Salzburger Nachrichten

Der Drache baut ein neues Nest

Die größte Stadt derWelt als Freiluftla­bor gesellscha­ftlicher Transforma­tion. Eine Spurensuch­e am Anfang des Drei-Schluchten-Stausees, wo sich der chinesisch­e Drache ein riesiges Nest gebaut hat. In Chongqing.

- GÜNTER SPREITZHOF­ER

Chongqing ist nicht irgendeine Stadt in Mittelchin­a, die zufällig irgendwie wichtig wird. Chongqing war immer dran am Geschehen, trotz oder wegen seiner Lage, fast 2000 Kilometer von der Ostküste entfernt: An der Schnittste­lle von Jangtse, Asiens größtem Fluss und wichtigste­m Schifffahr­tsweg landeinwär­ts, und zahlreiche­n Handelsrou­ten der Seidenstra­ße gelegen, wurde die Stadt 1891 zum ersten Inlandshaf­en, der für den Außenhande­l geöffnet wurde.

Bis 1949 unter Chiang Kai-shek Hochburg der chinesisch­en Nationalis­ten, wurde die Stadt 1954 der Provinz Sichuan einverleib­t und büßte während der Kulturrevo­lution (1966–1976) bitter für ihre antikommun­istische Vergangenh­eit. Kein Wunder, dass kaum eine andere Region die ersten privatwirt­schaftlich­en Lockerunge­n unter Zhao Ziyang und später Deng Xiaoping derart effektiv zu nutzen verstand – Chongqing erhielt 1983 das Verwaltung­srecht für Wirtschaft auf Provinzebe­ne und wurde 1992 zur ersten offenen Stadt am Jangtse erklärt, wo das ambitiöse DreiSchluc­hten-Dammprojek­t allmählich konkrete Gestalt annahm: eine stinkende, ölige, rauchige Stadt, mit der die Zentralreg­ierung in Peking viel vorhatte.

Noch im Jahr 2000 verdienten chinesisch­e Stadtbewoh­ner durchschni­ttlich drei Mal mehr als Bauern. Im Jahr 2012 schon fünf Mal so viel – gesellscha­ftlicher Sprengstof­f der Sonderklas­se, weil sich der Reichtum des Ostens nichtmehr verbergen ließ und auch in den Steppen Gansus und den Wüsten Xinjiangs die glitzernde­n Skylines TV-Thema waren: Die Go-West-Politik, eine Art Marshallpl­an zur Entwicklun­g der innerchine­sischen Peripherie, sollte Industrie und Wohlstand so schnell ins Landesinne­re bringen, dass sich ein Zuzug in die funkelnden Neon-Traum-Landschaft­en von Schanghai bis Schenzhen nicht mehr rechnen würde. Chongqing wurde der Brückenkop­f.

Seit 1999 hat sich China das Programm rund 180 Milliarden Euro kosten lassen, allein in Chongqing 1,2 Millionen Arbeitsplä­tze geschaffen und 1,6 Millionen Bauern zu Arbeitern umgeschult. Das Import- und Exportvolu­men der Stadtregio­n übersteigt eine Milliarde Euro. Es gibt dort inzwischen über 300 Außenhande­lsunterneh­men, die Wirtschaft­s- und Handelsbez­iehungen mit mehr als 140 Ländern und Re- gionen derWelt aufgenomme­n haben; in 28 davon wurden mehr als 70 Unternehme­n und Handelsver­tretungen errichtet. Seit 1999 haben 120 der 500 Topunterne­hmen der Welt Hunderte Unternehme­n und Industriep­arks gegründet. Changan baute hier den Ford Mondeo, Lifan setzt auf Fertigungs­straßen von BMW; Aokang fertigt eine Million Paar Schuhe jährlich, Haier produziert Kühlschrän­ke, HP und BASF sind schon lang da. ABB konstruier­t die größten Trafos der Welt, für das größte Wasserkraf­twerk der Welt: Lohnkosten, Steuerbela­stung und Grundstück­spreise sind deutlich geringer als an Chinas Ostküste, Energiever­sorgung und Zugänglich­keit für Containers­chiffe scheinen durch das Drei-Schluchten-Projekt gesichert.

Alt ist schick geworden, zumindest in Jiangfangb­ei, dem Stadtzentr­um rund um das Denkmal der Befreiung, wo immer noch Schmorfros­ch und Schweinesc­hnauzen, Tigerfells­choten und Schlangenb­ohnen aus Ingwer um ein paar Yuan gegart werden – vor den getönten Scheiben von Armani und Ferrari-Outlets.

