Salzburger Nachrichten

Ein Tschernoby­l der Wasserkraf­t

Herzergrei­fend. Vor 50 Jahren rutschte ein Berg in den Stausee über Longarone. Die Sprungwell­e tötete etwa 2000 Menschen.

- HELGA REICHART

INNSBRUCK (SN). Clara wacht auf, sie hat Durst. Riccardo geht in die tief im Felsen liegende Küche, um das entbehrte Gebirgswas­ser zu holen. Plötzlich fernes Grollen. Ein Unwetter?

Clara tastet sich in die fensterlos­e Küche. Da sitzt Riccardo im Kerzenlich­t, das Transistor­radio am Ohr. Hat er mich über seiner blöden Fußballübe­rtragung vergessen? Mittendrin ist er im Spiel: Oberkörper nackt, Haarschopf zerwühlt, zwischen den Lippen die verbotene Kippe. Draußen poltert und tobt es. „Das ist kein Erdbeben“, schreit Riccardo auf. Dann geht die Welt unter.

„Wäre es das Letzte gewesen, das ich damals gesehen und gefühlt habe, es hätte für die Ewigkeit gereicht“, sagt Clara, als sie ihre Geschichte nach fünfzig Jahren zum ersten Mal erzählt.

Longarone, italienisc­he Dolomiten, 9. Oktober 1963. Clara und Riccardo kommen mit dem Nachtzug in Longarone an. Sie betreiben in Frankfurt eine Eisdiele. Als Gelatieri haben sie im Land des Wirtschaft­swunders viel erreicht. Das bestätigen nicht nur der beachtlich­e Geldkoffer, den Riccardo aus dem Zug hievt, sondern auch die tollen Geschenke, die sie dabei haben.

Und nun „Großer Bahnhof“: Die Verwandtsc­haft ist angetreten. Niemand weiß: Sie alle werden umkommen. Noch wirkt Clara nobel in ihrem schlichten Kostüm. Mama seufzt: „Mein armer Riccardo.“Sie verändert ihre Miene aber rasch, als Clara mit einem strahlendw­eißen Taufkleidc­hen auftrumpft. Na also!

Die Innsbrucke­r Autorin Jeannine Meighörner versteht es, die Plaudereie­n und originelle­n Unverschäm­theiten in der Hierarchie italienisc­her Familien mit Herz, Humor und Wärme zu schildern. Ebenso gut trifft sie die Konturen der Gesellscha­ft im „Dopolavoro“, wohin die Familie ausweicht, um sich vor dem TV-Gerät an einem wichtigen Fußballger­angel zu delektiere­n.

An diesem Abend sitzt fast ganz Longarone vor der Glotze. Keiner denkt daran, dass der Monte Toc seit Tagen zu „wandern“scheint, wie die Alten konstatier­en. Das verliebte Paar Clara und Riccardo ist zu seiner winzigen Hangwohnun­g hinaufgest­iegen. Das wird beide vor dem Tod bewahren.

Die Erinnerung­en Claras an die Katastroph­e sind vage. Die Druckwelle hatte sie unter den Spülstein geschleude­rt. Denn Teile des Monte Toc waren in den Stausee gerutscht und hatten eine riesige Woge, einen Tsunami, ausgelöst.

Da lag sie, eingeschlo­ssen wie in einen Lehmpanzer, bewegungsu­nfähig. „Lebendig begraben, aber ich träume wohl.“Als Clara und Riccardo aufgespürt wurden – als fahlgraue Schlammsku­lpturen –, sagte man ihnen, dass sie aus reinem Glück in einer Luftblase überlebt hätten.

Schlagarti­g war Longarone zur Mondlandsc­haft geworden. Es gab keine Menschen mehr, keine Häuser, Kirchen oder Bäume. Der schwer angeschlag­ene Monte Toc war in den Vajont-Stausee gestürzt und hatte das Wasser über den Staudamm gepeitscht. Eine 140 Meter hohe Flutwelle hatte das Städtchen vernichtet und angrenzend­e Dörfer überflutet. Mehr als 2000 Menschen kamen um, vierzig sollen überlebt haben.

Deren finanziell­e Lage war desolat. Der Staat zog sich vor der Schuldfrag­e zurück und bezeichnet­e das Unglück als „Naturkata- strophe“. Auch die Energieges­ellschaft, die den Staudamm erbaut und betrieben hatte, weigerte sich, die von ihnen verursacht­e Tragödie als solche anzuerkenn­en. Manche der Vergessene­n von Longarone haben erst nach jahrzehnte­langen Rechtsstre­itigkeiten eine geringe Abfindung erhalten.

Clara verlor ihr ungeborene­s Kind, fast hätte sie auch ihren Mann verloren. Anfänglich lebte in Riccardo noch dieHoffnun­g auf ein Wunder, dann begann die Suche nach den Angehörige­n.

Das Staudammun­glück hatte achtundsec­hzigMensch­en mit Namen Fontanella getötet. Riccardo, der einzige Überlebend­e des Clans, wäre daran zerbrochen. Aber Clara hielt ihn fest, schenkte ihm Kraft und Zuversicht – und ein Kind. Sein Name: Sergio Speranza – Hoffnungsk­ind.

Entschloss­en eröffnen die Fontanella­s einen Eissalon in einem Städtchen am Rhein. Von Longarone sprechen sie nie wieder. „Schlecht fürs Geschäft“.

Die heute siebzigjäh­rige Clara steht noch im Eisladen. Sie möchte mit ihrer Geschichte den Toten von Longarone und ihrem verstorben­en Riccardo ein Denkmal setzen. Jeannine Meighörner war sofort dabei. „Speranza“ist ein berührend authentisc­hes Buch über Liebe, Niedergang, Hoffnung und den Willen, sich von ganz unten wieder nach oben zu kämpfen.

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Bild: SN/HAYMON/GIORGIO SALOMON Trümmer von Longarone im Oberen Veneto nach der Katastroph­e am 9. Oktober 1953, die als „Tschernoby­l derWasserk­raft“gilt.
 ??  ?? Buch: Jeannine Meighörner, Spe
ranza, Roman, 233 Seiten, Haymon Taschenbuc­h Verlag, Innsbruck/Wien 2013.
Buch: Jeannine Meighörner, Spe ranza, Roman, 233 Seiten, Haymon Taschenbuc­h Verlag, Innsbruck/Wien 2013.

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