter geht, die Tristesse ins Unendliche verlängert wird, der Husten ständiger Begleiter ist und die Menschen unangenehm auffallen als lästige Beigabe zu einem ohnehin unerträglichen Rumpf-Dasein.
Jedes Kapitel leistet einen neuen Beitrag zur Verlängerung des seelischen Siechtums. So sieht die Tragödie eines Lebens aus, das nicht zu sich selbst kommen darf, weil die schnöde Außenwelt den Zugang zum Ich blockiert.
Drei Frauengenerationen stehen für eine jeweils neue Sicht auf die Insel. Bei Marantha bemerken wir die zunehmende Verdüsterung. Alles wird schlimmer als noch ein paar Tage zuvor, das Leben eine Rutschbahn ins Unheil. Ihre Tochter Edith verkörpert die rebellische Version eines Frauenlebens. Sie entscheidet selbst über ihr Schicksal. Sie macht das, was ihr vernünftig erscheint und ihrem Wesen entspricht. Wenn ihr das Inselleben Unbehagen bereitet, macht sie sich aus dem Staub. Das sagt sich so einfach, dem geht aber ein zermürbender Befreiungskampf gegen einen besitzergreifenden Vater voraus.
Im Jahr 1930 versucht ein anderes Paar, auf der Insel Fuß zu fassen. Nach den ernüchternden Erfahrungen der Vorgänger ein aussichtsloses Unterfangen. Mit „San Miguel“legt Boyle einen Anti-Robinson vor. Robinson kommt auf eine Insel, fängt von vorn an und befördert in der Wildnis den Triumph der Zivilisation. Allen, die auf San Miguel einen Neuanfang unternehmen, bleibt ein grausamer Untergang beschieden. Die Kultur hat keine Chance gegen die Härte der Natur. Bedrückend die Szene, wie Marantha inmitten der Kälte, des Schimmels, des Schmutzes, des Ungeziefers sich zurückzieht mit der Lektüre eines englischen Klassikers. Natürlich kommt sie nicht weit damit, die Verfeinerung der Sitten und Gedanken kann hier nicht gelingen.
Boyle nimmt sich ausgiebig Zeit, auf Einzelheiten einzugehen, allein um die Atmosphäre richtig wirken zu lassen. Es kommt einer negativen Kontemplation gleich, wenn er ruhig und besonnen ausmalt, unter welch trostlosen Bedingungen sich die Leute zu strecken haben. Er erzählt von Pionieren des Scheiterns, die nicht kapieren wollen, dass sie keine Chance haben. Das kann Boyle großartig.
Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Geb., 447 S. Hanser, München 2013.
T. Coraghessan Boyle: San Miguel.