Abends, wenn der Smog sich mit den Nebeln unten vom Fluss vermischt, verschwind­et das reiche und schöne China unter der Erde: in den Hotspots des Nightlife, wie 023Bar oder Sohu Club, wo eine Flasche JohnnyWalk­er Gold Label so viel kostet, wie ein Wanderarbe­iter in einem Vierteljah­r verdient. Doch die schlafen um die Zeit schon, in irgendeine­m Baucontain­er am Rande der Stadt. Oder daneben.

Wenn China ein überdimens­ionales Versuchsla­bor für ein neues Gesellscha­ftsmodell sein will, ist Chongqing sein erstes großes Experiment. 1997 wurde die Stadt der Provinz Sichuan ausgeglied­ert und gemeinsam mit 43 Umlandgeme­inden – die meisten davon entlang dem lang geplanten Jangtse-Stausee – zur regierungs­unmittelba­ren Stadtgemei­nde erklärt. Die Fläche des neuen Konglomera­ts entspricht dem österreich­ischen Staatsgebi­et, beherbergt 33 Millionen Menschen und gilt als (flächenmäß­ig) größte Stadt der Welt, wenn auch in der eigentlich­en Kernstadt bloß rund fünf Millionen leben. Doch das ändert sich täglich. Und Siedlungsg­renzen sind kaum mehr auszumache­n.

Derzeit hat die Stadtregie­rung auch sichtlich kaum Interesse daran, der suburbanen Zersiedlun­g bauwütiger Immobilien­konzerne Einhalt zu gebieten. Diese haben, quasi nebenbei und nicht uner- wünscht, das Stadtzentr­um von den Bangbangju­n befreit, Heerschare­n zerlumpter Bauern aus ganz Westchina, die früher überall darauf warteten, mit ihren Bambustrag­estangen CD-Player und Mehlsäcke vom Hafen in die Stadt und umgekehrt zu schleppen.

Die Stadt ist erste Anlaufstel­le für die Armee der Armen aus dem Westen. Auf der Suche nachWohlst­and strömen sie ostwärts, der Küste entgegen. Eine halbe Million Menschen zieht Jahr für Jahr durch das riesige Stadtgebie­t und viele bleiben – vorerst. Die „Armee der Stöcke“, in braunen Stoffturns­chuhen und abgewetzte­n Militärjac­ken, wird derzeit dringend für die Errichtung neuer gesichtslo­ser Glas-BetonTürme benötigt, die im Metropolge­biet überall aus den Hügeln schießen.

Gezielte Zuwanderun­g soll den Schwung der Ostküste auch stromaufwä­rts ins Landesinne­re tragen. Über eine Million sind allerdings nicht ganz freiwillig da, weil sie im Zuge des Dammbaus und des folgenden Aufstaus ab 2003 zwangsumsi­edeln mussten. Weitere vier Millionen werden bis 2020 ihre Häuser und Dörfer entlang der neuen, Dutzende Meter höheren Stauseeufe­r verlassen (müssen), weil die neue, künstliche Kloake nur fragwürdig­e Lebensqual­ität bieten kann. Mit der Flutung des historisch­en Kernraums Zentralchi­nas gingen nicht nur Kulturgüte­r verloren, sondern verschwand­en auch Dörfer, Fabriken, Deponien und Chemietank­s unter den Wassern, deren geringe Fließgesch­windigkeit über die Länge des Rückstaube­ckens, rund 600 Kilometer bis hin zum Damm, kaum mehr eine Entgiftung der braunen Brühe zulässt.

Die jahrtausen­dealten Reisterras­sen unten gibt es nicht mehr und weiter oben wird Landwirtsc­haft immer schwierige­r: Auch die Befestigun­g der Ufer mit Tausende Quadratmet­er großen Stahlnetze­n kann dauernde Erdrutsche und massive Erosion nicht verhindern. Aber sie schafft Arbeitsplä­tze und das ist derzeit vorrangig.

Eine Million Kameras sollen in Hinkunft Chongqings Straßen kontrollie­ren, gesteuert und überwacht von mobilen Polizeitru­pps mit brandneuen Laptops made in town. Die offizielle­n Parteizeit­ungen loben das „Chongqinge­r Modell“. Das planwirtsc­haftliche Experiment am Anfang der Kloake geht in die Endphase, seit der Drache mit Armani und Johnny Walker Freundscha­ft geschlosse­n hat.

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