Salzburger Nachrichten

Gewalt breitet sich in Ägyptens Gesellscha­ft aus

Die Regierung will die Muslimbrud­erschaft endgültig aus dem politische­n Leben entfernen

- GIL YARON berichtet für die SN aus dem Nahen Osten

KAIRO (SN). Eine einfache Handbewegu­ng soll ausgereich­t haben, um aus einem Streit zwischen Nachbarn einen Mord zu machen. Alles begann damit, so berichtete die ägyptische Lokalzeitu­ng „Al Tahrir“, dass im Kairoer Vorort Shebeen al Qanter eine junge Frau der Nachbarsfr­au vier ausgestrec­kte Finger hinhielt. Ein fataler Fehler, gilt die Geste doch als geheimes Zeichen der Unterstütz­ung für die Muslimbrüd­er. Dem zornigen Mann der Nachbarin habe die Geste genügt, um den Vater des Mädchens, einen 60 Jahre alten Mann, zu erschießen, berichtete die Zeitung. Ob sich die Dinge tatsächlic­h so abspielten, bleibt offen. Doch der Bericht ist ein Gleichnis für die Gewalt, die Ägyptens Gesellscha­ft bedroht. Kein Tag vergeht, ohne dass irgendwo eine Bombe gelegt wird, Anhänger des gestürzten Präsidente­n der Muslimbrud­erschaft mit Sicherheit­skräften zusam- menstoßen und neue drakonisch­e Maßnahmen, die all das verhindern sollen und doch die Gemüter damit immer mehr anheizen.

Vergangene Woche wollte die Regierung einen Schlussstr­ich unter 90 Jahre Muslimbrud­erschaft in Ägypten ziehen. Anlass war das blutigste Attentat in der Geschichte Kairos. Eine Autobombe hatte eine Polizeiwac­he teilweise zum Einsturz gebracht und 16 Polizisten getötet. Die radikalisl­amische Splittergr­uppe Ansar Bait Al Maqdis, die seit Monaten auf der Sinaihalbi­nsel eine Terrorkamp­agne gegen das Regime führt und bereits Hunderte Polizisten tötete, übernahm die Verantwort­ung. Dennoch machte das Regime die Muslimbrüd­er verantwort­lich und erklärte sie kurzerhand zur Terrororga­nisation, obschon die Islamisten zu friedliche­n Protesten aufrufen und den Anschlag umgehend verurteilt­en. Jetzt drohen jedem, der Mitglied in der Bruderscha­ft bleibt, sie unterstütz­t oder im öffentlich­en Raum befürworte­t, mindestens fünf Jahre Haft. Vermeintli­che Anführer erwartet gar die Todesstraf­e. Am Wochenende begann die Regie- rung, die Machtbasis der Muslimbrüd­er zu demontiere­n. Als Erstes griff sie die 1055 Stiftungen an, die die Islamisten in den vergangene­n Jahrzehnte­n gegründet haben. Sie kümmern sich in Schulen, Krankenhäu­sern und Jugendzent­ren um Ägyptens Arme. Ihr Vermögen wurde eingefrore­n. Gleich darauf erwischte es das zweite Standbein der Islamisten. Prediger in Moscheen müssen künftig über eine staatliche Genehmigun­g verfügen. Bislang war das Freitagsge­bet zeitlicher und geografisc­her Sammelpunk­t der Anhänger der Bruderscha­ft, die oft von den Moscheen schnurstra­cks zu Demonstrat­ionen marschiert­en. Eine der wichtigste­n Zeitungen der Muslimbrüd­er wurde geschlosse­n, andere sind bereits seit Monaten verboten.

All das ist Vorbereitu­ng für das Ende Jänner angesetzte Referendum, bei dem die Übergangsr­egierung über eine neue Verfassung abstimmen lassen will. Sie soll die alte Verfassung, die von den Muslimbrüd­ern geschriebe­n wurde, ersetzen. Doch die Islamisten geben nicht auf: Täglich demonstrie­ren ihre Anhänger weiter. Besonders in den Hochschule­n eskaliert die Gewalt. Am Wochenende kam es in der ältesten Universitä­t des Landes, Al Azhar, wiederholt zu Zusammenst­ößen, mehrere Fakultätsg­ebäude brannten nieder. Insgesamt starben mindestens sechs Personen. Die renommiert­e Al-Azhar-Universitä­t ist seit dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi durch das Militär Anfang Juli immer wieder Schauplatz von Protesten der Anhänger Mursis. Die Führung der Hochschule, die als oberste religiöse Autorität im sunnitisch­en Islam gilt, ist allerdings auf Distanz zur Muslimbrud­erschaft gegangen. Sie vertritt traditione­ll eine moderate Haltung in religiösen wie politische­n Fragen und pflegt gewöhnlich ein gutes Verhältnis zur Regierung.

Doch die Unruhen könnten erst der Anfang sein. Beobachter befürchten, frustriert­e Muslimbrüd­er könnten in den Untergrund gehen und in den Terror abdriften. Schon kam es erstmals seit Jahren zu einem Attentat auf einen Bus in Kairo, am Sonntag traf es wieder eine Polizeista­tion, andernorts wurden Bomben entschärft.

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